Neue Unternehmer braucht das Land (eBook)

Die Genese des ostdeutschen Mittelstands nach der Wiedervereinigung

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
320 Seiten
Ch. Links Verlag
978-3-86284-521-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Neue Unternehmer braucht das Land - Max Trecker
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Vom Kommunisten zum Unternehmer, vom Kombinat zum eigenen Betrieb?

Mit dem Beitritt der DDR in den Geltungsbereich des Grundgesetzes wurde auch das System der »sozialen Marktwirtschaft« übernommen. Doch woher sollten in einem vormals sozialistischen Land die Unternehmer kommen? Die Akzeptanz des neuen politischen und ökonomischen Systems hing entscheidend von seiner regionalen Verankerung ab. »Mittelstand« war das Zauberwort, das für die Stärke der westdeutschen Volkswirtschaft stand. Mit der Privatisierung der ostdeutschen Staatsbetriebe durch die Treuhandanstalt bot sich die einmalige Chance, das vermeintliche Erfolgsmodell in Rekordzeit auf Ostdeutschland zu übertragen. Es handelte sich um ein soziales Experiment par excellence, das Max Trecker an der Schnittstelle von Wirtschaft und Gesellschaft genau analysiert.



Max Trecker, Jahrgang 1989, studierte Geschichte und Volkswirtschaftslehre in München und Budapest, Promotion 2017 an der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien München. Von 2017 bis 2020 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, seit ist 2020 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa in Leipzig.

I. Obsession Mittelstand – eine deutsche Affäre?


»[W]enn wir Mittelstand nur vom Materiellen her begreifen […], dann ist dem Mittelstandsbegriff meiner Ansicht nach eine sehr gefährliche Deutung gegeben. Der Mittelstand kann materiell in seiner Bedeutung nicht voll ausgewogen werden, sondern er ist meiner Ansicht nach viel stärker ausgeprägt durch eine Gesinnung und durch eine Haltung im gesellschaftswirtschaftlichen und politischen Prozess […]. Der Mittelstand ist zweifellos berufen, die Schicht zu sein oder jene Gruppe von Menschen zu umfassen, die über alles hinaus willens sind, ihre eigene Haut zu Markte zu tragen, d. h. in eigener Verantwortung ihr Schicksal, ihr ökonomisches, ihr politisches und ihr gesellschaftliches Schicksal zu tragen.«1

1. Begriffswandel


Das Zitat stammt aus dem Manuskript einer Rede Ludwig Erhards, gehalten auf einer Tagung der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft am 17. November 1955 in Bad Godesberg. Der Ausschnitt verdeutlicht einige positive Attribute, die häufig mit dem Begriff Mittelstand assoziiert werden. Der Mittelstand zeigt sich verantwortungsbewusst und resilient. Der Mittelstand zeichnet sich in erster Linie durch Charaktereigenschaften und gesellschaftliche Verhaltensweisen aus, nicht durch ein bestimmtes Niveau an materiellem Reichtum. Indirekt deutet sich in dem Zitat Ludwig Erhards an, dass der Mittelstand aktiv gefördert werden müsse, gerade wegen seiner mehrdimensionalen Bedeutung, die über das rein Ökonomische hinausgehe.

Doch was genau definiert den »Mittelstand«? Bereits zu Ludwig Erhards Lebzeiten ließen sich über 200 verschiedene Definitionen des Begriffs finden.2 Erhards positive Mittelstands-Assoziationen lassen sich im deutschsprachigen Raum bis in das frühe 19. Jahrhundert zurückverfolgen und stehen in Zusammenhang sowohl mit der Wandlung des Untertanen zum Staatsbürger als auch mit den Auswirkungen von Industrialisierung und Urbanisierung.3 Hiermit war die Hoffnung verbunden, dass es sich bei der Pauperisierung breiter Bevölkerungsschichten um ein vorübergehendes Phänomen handeln würde, das schließlich in einer egalitären Gesellschaft politisch und ökonomisch selbstständiger Bürger münden müsste.4 Der Mittelstand versprach in den Vorstellungen seiner Apologeten eine gesellschaftliche Vermittlerposition zwischen Kapital und Arbeit einzunehmen.5 Der Mittelstand mit den ihm zugeschriebenen Wertvorstellungen von Unabhängigkeit, Fleiß und Sparsamkeit sollte zum Gravitationszentrum der liberalen Gesellschaft avancieren.

