Mary Shelleys Zimmer (eBook)

Als 1816 ein Vulkan die Welt verdunkelte
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
320 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00939-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mary Shelleys Zimmer -  Timo Feldhaus
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1815 explodiert auf einer indonesischen Insel der Tambora. Es ist der heftigste Vulkanausbruch der Neuzeit und bewirkt enorme Klimaveränderungen. Kalt und dunkel wird es, auch in Europa kommt es zu einem Jahr ohne Sommer.  Timo Feldhaus folgt der riesigen Schwefelwolke, die die Welt verdüstert, und beobachtet, was unter ihr geschieht: Goethe entdeckt die Wolkenwissenschaft und wird nie wieder in den Urlaub fahren. Caspar David Friedrich malt giftgelbe Sonnenuntergänge, Napoleon sitzt einsam auf der Insel St. Helena und hat alles verloren. Ein Mädchen sieht ihre Familie verhungern und irrt durch ein Deutschland, in dem die nationale Idee aufkeimt. In Genf kommt es zu einer künstlerischen Eruption: Die 18-jährige Mary Shelley, gerade mit ihrer Liebe aus London geflohen, versteckt sich vor den Unwettern bei Lord Byron, dem ersten Rockstardichter. Hier kommt dem stillen, hochtalentierten Mädchen die Idee für ihren ersten Roman: die Geschichte von Frankenstein und seinem Monster, die erste Science-Fiction. Timo Feldhaus beschreibt einen Himmel und eine Welt im Umbruch - die der heutigen überraschend ähnlich ist. Es ist eine außergewöhnliche Liebesgeschichte inmitten einer Klimakatastrophe. Und genau so passiert. 

Timo Feldhaus, geboren 1980, ist Journalist und Autor. Nach einem Studium der Literaturwissenschaft und Soziologie schreibt er für Zeit Online, Monopol und die Welt am Sonntag über Kunst- und Gesellschaftsthemen. Mit seiner Familie lebt er in Berlin.

Timo Feldhaus, geboren 1980, ist Journalist und Autor. Nach einem Studium der Literaturwissenschaft und Soziologie schreibt er für Zeit Online, Monopol und die Welt am Sonntag über Kunst- und Gesellschaftsthemen. Mit seiner Familie lebt er in Berlin.

4 London


«Stopp!», rief Percy. Nachdem er Marys Vater ihre Liebe erklärt hatte, hatte der erst lange geschwiegen, dann rumgeschrien, und schließlich waren die Dinge außer Kontrolle geraten. Irgendwann war Percy im Arbeitszimmer auf den Schreibtisch ihres Vaters gesprungen und stand nun zentral vor dem Portrait von Marys Mutter an der Wand. Das kleine Fläschchen Gift, das er stets bei sich trug, reckte er kurz in die Höhe und löste den Korken vom Gefäß, sein Haar stand noch weiter vom Kopf ab als sonst, als hätte der Blitz geradewegs in ihn eingeschlagen.

 

Es begann der Showdown, auf den die fiebrigen letzten Wochen zugelaufen waren, der Raum surrte vor Energie. Einen Augenblick erschien Mary, die sich außer Atem in einen Sessel hatte fallen lassen, die Familienszene vor ihr wie eingefroren. Sie sah in Percys riesige Augen, die immer ein wenig unter Wasser standen. Er trug auch heute lange Hosen, die unten am Saum verwegen breit geschnitten waren. Sein weißer Kopf schaute aus den Kleidern heraus wie ein Schwan aus dem nächtlichen Wasser. Mein Elf, dachte Mary.

