Der Wirklichkeit widerstehen (eBook)

Soziale Konstruktion und Sozialkritik

(Autor)

Daniel James (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2021 | 1., Originalausgabe
283 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-74451-2 (ISBN)

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Der Wirklichkeit widerstehen - Sally Haslanger
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Was heißt es, eine Frau oder ein Mann, schwarz oder weiß zu sein? Hierauf geben feministische und antirassistische Theorien scheinbar widerstreitende Antworten: Während die einen diese Kategorien als sozial konstruiert begreifen, sofern unter sie zu fallen bedeutet, in bestimmten sozialen Beziehungen der Unterordnung zu stehen, denken andere sie als objektiv, sofern unter sie zu fallen für Menschen reale Konsequenzen zeitigt, denen sie sich schwer entziehen können. In dieser Sammlung bahnbrechender Aufsätze entwickelt die Philosophin Sally Haslanger eine sozialkonstruktionistische Theorie sozialer Arten, die diesen beiden Erfordernissen gleichermaßen Rechnung trägt.

<p>Sally Haslanger ist Ford Professor of Philosophy am Massachusetts Institute of Technology.</p>

171

Ontologie und soziale Konstruktion[1] 


1. Einleitung


Eines der wichtigsten Projekte der feministischen Theorie ist es, die hergebrachten Annahmen darüber, was »natürlich« ist, infrage zu stellen; Theoretiker:innen haben sich insbesondere bemüht, die Vielfalt der kulturellen Mechanismen aufzudecken, durch die wir die Wesen mit race, gender und Sexualität »werden«, die wir sind. In einem Kontext, in dem von dem, was »natürlich« ist, angenommen wird, dass es von der Natur festgelegt wurde, und das daher für unvermeidlich, angemessen oder sogar gut gehalten wird, hat das Aufzeigen der Kontingenz solcher Identitätskategorien und der mit ihnen assoziierten Verhaltensmuster entscheidende politische Wirkmacht. Darüber hinaus zeigt diese Forschung, die unsere Annahmen darüber, was natürlich ist, infrage stellt, dass in einer erheblichen Anzahl von Fällen – zumindest im Fall von race, gender und Sexualität – unsere Bemühungen, Dinge als »natürlich« oder »objektiv« zu klassifizieren, gescheitert sind. Dies hat zu einer allgemeinen Kritik an den Methoden geführt, die wir zur Rechtfertigung unserer Klassifizierungen sowie der politischen Institutionen, die in Hinblick auf diese Klassifizierungen errichtet wurden, benutzt haben.

In dieser Forschung ist man sich weitgehend einig, dass der Grund, warum die bisherigen Modelle von Gerechtigkeit, Wissen und Realität derart fehlgeschlagen sind, darin besteht, dass sie die 18Wirkmacht der sozialen Konstruktion nicht berücksichtigt haben; jedoch gibt es bemerkenswerte Unterschiede bezüglich der Art und Weise, wie der Begriff »soziale Konstruktion« (sowie verwandte Begriffe) verwendet werden, und folglich auch zwischen den Vorschlägen, wie die alten Modelle verbessert werden sollten.

Zusätzlich zur Behauptung, dass race, gender und Sexualität sozial konstruiert sind, wird z.B. vertreten, dass »das Subjekt«, »Identität«, »Wissen«, »Wahrheit«, »Natur« und »Realität« jeweils sozial konstruiert seien.[2]  Gelegentlich ist die Behauptung anzutreffen, dass »alles« sozial konstruiert sei oder dass es bis »ganz nach unten« sozial konstruiert sei.[3]  Und von der Behauptung, dass alles sozial konstruiert sei, ist es nur ein kleiner Schritt hin zur Schlussfolgerung, dass es keine Realität unabhängig von unseren Praktiken oder unserer Sprache gebe und dass »Wahrheit« und »Realität« nur Erfindungen der Herrschenden seien, um ihre Macht zu verschleiern.[4] 

Trotz der drastischen Zurückweisung der Berechtigung von Begriffen wie »Wahrheit« und »Realität«, die sich in der Arbeit von feministischen Theoretiker:innen findet, trifft man dort auch auf einen tiefverwurzelten Widerstand dagegen, in jegliche Form von Idealismus oder Relativismus abzugleiten.[5]  Ein Beispiel dafür ist Catharine MacKinnon, die in der für sie typischen eindringlichen Weise schreibt:

Epistemologisch gesehen wissen Frauen, dass die männliche Welt da draußen existiert, weil sie ihnen ins Gesicht schlägt. Ganz gleich wie sie darüber nachdenken oder versuchen, sie wegzudenken oder kraft ihrer Gedanken 19in eine andere Form zu bringen, bleibt sie unabhängig von ihnen real und zwingt sie immer wieder in bestimmte Formen. Ganz gleich was sie denken oder tun, sie kommen da nicht raus. Sie hat die Unbestimmtheit eines Brückenpfeilers, auf den man mit 60 Meilen pro Stunde trifft. (MacKinnon 1989, 123, Übersetzung T.E. Siehe auch MacKinnon 1987, 57.)