Es liegt in der Natur des Begriffes, dass sich der Mittelstand beständig in Gefahr zu befinden scheint. Aufgrund der ihm zugeschriebenen Position im Gefüge der Gesellschaft droht er zwischen »Oben« und »Unten«, zwischen »Kapital« und »Proletariat« zerrieben zu werden. Verschiedene Entwicklungen sorgten bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dafür, dass der Begriff Mittelstand einen immer defensiveren Charakter im gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskurs annahm. Die Erwartungen des frühen 19. Jahrhunderts hatten sich nicht erfüllt, die Herausbildung großer Industrie- und Finanzvermögen sowie das Anwachsen der städtischen Mietskasernen schienen jeder Vorstellung einer harmonischen Bürgergesellschaft Hohn zu sprechen. Diese empirische Beobachtung fand ihre ideologische Untermauerung im Marxismus.

Marx’ Dogmen vom Klassenkampf und von der zunehmenden »Verelendung der Massen« bedeuteten in letzter Konsequenz ein Todesurteil für den Mittelstand. Laut Marx möge es zwar einem kleinen Teil des Mittelstands gelingen, zu den Kapitalisten aufzusteigen, der größere Teil müsse jedoch ökonomisch und sozial auf den Status von »Lohnsklaven« herabsinken und seine Selbstständigkeit einbüßen. Ironischerweise teilte ein bedeutender Teil der liberalen Ökonomen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts diese Sichtweise, wenn auch aus teils unterschiedlichen Gründen. Für liberale Ökonomen galten die Produktionsweisen des Mittelstands als ineffizient und obsolet. Gegen die Effizienz und Rationalität des Großbetriebs konnte der klassische Familienbetrieb – so die gängige Vorstellung – keine Chance haben. Analog zum Marxismus musste der Mittelstand demnach verschwinden und die Dominanz der Großkonzerne weiter zunehmen. Die argumentativen Fronten verliefen hierbei quer durch verschiedene Fachdisziplinen. So konnten die Kathedersozialisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts nach dem Staat rufen, um Mittelstand und Bürgergesellschaft zu retten, während liberale Ökonomen, aber auch Historiker wie Heinrich von Treitschke in gesellschaftlicher Ungleichheit eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung von Kultur und Wirtschaft sahen.6

Komplementär zur ideologischen Herausforderung des Marxismus und Liberalismus sowie zum objektiven Wachstum von Großbetrieben schien dem sogenannten alten Mittelstand im neuen Mittelstand eine weitere Bedrohung zu erwachsen. Zum alten Mittelstand zählten selbstständige Handwerker, Bauern, Kaufleute und zumeist auch die Angehörigen der Freien Berufe wie Architekten, Ärzte und Anwälte.7 Der neue Mittelstand hingegen bestand aus Angestellten und Beamten. Auch wenn das Aufkommen des neuen Mittelstands im Widerspruch zur Marx’schen Verelendungsthese stand, verstärkten die sozioökonomischen Veränderungen der Jahrhundertwende die Krisenstimmung im etablierten Mittelstand. Die höheren Angestellten und Beamten vermochten häufig ein ähnliches Einkommensniveau zu erreichen wie selbstständige Handwerksmeister oder Bauern. Ihnen fehlte jedoch der Identitätsmarker der Selbstständigkeit und damit der wirtschaftlichen und politischen Unabhängigkeit.

