Mit Entsetzen Scherz (eBook)
230 Seiten
Felix Meiner Verlag
978-3-7873-4138-2 (ISBN)
Andreas Dorschel lehrt seit 2002 an der Kunstuniversität Graz. Er war Visiting Professor in Stanford (2006) und Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin (2020/21). 2014 erhielt er den Caroline-Schlegel-Preis. Er ist Autor von sechs Monographien; Aufsätze Andreas Dorschels erschienen unter anderem in The Cambridge Quarterly (OUP), Philosophy (CUP), The Oxford Handbook of the New Cultural History of Music (OUP) und The Oxford Handbook of Western Music and Philosophy (OUP).
Sterben vor Lachen
Schrecken und Gelächter scheinen unvereinbar. Heulen und Zähneklappern antworten jenem, nicht Kichern. Das Lachen bricht, wenn überhaupt, erst aus, sobald das Entsetzen gebannt ist. Den beiden unterschiedlichen Konstellationen dürfte allerdings etwas gemeinsam sein. In Erschrecken oder in Gelächter ausbrechen werden diejenigen, denen etwas begegnet, das die gewöhnliche Ordnung der Dinge zerreißt oder außerhalb ihrer liegt. Was sich ereignete, hat die in der einen oder anderen Weise Reagierenden an ihre Grenzen gebracht. Die Extreme berühren einander. Dies ist ein alter Gedanke; klassisch formuliert hat ihn Samuel Taylor Coleridge:
Indeed, paradoxical as it may appear, the terrible by a law of the human mind always touches on the verge of the ludicrous. Both arise from the perception of something out of the common order of things – something, in fact, out of its place; and if from this we can abstract danger, the uncommonness will alone remain, and the sense of the ridiculous be excited. The close alliance of these opposites – they are not contraries – appears from the circumstance, that laughter is equally the expression of extreme anguish and horror as of joy: as there are tears of sorrow and tears of joy, so is there a laugh of terror and a laugh of merriment.1
Mag es auch paradox scheinen, so rührt doch das Schreckliche nach einem Gesetz des menschlichen Geistes immer an die Schwelle des Lächerlichen. Beide entspringen der Wahrnehmung von etwas außerhalb der gewöhnlichen Ordnung der Dinge – von etwas, das nicht an seinem Platz ist; und wenn nun die Gefahr wegfällt, bleibt allein das Ungewöhnliche daran und erregt den Sinn fürs Lächerliche. Die enge Verbindung der Gegensätze – sie widersprechen einander nicht – ist dem Umstand abzulesen, daß Lachen gleichermaßen Ausdruck äußerster Angst und äußersten Grauens ist wie Ausdruck von Freude: wie es Tränen der Trauer und Tränen der Freude gibt, so gibt es auch ein Lachen des Schreckens und ein Lachen der Fröhlichkeit.
Für das Lächerliche (»ludicrous«, »ridiculous«) trifft Coleridge den Vorbehalt, die Gefahr müsse wegfallen: »abstract danger«. Aber was für das Lächerliche gilt, das gilt nicht selbstverständlich auch für das Lachen: Es gibt das Auflachen im Schrecken, den »laugh of terror«. Als das Dritte, auf das beide bezogen sind, gerät der Leib in den Blick, besonders die Fähigkeit, noch Luft zu schöpfen: im Lachen ändert sich das Atmen, im Schrecken kann es einem den Atem verschlagen. Mehrere europäische Sprachen spannen in zwei merkwürdigen Wendungen das Lachen unmittelbar zusammen mit dem, was aus äußerstem Schrecken hervorgehen kann und wie wenig anderes seinerseits Schrecken hervorruft: dem Tod. ›Sterben vor Lachen‹ und ›sich totlachen‹ lauten die beiden Formeln. Eine von ihnen erscheint erstmals in einer Episode der Odyssee, deren epischer Held, Odysseus, die späteren tragischen und komischen Helden präfiguriert.2
Die Episode (18.1–116)3 steht an entscheidender Stelle: Odysseus ist angekommen, ohne bereits als der erkannt zu sein, der er ist: Hausherr des Palasts auf Ithaka. Er ist heimgekehrt und doch noch nicht daheim. Seine Wege haben ihn bis vor die Türschwelle gebracht, diese Zone des Übergangs, aber nicht schon auf diese. Insofern die Odyssee insgesamt das Epos von der Rückkehr des Helden in die Heimat ist, wird es in der Episode ernst; ohne diesen Bezug auf den Kern der Geschichte wäre sie es wohl kaum. Der Ernst, der in ihr das Lachen grundiert, erschließt sich von der Frage her, wer es eigentlich ist, der zurückgekehrt ist. Die Herrschaft des Odysseus über Ithaka – das ergibt sich aus allem, was während seiner zwanzigjährigen Abwesenheit geschah – kann nicht auf dynastischem Erbrecht beruht haben, auch wenn bereits sein Vater Laërtes König war. Dem Sohn Telemachos machen andere Fürstensöhne die Nachfolge streitig, gegen die er sich allein nicht durchsetzen würde.4 Eben darauf scheint es in diesem Gemeinwesen anzukommen: sich durchzusetzen, kraft seiner Muskeln ebenso wie kraft des eigenen Verstandes. Die Freier sind nicht so sehr Usurpatoren als Prätendenten – Teilnehmer eines Wettbewerbs um den ersten Rang in einem Land, dessen König als verschollen gilt. Für Odysseus, der die Nebenbuhler in seinem Hause vorfindet, hängt alles davon ab, sich als der Stärkere und Klügere zu erweisen. Nicht sein Name, nicht seine alten Rechte zählen, sondern allein die ihm verbliebene Fähigkeit, mit einer vielfachen Übermacht fertig zu werden. Darum verhüllt er seinen Namen und erscheint als Bettler vor den Freiern. Gewiß sind die Lumpen des Bettlers die klug gewählte Verkleidung des Königs Odysseus. Doch im Sinne dessen, daß allein der Mann, der er ist, Odysseus zum König macht, sind sie zugleich etwas anderes als eine Verkleidung: die Requisite einer Probe darauf, daß ihm die Herrschaft zusteht.
