Soziale Ängste bei jungen Erwachsenen (eBook)
150 Seiten
Schattauer (Verlag)
978-3-608-11695-3 (ISBN)
Götz Berberich, Dr. med., Chefarzt der Psychosomatischen Klinik Windach, Lehrkrankenhaus der LMU München, Leiter der Privatambulanz. Lehrauftrag an der LMU, Verhaltenstherapeut und Psychoanalytiker.
Götz Berberich, Dr. med., Chefarzt der Psychosomatischen Klinik Windach, Lehrkrankenhaus der LMU München, Leiter der Privatambulanz. Lehrauftrag an der LMU, Verhaltenstherapeut und Psychoanalytiker.
1 Soziale Ängste in Zeiten der Digitalisierung
Götz Berberich
Junge Erwachsene, also Menschen in der Phase des Übergangs in ein selbstbestimmtes und -verantwortetes Leben, des Eingehens stabiler partnerschaftlicher Beziehungen oder der Entscheidung für einen über viele Jahre, wenn nicht lebenslang ausgeübten Beruf, also Menschen etwa im Alter zwischen 18 und 25 Jahren, tauchen zunehmend häufig in den Praxen und Kliniken für Psychotherapie als Patientinnen und Patienten auf. Neben depressiven Zustandsbildern, Anzeichen für eine beginnende Persönlichkeitsstörung und Suchterkrankungen stehen häufig Angsterkrankungen, und hier v. a. soziale Ängste im Vordergrund der Symptomatik.
Soziale Ängste werden in den Klassifikationssystemen entweder als soziale Phobie oder als ängstliche bzw. vermeidend-selbstunsichere Persönlichkeitsstörung beschrieben. Neben der Borderline-Störung ist die vermeidend-selbstunsichere Persönlichkeitsstörung (nach DSM-5®, Falkai & Wittchen 2018) oder ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsstörung (nach ICD-10, Dilling et al. 2013) eine der häufigsten und klinisch relevantesten Persönlichkeitsstörungen. Trotzdem ist die Anzahl wissenschaftlicher Arbeiten über diesen Komplex – vor allem im Vergleich mit der Borderline- oder der antisozialen Persönlichkeitsstörung – überschaubar, zumal die Einstufung dieses Krankheitsbildes als eigenständige Diagnose mit der Sicht als (bloße) Extremvariante der sozialen Phobie konkurriert (▶ Kap. 2).
Wurden soziale Ängste früher als leicht und unkompliziert zu behandeln beurteilt, stellten sich im Laufe der letzten Jahre doch zunehmend die Komplexität und weite Bandbreite der Symptomatik sowie der zugrunde liegenden Bedingungsfaktoren bzw. Psychodynamik heraus. Auch schwerste Verläufe mit erheblicher struktureller Einschränkung, psychosenaher Symptomatik und katastrophalen psychosozialen Folgen sind keine Seltenheit. Dies wiegt umso schwerer, wenn die Krankheit Menschen trifft, die in einer besonders vulnerablen Phase ihres Lebens stehen, in der wichtige Erfahrungen gemacht und Entscheidungen getroffen werden sollten.
Die Zusammensetzung der Patientinnen und Patienten mit sozialen Ängsten in der Psychosomatischen Klinik Windach, in der alle Autorinnen und Autoren dieses Buches arbeiten oder gearbeitet haben, hat sich im Verlauf der letzten Jahre deutlich verändert: Über 90 % sind mittlerweile zwischen 18 und 30 Jahren (Schwarzkopf & Unger 2019), sie befinden sich im Prozess der Ablösung von den Eltern, der Identitätsfindung. Sie sind auf der Suche nach einer Partnerschaft und einem Beruf. Das Leitthema ist durchgängig: seinen Platz im Leben und in der Gesellschaft finden. Kennzeichnend für diese Gruppe sind Ablöse- und Identitätsfindungsprozesse in der frühen oder späten Adoleszenz. Vorausgegangen sind Hänseleien, »Mobbing«, starke Abwertung, Überbehütung, ambivalent-ängstlicher Erziehungsstil der Eltern oder erlebte Isolation und emotionale Vernachlässigung – häufig bereits über Jahre. Die strukturgebende Funktion der Schule ist zum Zeitpunkt der Aufnahme schon weggefallen oder störungsbedingt nicht mehr möglich einzuhalten. Hierdurch beschleunigen sich die soziale Angst, der Rückzug und die Isolation dieser Patienten.
Das führte in unserer Klinik im Jahr 2016 zur Entscheidung, die Behandlung sozialer Ängste in einer altershomogenen Gruppe für junge Patientinnen und Patienten zwischen 18 und 25 (und in Ausnahmen bis 30) Jahren zu organisieren.
In zunehmendem Maße wurden beeinflussende Faktoren durch die schnell wachsenden Möglichkeiten – und Versuchungen – der sozialen Medien und interaktiven PC-Spiele deutlich: Die oft sehr zurückgezogen lebenden Patienten haben dadurch mehr Gelegenheiten einer für sie »sicheren« Kontaktaufnahme ohne direkten (analogen, also körperlichen) Kontakt und häufig unter dem Schutz der Anonymität oder Pseudonymisierung im Netz. Auch im Klinikbereich spielen die elektronischen Medien eine bedeutsame Rolle: die Gruppenmitglieder richten sich oft rasch eine eigene Gruppe bei WhatsApp oder einer ähnlichen Plattform ein. Für den ungelösten Konflikt zwischen Bindungswunsch und Bindungsangst der ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung (Fiedler & Marwitz 2016), der meist zugunsten der Bindungsangst entschieden wird, stellen die sozialen Medien die zunächst optimale Form dar, beide Motive zu bedienen. Hier haben die Betroffenen die Möglichkeit, anonym zu bleiben, sich nicht real zeigen zu müssen oder in Form eines Avatars eine Figur zu erschaffen, die spielend interaktiv agieren kann.