Nur einen Menschen kannte sie, dessen Worte so in sie einschlugen, und das war ihr Vater. Ihn hatte sie ihr Leben lang am hingebungsvollsten und unwillkürlichsten geliebt, und nun traute sie sich nicht, zu ihm zu sehen. Vater Godwin, der alte Anarchist, wirkte abgekämpft. Der Rock hing halb über dem Gürtel, er war dick geworden und hatte die Hälfte der Haare auf dem Weg verloren. Neben ihm räkelte sich Marys Halbschwester Jane Clairmont auf der abgewetzten roten Chaiselongue. Sie war die Tochter von Marys Vaters neuer Frau, ihr leiblicher Vater soll Spanier gewesen sein. An ihren Lippen konnte Mary erkennen, dass sie sich freute, weil etwas passierte, und zugleich demonstrativ schmollte, da sie in dem hier aufgeführten Drama nur eine Nebenrolle spielte. Jane sah sehr zeitgenössisch aus. Es war nicht nur das blassblaue Kleid, das ohne Korsett auskam und von dem weder Mary noch irgendwer sonst eine Ahnung hatte, wie und mit welchem Geld sie es aufgetrieben hatte. Ihre Stiefschwester umgab eine unerklärliche Leichtigkeit, die alle verrückt machte. Sie besaß die magische Gabe, immer etwas nachlässig auszusehen, zu jeder Situation das passende Gesicht zu tragen und den perfekten kurzen Satz zu sagen. Obwohl sie nie ein Buch las. Jedenfalls nicht oft. Jedenfalls nicht halb so gebildet war wie Mary. Die Beziehung der beiden fast gleichaltrigen Halbschwestern bestand aus großer Bewunderung, rasender Eifersucht und inniger Liebe. Sie beide wussten, dass Mary einmal Schriftstellerin werden sollte. Was aus Jane einmal würde, wusste niemand.

 

Godwin war sicher, dass Percy es nicht tun würde. Dieser aristokratische Aufschneider und Salonradikale war viel zu egozentrisch, um sich umzubringen. Vor einem Jahr war er hier als größter Fan angetanzt mit seinem Atheismus, seiner Godwin-Manie und seinem Geld. In der Weichzeichnung, die der Baronensohn seitdem täglich vornahm, waren er und seine verstorbene Frau noch einmal als großes Paar auferstanden. Natürlich hatte Godwin das geschmeichelt. Er brauchte Unterstützer. Als Autor war er nicht mehr gefragt, seine Buchhandlung und der neu gegründete Kinderbuchverlag, für den er nun auch selbst Geschichten beisteuerte, liefen nicht gut. Anders als Percy hatte Godwin sich alles selbst erarbeiten müssen. Sein bekanntester Roman war ein Hit gewesen, seine große theoretische Schrift Politische Gerechtigkeit hatte dafür nachhaltiger gewirkt. Ganz London hatte sie gelesen. Es waren gute Zeiten gewesen, nun waren sie wohl um. Godwin wollte es nicht wahrhaben und hatte Percys Lobeshymnen irgendwann geglaubt, denn am Ende war er noch eitler und kindischer als der junge Dichter. Er liebte Mary wie nichts anderes auf der Welt. Wie keines seiner anderen Kinder, wie keine Frau. Er schnaufte tief. Es klang wie ein Startschuss. Das lodernde Feuer aller Beteiligten hatte genügt, die eingefrorene Szene abzuschmelzen. Sie waren nun gezwungen, das ganz große Drama ein für alle Mal durchzuexerzieren. Zwei Dinge standen im Raum. Eins davon wollte Godwin auf keinen Fall ansprechen, das andere unbedingt als Erstes. Er donnerte: «Was ist mit Harriet?»

 

Harriet war Percys Ehefrau und die Mutter seines Kindes. Er hatte die damals Sechszehnjährige vor drei Jahren gegen den Willen ihrer Eltern geheiratet. Sie war eine Freundin seiner Schwester. Die Liebe war für ihn der perfekte Kampfplatz, um die patriarchale Ordnung, die die Menschen in Passivität und Depression zwang, zu zerstören. Es galt, die jungen Frauen zu befreien, also auch möglichst viele von ihnen. Auf Godwins Frage hin ließ er allerdings seinen Giftarm sinken. Er hatte nichts gegen Harriet, war sich sogar sicher, dass er sie noch liebte. Aber er konnte das Zeug in sich, das Leben hieß und das so wütend voranschritt, nicht im Zaum halten. Zuletzt hatte sie sowieso nur noch gemeckert und Ansprüche gestellt. Gar nicht das Bild einer selbstständigen Frau. Und die wollte er. In drei Jahren war er berühmt, oder tot. Sein Arm stand wieder grade in der Luft. Percy schrie:

«Wie können Sie das fragen? Bin ich nicht hierhergekommen, weil in Ihren Worten die Freiheit liegt? Die Unbedingtheit? Die Größe!? ‹Der vernunftbegabte Mensch braucht weder Gesetze noch Institutionen› – Ihre Worte.»