Auf der Schwelle des Hauses lagert ein Bettler, Iros – ein anderer Bettler, wie es scheint, denn auch Odysseus ist ja als ein solcher gekleidet. Iros heißt eigentlich Arnaios (18.5). Dieser eigentliche Name ist sprechend, hergeleitet von arnymai: Arnaios ist einer, der kriegt, der etwas bekommt: wie es, im besseren Falle, einem Bettler passiert. Ins Burleske aber rückt die Figur ihr Rufname ›Iros‹: Dieser ist nämlich gebildet als männliches Gegenstück zum Namen der Iris, der Götterbotin. Iros dient den Freiern als Laufbursche (18.7). Der Dichter kontrastiert die Extreme höchster kosmischer Macht einerseits, des sozialen Bodensatzes andererseits. Iros ist prädestiniert, Gelächter auf sich zu ziehen. Das Lächerliche der Szene grundiert jedoch der Tod: der mögliche Tod des Iros, den, je auf ihre Art, Antinoos (18.85) wie Odysseus (18.91) erwägen, und, als Präfiguration, der Tod der Freier. Beides verdichtet ein Vers in der Formel des Sterbens vor Lachen, gelō ekthanon (18.100).
Iros verkörpert einen Typus, der später in der Komödie Karriere machte: den Verfressenen. Dieser Typus bildete sich dann in zwei Varianten aus: der des gutmütigen Verfressenen, der anderen ihr Teil gönnt, und der des mißgünstigen Verfressenen, der alles für sich will. Einer der letzteren Art ist bereits Iros. Er macht Odysseus die Schwelle streitig, weil er dort sein Futter empfängt. Dem Hausherrn die Schwelle des Hauses streitig zu machen verstößt eklatant gegen die Sitte. Aber es ereignet sich hier ja, vergleichbar Oidipous’ Hochzeit mit seiner Mutter, in der Weise unheilbringender Verblendung, für die eine andere Epoche den Terminus ›tragische Ironie‹ prägte. Odysseus verschärft diese Ironie der Situation zu einer bewußten Ironie, wenn er von sich in der dritten Person redet. Die wahre Drohung, als eine von Odysseus ausgehende, ist damit vor Iros zugleich ausgesprochen und nicht ausgesprochen:
Alt bin ich freilich – doch schlag ich dir Brust und Rippen noch blutig.
Morgen dann hätte ich größere Ruhe, vermut’ ich: ich meine
Nämlich, du würdest in gar keiner Weise den Weg wieder finden,
Nochmal ins Haus des Sohns des Laërtes, Odysseus, zu kommen. (18.21–24)
Ironie, Verhüllung, ist dies, eben weil Iros es nicht durchschaut; daß der Bettler Odysseus ist, wissen zu diesem Zeitpunkt nur Telemachos (16.154–219) und, allerdings, alle, die es lesen. Zwischen dem Autor, den herausgehobenen Figuren – Odysseus und Telemachos – und den Adressaten des Epos besteht gleichsam eine Verschwörung der Wahrheit. Vor den Freiern treibt Odysseus die Ironie noch weiter, indem er, der – was seine Lumpen vorübergehend verhüllen – körperlich weit Überlegene, sich als gebrechlichen Greis hinstellt:
Freunde! Ein alter, von Leid überwältigter Mann kann wohl schwerlich
Kämpfen mit jüngeren Männern! (18.52–53)
Um den Kampf herbeizuführen, tut Odysseus so, als müsse er ihn verlieren (vgl. 21.275–284): seine Ironie ist schlau. Aber ihren Schleier kann er gleich lüften; Worte und Lumpen haben getäuscht, der Leib spricht die Wahrheit. Erstaunt rufen die Freier aus:
Jetzt trifft Iros Aïros das Unheil, das er herbeirief:
Welch einen Hinteren zeigt uns der Alte da unter den Lumpen! (18.73–74)5
Im Clinch der Bettler parodiert der Dichter Zweikämpfe aristokratischer Kriegshelden. Diese würden um Macht und Ehre streiten, bei jenen geht es um die Wurst, den gestopften Magen einer Ziege, den der Freier Antinoos als Preis für den siegreichen Bettler ausbot (18.43–49, 118–119). Doch die Eingeweihten – und das sind wieder neben Odysseus selbst sein Sohn Telemachos und die Leser – wissen, daß es zugleich nicht um einen...
Erscheint lt. Verlag | 31.1.2022 |
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Reihe/Serie | Blaue Reihe | Blaue Reihe |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
Schlagworte | Ästhetik • Euripides • Franz • Kafka • Literaturwissenschaft • Poetik • Shakespeare • William |
ISBN-10 | 3-7873-4138-2 / 3787341382 |
ISBN-13 | 978-3-7873-4138-2 / 9783787341382 |
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