Gleichzeitig werden durch das Sicherheits- und Vermeidungsverhalten die sozialen Ängste negativ verstärkt. Allmählich baut sich eine »Als-ob«-Realität auf, das Netz wird zum »eigentlichen Leben«. So können Partnerschaften in über einjährigen Kontakten rein über soziale Medien bestehen, ohne dass sich die Partner je »real«, »analog« getroffen haben. (An dieser Stelle wird deutlich, dass selbst unsere Sprache mit dieser Situation überfordert ist: Was ist denn real? Und wie soll man eine Beziehung ohne den Umweg über die elektronischen Medien bezeichnen, die ja deswegen noch nicht »körperlich« zu sein braucht?) Über den Aufbau des eigenen Avatars und dessen Interaktionsmöglichkeiten im Internet können soziale Bedürfnisse »gefahrlos« erfüllt werden, ohne das befürchtete Risiko der Beschämung, Enttäuschung und Zurückweisung, das den sozialen Ängsten zugrunde liegt. Eine auch hier mögliche Zurückweisung kann auf den Avatar attribuiert werden, was als weniger kränkend erlebt wird, als wenn direkt die eigene Person adressiert wird. Die eigene Persönlichkeit kann als »unsichtbar und nicht greifbar« geschützt werden, allerdings auf diese Weise auch bestimmte Entwicklungsschritte nicht leisten. Der Patient kann sich auch zu einer Kunstfigur stilisieren und durch bestimmte Kleidung und einen bestimmten Stil zur Kopie eines Idols oder einer Comicfigur werden. Der Vorteil für den Patienten liegt darin, dass die positiven und negativen Reaktionen kalkulierbar sind, das eigene Selbst aber nicht betreffen.
Die Möglichkeiten der Beschämung und Abwertung werden durch die Schnelligkeit und große Reichweite dieser Medien allerdings auch intensiviert. Die zweite Komponente der sozialen Angststörung besteht häufig darin, als Kompensation für das defizitäre Selbstbild ein unbewusstes Größenselbst zu entwickeln und auf die Außenwelt zu projizieren (Brückner et al. 2019). Durch ständige Selbstoptimierung und -darstellung im Netz versuchen die Betroffenen dieses Größenselbst immer wieder zu bestätigen. Dadurch kann die Nutzung sozialer Medien schnell einen suchtartigen Charakter annehmen. Zudem sind Personen mit einer sozialen Angststörung gefährdet, eine Computerspielsucht zu entwickeln, da sie in den Spielen eine ungefährliche Ersatzwelt, häufig mit virtuellen »Ersatzbeziehungen«, und Erfolgserlebnisse suchen. Immer wichtiger wird es daher, von therapeutischer Seite nach dem Umgang mit den sozialen Medien und interaktiven Spielen zu fragen und diesen in die Therapie miteinzubeziehen.
Die Adoleszenz ist eine Zeit der Übergänge, der Schwellen. Eine besonders prägende Veränderung ist der Wegfall des Pflichtrahmens Schule als Kontakt- und Kommunikationsplattform, mit dem es sich zu arrangieren galt. Hierdurch verringert sich die Interaktion mit der realen Welt, sie verschiebt sich bei vielen Betroffenen in Richtung der virtuellen Welt, zumal der Benutzung sozialer Medien und elektronischer Möglichkeiten (Spiele!) heute zum festen Verhaltensrepertoire von Schülerinnen und Schülern gehört, also quasi schon eingeübt war. Die virtuelle Welt erlaubt, sich neu zu erfinden, ein Ideal- und Wunschbild des eigenen Selbst zu entwerfen und zu präsentieren, ohne sich mit dem als unzulänglich erlebten eigenen Ich auseinandersetzen zu müssen.
Wie das Interaktions- und Kontaktbedürfnis in der virtuellen Welt ausgelebt wird, kann sich dabei ganz unterschiedlich gestalten. Manch eine Patientin bewegt sich geschickt in den sozialen Medien, entwickelt und pflegt dort durch entsprechend designte und aufbereitete Posts ein Image, das ihrem imaginierten Größenselbst nahekommt, mit den äußerlichen Attributen von Schönheit, Makellosigkeit, Coolness, Weltgewandtheit und Sexappeal. Ein anderer Patient taucht nicht einmal als geschöntes Abbild auf, sondern benutzt einen Avatar, eine Kunstfigur, etwa als Tier oder Comicfigur. Diese Menschen posten Memes und nicht-personale Bilder oder betreiben sogar einen eigenen Video-Channel. Ihre Darstellungen und Veröffentlichungen kennzeichnen eine Fantasie- oder Wunschwelt, der sie mit ihren oft...
Erscheint lt. Verlag | 19.2.2022 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Angst / Depression / Zwang |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | Angststörungen • Diagnostik • Digitalisierung • Einzeltherapie • Fallbeispiele • Gruppentherapie • Körpertherapie • Kunsttherapie • multimodale Therapie • Persönlichkeitsstörung • Selbstsicherheitstraining • Soziale Netzwerke • Soziale Phobie |
ISBN-10 | 3-608-11695-8 / 3608116958 |
ISBN-13 | 978-3-608-11695-3 / 9783608116953 |
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