Meinungskrise und Meinungsbildung (eBook)
126 Seiten
Felix Meiner Verlag
978-3-7873-4092-7 (ISBN)
Prof. Dr. Christian Bermes ist Leiter des Instituts für Philosophie an der Universität Koblenz-Landau. Sprecher des Forschungsschwerpunkts ?Kulturelle Orientierung und normative Bindung? und der Graduiertenschule ?Herausforderung Leben?, Mitherausgeber des ?Archiv für Begriffsgeschichte?, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Forschung. Arbeitsschwerpunkte: Phänomenologie, Sprachphilosophie, Philosophische Anthropologie, Kulturphilosophie, Moralphilosophie.
I
EINLEITUNG
1
Meinungen spielen in der öffentlichen Diskussion eine entscheidende Rolle – und doch ist unklar, was wir unter Meinungen verstehen. Meinungsstärke wird eingefordert, um sich im öffentlichen Raum oder im Berufsleben durchzusetzen und Verhandlungssicherheit zu dokumentieren. Wir fordern andere dazu auf, zu ihrer Meinung zu stehen und sich nicht zu verstecken. Sie sollen Position beziehen und sich nicht herausreden. Oder wir raten wie Nietzsche das genaue Gegenteil. »Entweder verstecke man seine Meinungen, oder man verstecke sich hinter seine Meinungen. Wer es anders macht, der kennt den Lauf der Welt nicht oder gehört zum Orden der heiligen Tollkühnheit.« (Nietzsche 1999, 517, § 338)
Bloße Meinungen werden zurückgewiesen und gegenüber dem Wissen – welchem auch immer – als minderwertig angesehen. Mit dem Hinweis auf jeweils private Meinungen wird deutlich gemacht, dass es sich um Individuelles, Subjektives, vielleicht sogar Beliebiges handelt, dem weiter kein großes Gewicht beigelegt werden soll. Gleichzeitig setzt eine liberale demokratische Ordnung auf Meinungsfreiheit und schützt Institutionen, die für die gesellschaftliche Meinungsbildung als einschlägig angesehen werden, wie z. B. den Journalismus und politische Parteien.
Mit den digitalen Medien etablieren sich neue Kommunikationsplattformen. Institutionelle Hürden zur Teilnahme am diskursiven Austausch werden abgebaut und gleichzeitig entwickeln sich neue Typen medialer Interaktion. Doch ist jeder Kommentar bei Twitter eine Meinung? Zeigt sich in dem Folgen von ›Freunden‹ eine Meinungstendenz? Ist jedes ›Like‹ bei Instagram als eine Meinung zu verstehen? Ist das Posten eines längeren oder auch kürzeren Beitrags auf Facebook immer auch eine Meinungsäußerung? Sind Meinungen vielleicht sogar insgesamt nichts anderes als ›Fake News‹?
Öffentliche und politische Debatten sind auf Meinungen angewiesen – aber auf alle Meinungen? Gibt es hier, wie gelegentlich zu lesen ist, ein ›Zuviel‹ an Meinungen? Oder sind es die ›falschen‹ Meinungen, von denen man sich distanzieren möchte oder die man vielleicht sogar zu verdrängen sucht? Und wie steht es angesichts solcher Fragen um die Meinungsäußerung? Ist diese – wie und durch was auch immer – reglementiert? Und drücken sich alle Meinungen immer gleich sprachlich aus?
Meinungen werden erforscht. Die Demoskopie ist spätestens seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ein wichtiger – oder wie einige herausstellen: ein zentraler – Bestandteil der politischen Entscheidungsfindung und Regierungskunst geworden. Meinungen werden erfragt, zusammengetragen und graphisch dargestellt. Doch um welche Meinungen handelt es sich, wenn die Befragten anonym bleiben und mit Fragen konfrontiert werden, die sie sich selbst kaum stellen würden? Es mag z. B. durchaus von Interesse sein, die Beliebtheit eines Politikers auf einer Skala abzubilden. Doch nach welchen Maßstäben bemisst sich diese Skala, und ist das entstandene Ranking das Resultat von Meinungen oder ein Steuerungsinstrument, um Meinungen zu lenken?
2
Fraglos stehen also Meinungen im Fokus der Öffentlichkeit. Aber ist es nicht doch einfach klar, dass Wissen besser ist als Meinen? »Ich darf«, so bemerkt Kant in der Kritik der reinen Vernunft, »mich niemals unterwinden, zu meinen, ohne wenigstens etwas zu wissen«. (Kant 1998 A 822/B 850) Denn ansonsten liefen wir Gefahr, den Bezug zur Wahrheit aufzugeben, die zwar selbst nicht »vollständig« gegeben sein muss, aber »doch mehr als willkürliche Erdichtung ist«. In der Mathematik, so Kant weiter, ist es »ungereimt« zu meinen; bezüglich der »Grundsätze der Sittlichkeit« kann es nicht »erlaubt« sein, sich auf »bloße Meinung« zu verlassen.
Genauer besehen stellen sich allerdings zwei Fragen, von denen man vermuten kann, dass sie aufeinander bezogen sind, die gleichwohl aber unterschieden werden müssen. Die erste Frage lautet: Was müssen wir wissen, wenn unsere Meinungen ein Erkenntnisinteresse ausdrücken? Die zweite Frage lautet: Was müssen wir wissen, insofern unsere Meinungen von Belang sind? Fraglos könnte nun eine Grundlagendiskussion einsetzen, in der man sich darüber verständigt, in welchem Verhältnis die Erkenntnistheorie zur Rhetorik steht und ob nicht die Erkenntnistheorie die Rhetorik obsolet macht oder umgekehrt. Schon in der Antike, bei Platon und Aristoteles, ist die Sachlage aber auch nicht so einfach, dass man sich hier einfach entscheiden könnte. (Erler 2019; Erler u. Tornau 2019; Rapp 2019) Die Verhältnisse sind komplexer, als es die impliziten oder expliziten Vorannahmen vermuten lassen.
