Tatort Heidelberg (eBook)

Alltagsgeschichten von Repression und Verfolgung 1933-1945
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
379 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-44995-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tatort Heidelberg -  Frank Engehausen
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Die Frage, wie die nationalsozialistische Diktatur mehr als zwölf Jahre aufrechterhalten werden konnte - ob mit Mitteln eines repressiven Polizeistaats oder durch breite Zustimmung der Bevölkerung -, beschäftigt die Geschichtswissenschaft seit jeher. Frank Engehausen nähert sich in diesem Buch einer Antwort durch einen mikroskopischen Blick auf die Strafjustiz: Anhand von 52 Fällen und Einzelschicksalen, die sich zwischen 1933 und 1945 in Heidelberg ereigneten und vor dem Sondergericht Mannheim verhandelt wurden, entsteht in diesem Buch eine Alltagsgeschichte der NS-Gewaltherrschaft in der Universitätsstadt am Neckar. Deutlich wird, wie Menschen wegen abweichender politischer Meinungen oder weltanschaulicher Distanz zur Staatsideologie, in aller Regel durch Denunziation, in die Fänge des Geheimpolizei- und des Justizapparats gerieten. Zudem zeigt das Buch auf, welch großen Anteil die Selbstmobilisierung der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft« an der Verfolgung von politischem Dissens sowie an der Bestrafung sozialer Devianz hatte.

Frank Engehausen ist außerplanmäßiger Professor für Neuere Geschichte am Historischen Seminar der Universität Heidelberg. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und dort besonders auf der Revolution von 1848/49 und der Zeit des Nationalsozialismus.

Frank Engehausen lehrt Neuere Geschichte am Historischen Seminar der Universität Heidelberg.

Vorwort


Am 21. März 1933 ordnete die von Adolf Hitler geführte Reichsregierung die Bildung von Sondergerichten an, die in vereinfachten und beschleunigten, die rechtsstaatlichen Standards weit unterlaufenden Verfahren vermeintliche politische Kriminalität bestrafen sollten, namentlich Verstöße gegen die sogenannte Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar und gegen die Verordnung zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung, die am gleichen Tag wie die Sondergerichtsverordnung in Kraft gesetzt wurde. Mit einer Verordnung vom 20. November 1938 wurde die Zuständigkeit der Sondergerichte ins Beliebige erweitert, indem die Anklagebehörden Fälle vor diese bringen konnten, wenn sie der Auffassung waren, daß mit Rücksicht auf die Schwere oder die Verwerflichkeit der Tat oder die in der Öffentlichkeit hervorgerufene Erregung die sofortige Aburteilung geboten sei. Noch weiter wuchs die Bedeutung der Sondergerichte innerhalb des Justizsystems mit Beginn des Krieges, als neue Straftatbestände geschaffen wurden, die in ihre Zuständigkeit fielen: Plünderungen und Verbrechen bei Fliegergefahr, die nach der Verordnung gegen Volksschädlinge mit der Todesstrafe zu ahnden waren, das absichtliche Abhören ausländischer Sender, die Wehrkraftzersetzung, sofern die Täter Zivilpersonen waren, sowie kriegsschädliches Verhalten, zu dem die Kriegswirtschaftsverordnung in erster Linie das Beiseiteschaffen oder Zurückhalten von Rohstoffen oder Erzeugnissen zählte, die zum lebenswichtigen Bedarf der Bevölkerung gehörten – auch hier wurde der Strafrahmen bis zur Todesstrafe gedehnt.