Während manche politische und wissenschaftliche Akteure der Kaiserzeit hierin eine weitere Bedrohung erkannten, sahen andere im neuen Mittelstand ein großes Potenzial. Zu Letzteren gehörte Gustav Schmoller, der in den 1870er-Jahren noch den drohenden Untergang des Mittelstands prophezeit hatte, gegen Ende des Jahrhunderts hingegen deutliche Anzeichen für ein Anwachsen mittelständischer Schichten und Wertvorstellungen in der wilhelminischen Gesellschaft erkannte.8 An Schmollers Beitrag von 1897 Was verstehen wir unter dem Mittelstande? zeigt sich eine Ausdifferenzierung des Begriffs: »Harte« ökonomische Kriterien wie das der Selbstständigkeit traten in den Hintergrund zugunsten von »weichen«, soziologischen Kriterien. Die Debatten der Jahrhundertwende weisen damit bereits den Weg zur späteren Unterscheidung von Mittelstand und Mittelschicht.

Interessant ist, dass für Schmoller Betriebe mit mehr als zehn Beschäftigten nicht mehr in die Kategorie der »Mittelindustrie« fielen, sondern implizit zur Großindustrie und damit nicht mehr zum Mittelstand gehörten.9 Dies verdeutlicht die Flexibilität und zu einem gewissen Grad auch die Willkürlichkeit rein quantitativer Analysemerkmale. Schmollers Beitrag verweist jedoch nicht nur wegen der zunehmend soziologisch inspirierten Methodik in das 20. Jahrhundert, sondern auch wegen seiner Analyse innergesellschaftlicher und ökonomischer Dynamiken. Er differenziert die verschiedenen Gewerke, je nachdem, ob sie in den vergangenen Jahrzehnten ein (über)durchschnittliches Wachstum oder Kontraktion erfahren hatten.10 Hiermit deutete sich an, dass einige Bereiche des Handwerks und Kleingewerbes vom Wachstum der Großindustrie direkt oder indirekt profitieren konnten. Die Debatte, ob Mittelstand und Großunternehmen sich in einem eher antagonistischen oder symbiotischen Verhältnis zueinander befänden, hat nach 1945 zwar stark an Schärfe verloren, ist jedoch nie vollständig aus dem gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskurs verschwunden. Dies zeigt sich an den in der Einleitung erwähnten Forschungsdebatten. Auch für die Mittelstandspolitik der Treuhandanstalt besaß diese Frage eine direkte Relevanz.

Trotz des durchaus offensiven Verständnisses des Begriffs Mittelstand bei Autoren wie Gustav Schmoller formierte sich der Mittelstand in Deutschland überwiegend aus einem defensiven Selbstverständnis der Bedrohung und des nahenden Untergangs heraus.11 Dies galt bis weit in das 20. Jahrhundert hinein.12 Die Weimarer Verfassung enthielt einen eigenen Mittelstandsparagrafen, laut dem Gesetzgebung und Verwaltung der Republik die Aufgabe hatten, den Mittelstand in Landwirtschaft, Handel und Gewerbe zu fördern und gegen »Überlastung und Aufsaugung« zu schützen.13 Die Inflationskrise von 1923 und die Weltwirtschaftskrise ab 1929 verhinderten eine Identifikation des Mittelstands mit der Republik trotz gut gemeinter Maßnahmen wie der Aufnahme des Mittelstandsschutzes in Verfassungsrang. Neben den großen Krisen der 1920er-Jahre sorgte die Agrarkrise für Protestpotenzial im Bauerntum, während das...

Erscheint lt. Verlag 11.4.2022
Reihe/Serie Studien zur Geschichte der Treuhandanstalt
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Beitritt • Betriebsdirektor • Birgit Breuel • Grundgesetz • Mittelstand • Ostdeutschland • Privatisierung • Rohwedder • Soziale Marktwirtschaft • Treuhand • VEB • Volkseigentum • Wiedervereinigung • Wirtschaftswunder
ISBN-10 3-86284-521-4 / 3862845214
ISBN-13 978-3-86284-521-7 / 9783862845217
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