Auch wenn man mit der zweiten Frage einsetzt, wird sich zeigen, dass es unplausibel ist, Meinungen als Meinungen in einem Paralleluniversum zu verorten. Selbst wenn Meinungen nur Meinungen sind, heißt dies nicht, dass wir mit ihnen eine Lizenz zum Unsinn und zur Unwahrheit in der Tasche hätten. Denn im Falle des Verständnisses von Meinungen spielt auch eine Rolle, wie ihre Verlässlichkeit eingeschätzt werden kann. Dass wir vom Meinen und der Meinung mehr erwarten müssen, als wir gelegentlich annehmen, markiert einen Leitfaden für die nachfolgenden Ausführungen. Meinungen mögen unsicher sein, doch sie sind nicht beliebig. Sie mögen fragil sein, doch sie sind nicht ohne Form. Und man wird sie auch als prekär bezeichnen können, aber das wird auch auf anderes zutreffen.
Meinungen können in diesem Sinne auch nicht grundsätzlich und generell als Bullshit verstanden werden. Harry Frankfurt, dem wir den inspirierenden Essay zum Bullshit (Frankfurt 2019) verdanken, behauptet dies auch nicht. Bullshit verweigert sich der Wahrheitsfähigkeit. Bullshit bewegt sich in einem Raum, der zwar nicht jenseits von Gut und Böse, jedoch von wahr und falsch angesiedelt ist. Bullshit negiert noch nicht einmal die Wahrheit, ihm fehlt jeder Bezug zur Wahrheitsmöglichkeit. Eine Lüge kann immerhin noch als falsch entlarvt werden, am Bullshit jedoch finden der Zweifel und die Kritik keinen Angriffspunkt. Von Meinungen werden wir nicht sagen können oder wollen, dass sie nicht offen für die Unterscheidung von Wahrheit und Falschheit sind – zumindest dann nicht, wenn wir noch einen Unterschied zwischen Meinungen auf der einen und Launen auf der anderen Seite machen wollen, und auch dann nicht, wenn wir an der Verlässlichkeit des Meinens und der Meinungen ein Interesse haben.
Die tieferen Ursachen für den Bullshit unserer Tage erkennt Frankfurt einerseits in einer geistigen Pathologie des zeitgenössischen Bewusstseins, das sich weigert, der Realität noch eine objektive Bedeutung abringen zu können oder zu wollen. Wir betreiben gleichsam eine einseitige Diät, indem wir der Erkenntnis der Wirklichkeit nicht mehr trauen, uns nur noch mit uns selbst beschäftigen und erstaunlicherweise vermuten, in der selbstgewählten Isolation und Abschottung von der Wirklichkeit würde man etwas Sichereres finden als in dem Verstehen der Welt, mit der wir konfrontiert sind und in der wir leben. Dieser Beschreibung zum Zustand einiger intellektueller Verführungen und Abwege wird man einiges abgewinnen müssen.
Andererseits weist Frankfurt darauf hin, dass wir in einer Zeit leben, in der wir geradezu dazu genötigt werden, uns zu Themen zu äußern, die unser Wissen übersteigen, und dass es ein bedenkliches Symptom aktueller Demokratien sei, »Meinungen zu allen erdenklichen Themen zu entwickeln oder zumindest zu all jenen Fragen, die für die öffentlichen Angelegenheiten von Bedeutung sind«. (Frankfurt 2019, 46)
Doch ist ein derartiger Meinungsdruck, unter den die Bürger einer Demokratie – übrigens nicht erst seit heute – gesetzt werden, wirklich das Problem? Es handelt sich vielleicht um etwas anderes, dass wir nämlich nicht mehr so recht wissen, was wir mit Meinungsbildung noch anderes anfangen können, außer sich mit moralisch reinem Gewissen immer auf der richtigen Seite zu positionieren – und damit letztlich aus der Verantwortung zu stehlen. Nicht der Meinungsdruck der Demokratie ist das eigentliche Problem, sondern ihm auf der falschen Spur auszuweichen. Vielleicht kann eine Besinnung darauf, was Meinungen uns noch bedeuten können, auch hier einen anderen Weg zur Klärung der Problemlage eröffnen.
Ähnlich verhält es sich mit dem Beklagen des Verlusts der Meinungsfreiheit. Zu keiner Zeit war es leichter, den eigenen Meinungen und denen der anderen Öffentlichkeit zu verschaffen. Dies mögen einige wiederum bedauern, ein Verlust von Meinungsfreiheit im Sinne der Möglichkeit, Publizität zu erlangen, ist jedoch nirgends zu erkennen. Die Bühnen, auf denen Äußerungen möglich und anderen zugänglich werden, haben zugenommen, verringert haben sie sich auf keinen Fall. Etwas...
Erscheint lt. Verlag | 10.1.2022 |
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Reihe/Serie | Blaue Reihe | Blaue Reihe |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
Schlagworte | Edmund • Husserl • Kommunikationswissenschaft • Ludwig • Medien • Phänomenologie • Politische Philosophie • Publizistik • Wittgenstein |
ISBN-10 | 3-7873-4092-0 / 3787340920 |
ISBN-13 | 978-3-7873-4092-7 / 9783787340927 |
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