Die Verordnung vom März 1933 sah die Einrichtung eines Sondergerichts in jedem der 26 Oberlandesgerichtsbezirke des Deutschen Reiches vor. Von 26 wuchs die Zahl bis 1942 auf 72 an durch die Einrichtung neuer Gerichte in Österreich und im Sudetenland sowie in den während des Krieges annektierten und besetzten Gebieten; auch wurden in einzelnen Oberlandesgerichtsbezirken seit 1940 zusätzliche Sondergerichte geschaffen, um der steigenden Zahl der Verfahren Herr zu werden. Wie viele Verfahren vor den Sondergerichten geführt wurden und wie viele Todesurteile (Schätzungen liegen bei etwas mehr als 10.000) sie verhängten, ist unklar, da die Aktenüberlieferung für viele Sondergerichte ungünstig ist. Dies gilt nicht für das Sondergericht Mannheim, das für den Oberlandesgerichtsbezirk Karlsruhe und damit für das Land Baden zuständig war – alleinzuständig bis zum Jahresende 1940, als in Freiburg ein zweites badisches Sondergericht eingerichtet wurde. Zwar gibt es auch im Mannheimer Fall empfindliche Lücken, da zum Beispiel für die Jahre 1933 bis 1935 die Ermittlungsakten verloren sind und sich die Verfahren nur über die in den Handakten enthaltenen Dokumente (Anzeigen, Anklagen, Urteile, Gnadengesuche) rekonstruieren lassen; insgesamt ist die Überlieferung aber so gut, dass sich verlässliche Bilder von der Arbeit des Sondergerichts gewinnen lassen.

Das vorliegende Buch möchte ein detailreiches Bild von den vom Sondergericht Mannheim geführten Verfahren zeichnen, die Heidelberg als Tatort hatten. Ein lokaler Fokus erschien wünschenswert, da die Summe der Einzelfälle ein Panorama wenigstens des kleinräumigen Ganzen verspricht; allerdings erforderte auch die Beschränkung auf Heidelberg noch eine weitere Auswahl, da mehrere Hundert Fälle in Betracht kamen, deren ausführliche Schilderung die Ressourcen des Autors überlastet und den Rahmen einer monographischen Publikation überspannt hätte. Ohne die Angeklagten in Profilgruppen kategorisiert oder die Delikte und die Strafen quantifiziert, aber auch ohne das Wunschbild der Repräsentativität ganz aus den Augen verloren zu haben, wurden 52 Einzelfälle ausgewählt, die im Folgenden in chronologischer Reihung präsentiert werden. Sie sollen am Heidelberger Beispiel nachvollziehbar machen, wie die als Notstandswerkzeuge zur Abwehr eines drohenden Bürgerkriegs in der Machtübernahmephase deklarierten Sondergerichte bis zum Untergang des Dritten Reiches Dauerinstrumente der Repression blieben, die hunderttausende Deutsche mit scheinjuristischen Verfahren überzogen und noch weit mehr Menschen, hierin ganz ähnlich wirkend wie die Gestapo, durch Einschüchterung disziplinierten.

Das Material für die im Folgenden in chronologischer Reihung präsentierten Einzelfälle bieten die im Generallandesarchiv (GLA) Karlsruhe überlieferten Akten des Sondergerichts Mannheim. Hierdurch ist die Perspektive der Darstellung vorgezeichnet, nämlich der amtliche Blick von Polizei- und Justizangehörigen auf Menschen, die als politische Unruhestifter, Gemeinschaftsfremde oder als Volksschädlinge wahrgenommen wurden. Die eigene Perspektive dieser Menschen ist dagegen zumeist nur indirekt aus den Akten zu erschließen, in denen ihre Reaktionen auf die gegen sie erhobenen Vorwürfe festgehalten sind. Nur selten enthalten sie in größerer Zahl Dokumente, die – wie bei Hausdurchsuchungen aufgefundene Schriftstücke oder von der Gefängniszensur einbehaltene Briefe – die Selbstwahrnehmung und Persönlichkeit der Betroffenen abseits von Verhör-, Begutachtungs- oder Bittstellkonstellationen erhellen. Der Autor jedenfalls hat sich bemüht, nicht die aktenprägenden Stereotypien zu reproduzieren, sondern, wo immer möglich, die Perspektiven der ins Räderwerk der Sondergerichtsbarkeit geratenen Frauen und Männer aufzuzeigen.