Brückenpfeiler und Fäuste sind zumindest in dem Sinne »unabhängig von uns real«, dass kein Individuum oder keine Gemeinschaft von Individuen sie einfach durch Denken zum Verschwinden bringen kann; glücklicherweise sind weniger bedrohliche Teile der physischen Welt ebenso real – ein Umdenken meinerseits kann meinen Körper, meine Freund:innen oder meine Nachbarschaft nicht einfach zum Verschwinden bringen und glücklicherweise gilt dies auch für das Denken aller anderen. Um eine Veränderung in der Welt herbeizuführen, muss man mehr tun, als einfach darüber nachzudenken. Wenn wir aber unsere Vorstellung einer unabhängigen Realität beibehalten wollen, sollten wir überlegen, inwieweit die Forschung zur sozialen Konstruktion diese infrage stellt. Wenn sich ein starkes Argument für die Behauptung entwickeln lässt, dass die Realität sozial konstruiert sei, und weiter dafür, dass das, was sozial konstruiert ist, nicht unabhängig von uns real sei, dann müssen wir vielleicht eine radikal revidierte Sicht auf die Welt in Betracht ziehen.

Mein Vorhaben in diesem Aufsatz ist es, die Behauptung, dass die Realität sozial konstruiert sei, zu untersuchen; in einem weiteren Sinne möchte ich zeigen, wie Debatten über philosophische Begriffe wie »Wahrheit«, »Wissen« und »Realität« relevant für feministische und antirassistische Politik sein können. Im folgenden Abschnitt werde ich darüber nachdenken, was es bedeutet zu sagen, dass etwas sozial konstruiert sei, und verschiedene Bedeutungen des Ausdrucks unterscheiden (ohne auszuschließen, dass es noch viele andere gibt). Ich habe mich entschlossen, dieses eher komplexe Geflecht an Unterscheidungen zu machen, weil diese in den darauffolgenden Argumenten von Bedeutung sein werden. Anschließend werde ich mich dann der Frage zuwenden, inwieweit wir durch die Behauptung, dass die Realität sozial konstruiert sei, darauf festgelegt sind, zu leugnen, dass die Welt, zumindest teilweise, unabhängig von uns ist. Ich werde eine Argumentationsstrategie prüfen, gemäß der es keine objektive (und daher auch keine unabhängige) Realität gibt, weil Wissen sozial konstruiert ist. Ich 20werde jedoch argumentieren, dass, selbst wenn diese Strategie uns gute Gründe für die Zurückweisung einer bestimmten Auffassung einer »objektiven Realität« gibt, wir dennoch nicht gezwungen sind, in einen Skeptizismus oder Idealismus zu verfallen, da es andere Auffassungen dessen gibt, was es bedeutet, real zu sein, und andere Auffassungen einer »unabhängigen« Realität. Es ist nicht meine Absicht, hier ein Argument für den Realismus oder eine unabhängige Realität anzubieten; meine (bescheidenere) Absicht ist vielmehr, Argumente, die solche Positionen herauszufordern scheinen, zu verstehen und zu bewerten.

2. Soziale Konstruktion


Wie bereits erwähnt, wird der Begriff »soziale Konstruktion« auf viele verschiedene Dinge angewendet und dabei scheinbar auf recht unterschiedliche Weisen verwendet.[6]  Zumindest anfänglich scheint es hilfreich, sich soziale Konstruktionen nach dem Vorbild von Artefakten vorzustellen.[7]  Zusätzlich zu eindeutigen Artefakten wie Waschmaschinen und Bohrmaschinen scheint es auch einen klaren Sinn zu geben, in dem der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten und Schachspiele ebenso wie Sprachen, Literatur oder wissenschaftliche Forschung Artefakte sind. Weil ihre Existenz von einem komplexen sozialen Kontext abhängt, sind sie alle im fraglichen weiten Sinne eine soziale Konstruktion. Halten wir also das Folgende fest:

Soziale Konstruktion: Im allgemeinsten Sinne ist etwas genau dann eine soziale Konstruktion, wenn es ein beabsichtigtes oder unbeabsichtigtes Produkt einer sozialen Praxis ist.

21Obwohl man sagen kann, dass soziale Konstruktionen im Allgemeinen Artefakte sind, lässt dies vieles offen, da es verschiedene Arten von Artefakten und Weisen, ein Artefakt zu sein, gibt. Im vermutlich paradigmatischen Fall eines Artefakts spielen Menschen bei der Erschaffung eines Gegenstands eine kausale Rolle in Übereinstimmung mit einem Gestaltungsplan oder in Hinblick auf die Erfüllung einer bestimmten Funktion.

Die Idee eines Artefakts und damit auch die Idee der sozialen Konstruktion geht jedoch weit über diesen paradigmatischen Fall hinaus:...

Erscheint lt. Verlag 13.12.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Feminismus • Gender • Geschlecht • neues Buch • Rassismus • STW 2174 • STW2174 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2174
ISBN-10 3-518-74451-8 / 3518744518
ISBN-13 978-3-518-74451-2 / 9783518744512
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