Der Zugriff auf das und der Umgang mit dem Material folgen geschichtswissenschaftlichen Prinzipien; die Darstellung allerdings sucht eine Form abseits der akademischen Gepflogenheiten. Dies bedeutet den Verzicht auf einen ausgewachsenen wissenschaftlichen Apparat – die Quellenverweise zu den einzelnen Fällen finden sich am Schluss der jeweiligen Kapitel, und die Anmerkungen beschränken sich auf ein Minimum des für ein historisch interessiertes Publikum Erklärungsbedürftigen –, und dies bedeutet auch den Verzicht auf explizite Analysen und Wertungen der Fälle sowohl im Einzelnen als auch in ihrer Gesamtheit. Der Autor möchte – hierin dem literarischen Erzähler vielleicht nicht unähnlich – die Leserinnen und Leser einladen, in die Geschichten einzutauchen und in der Begegnung mit den unterschiedlichen historischen Strafrechtsfällen die Bilder, die sie von der Zeit des Nationalsozialismus haben, punktuell zu ergänzen und gegebenenfalls auch zu korrigieren.

Das Potential, Bilder zu verändern, haben die hier versammelten Geschichten in mehrfacher Hinsicht: Sie geben Einblicke in die Praxis der Strafjustiz im Nationalsozialismus, deren Unrechtscharakter in fast jedem einzelnen der im Folgenden geschilderten Fälle überdeutlich hervortritt – so deutlich, dass wohl unweigerlich die Frage aufkommen wird, wie es den in den Sondergerichten tätig gewesenen Juristen nach 1945 gelungen ist, den Eindruck zu erwecken, sie hätten bei politischen Delikten allenfalls überzogene Denkzettel zu Abschreckungszwecken verteilt und sich sonst mit Fällen befasst, die zum ganz überwiegenden Teil auch zu anderen Zeiten und in anderen politischen Systemen strafwürdig gewesen wären. Die lange Zeit verbreitete Annahme, dass die Justiz in der Doppelstruktur des Dritten Reiches dem Normen- und nicht dem Maßnahmenstaat zugehörig gewesen sei und weithin nach rechtsstaatlichen Prinzipien funktioniert habe, lässt sich nicht nur durch den Spezialfall des Volksgerichtshofs in Berlin, sondern auch durch die omnipräsente Sondergerichtsbarkeit als Chimäre entlarven. Deshalb fallen die folgenden Erzählungen auch nicht in die Gattung der true crime stories: Sie handeln nicht davon, wie zwischen 1933 und 1945 Verbrechen aufgeklärt und bestraft wurden, sondern von einem verbrecherischen Rechtssystem.

Ebenso eröffnen sich beim Blick auf die Opfer der Sondergerichtsbarkeit Erkenntnispotentiale, da sie eine sehr heterogene Gruppe bilden, die sich nur teilweise mit den gängigen Opferbildern deckt. Die Juden als die mit Abstand größte Opfergruppe treten in den Sondergerichtsakten als Angeklagte vergleichsweise selten in Erscheinung: in der hier präsentierten Auswahl nur in fünf Fällen. Weil die Strafjustiz in der rassistisch motivierten Repression und Verfolgung nur eine untergeordnete Rolle spielte und es für die Verschleppung in Konzentrationslager nicht der Mitwirkung von Staatsanwälten und Richtern bedurfte, sind auch Sinti und Roma selten vor die Sondergerichte gebracht worden – in den Fällen, die Heidelberg als Tatort hatten, soweit der Autor es überblickt, gar nicht. Größer ist die Zahl der politischen Opfer aus den Reihen der Arbeiterbewegung, wenngleich sich das Augenmerk der Sondergerichte nicht auf die prominenten Mitglieder und Funktionsträger der Sozialdemokratischen und der Kommunistischen Partei richtete, die ohne...

Erscheint lt. Verlag 9.3.2022
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte 1918 bis 1945
Schlagworte Alltag • Alltagsgeschichte • Denunziation • Diktatur • Drittes Reich • Geheimpolizei • Gestapo • Gewaltherrschaft • Hakenkreuz • Heidelberg • Justiz • Justizwillkür • Kriminalität • Kurpfalz • Mannheim • Nationalsozialismus • NS • NSDAP • Opfer • Repression • Resistenz • Sondergericht • Strafrecht • Verfolgung • Widerstand
ISBN-10 3-593-44995-1 / 3593449951
ISBN-13 978-3-593-44995-1 / 9783593449951
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