«Harriet ist nun einmal Ihre Ehefrau», knurrte Godwin.

«Was ist die Ehe? Ein Blatt Papier! Sie wollten sie doch selbst abschaffen!»

Godwin schaute genervt.

Percy weiter: «Marys Mutter nannte die Ehe Haussklaverei und legale Prostitution. Warum sollen Frauen weniger wert sein als Männer?» Er machte dazu auf dem Schreibtisch plötzlich leichte Tanzbewegungen.

Godwin irritierte das Gewackel. Wie hatte er seine Frau damals angefleht: Die Gerechtigkeit der Völker, natürlich, das ist unser Kampf, aber wenn sie das mit dem Feminismus, an den sie beide glaubten und den sie gemeinsam lebten, auch öffentlich durchziehen wollte, würden die Leute ihr das nicht verzeihen. Natürlich hatte sie nicht auf ihn gehört.

«Hören Sie mir überhaupt zu?», rief Percy vom Tisch.

 

Marys Vater versuchte mit aller Kraft, ihm nicht zuzuhören. Wie dieser Shelley dastand, in seinem abgerissenen Aufzug, vollkommen albern. Gottlob war seine Frau nicht hier, um den Schlamassel mit anzusehen. Was könnte er gegen eine Entführung ausrichten? Er würde sich seine Tochter nicht rauben lassen. Mary war sein begabtestes Kind. Wenn er hinter der Stirn dieses verschlossenen Mädchens die Gedanken rattern hörte, sah er das Ebenbild seiner verstorbenen Frau. Er würde sie zur größten Autorin Londons machen. Vor allem würde er sie nicht auf die andere Seite der Gesellschaft ziehen lassen. Er selbst balancierte seit jeher auf einer seidenen Linie zwischen umstürzlerischer Avantgarde und sicherem Hafen, Kunst und Gefängnis. Er wusste, wie schwer diese Membran rückwärts zu überschreiten war. Shelley wusste einen Scheißdreck. Am Ende würde seine schwerreiche Familie ihn wieder aufnehmen und den verlorenen Sohn in einem Schloss auf dem Land versauern lassen. Er würde dort depressiv und Alkoholiker werden, aber mehr auch nicht. Die Reise von einer Klasse in die andere, von einer gesellschaftlichen Sphäre und zurück, den machten in dieser Zeit nur eisenharte und zugleich fast durchsichtige, flexible Gestalten, deren Seelen und Wörter zugleich hell und antik waren. Die Jahre hatten den aufsässigen Humanisten zu einem Pragmatiker werden lassen. Hehre Ziele und große Ideale, natürlich, immer. Das alltägliche Leben und Leiden stand allerdings auf dem gleich daneben liegenden Blatt. Und anders als für das Gemeinwohl war dafür alleine er verantwortlich. Er musste die große Familie aus ganzen und halben Töchtern, Dreiviertel-Söhnen und im Grunde völlig fremden Kindern, die unter seinem Dach wohnten, am Laufen halten. Er brauchte Geld. Und das war eben das Zweite, worüber er ständig nachdachte, aber sicher nicht hier vor seinen beiden Töchtern sprechen wollte: das viele Geld, das Shelley ihm geliehen hatte, und vor allem das Geld, das er ihm noch leihen sollte. Ohne diesen aristokratischen Hurensohn ging es einfach nicht mehr. Godwin schaute in die Runde und schloss angeekelt die Augen. Percy sprach nun etwas ruhiger:

«In diesem Haus, vor allem durch Sie, Godwin, wurde der Grundstein gelegt, hier habe ich Mary getroffen …»

Mary wollte etwas sagen, es kam nichts aus ihrem Mund. Godwin brüllte: «Vor sechs, sieben Wochen, Shelley. Vor sechs, sieben Wochen!»

«Schon richtig», gab Percy zu, «doch nur hier konnten wir die Idee einer Welt weiterentwickeln, in der alle politischen und sozialen Hierarchien überwunden werden. Ich will nicht abergläubisch wirken, aber sollte es nicht vielleicht genau so sein? Doch wir müssen hier raus, wir bilden die Gemeinschaft der kommenden Gesellschaft.»

 

Mary saß, ja, lag eigentlich in ihrem Sessel, die Augen halb geschlossen. Oft, wenn die Welt zu aggressiv auf sie eindrang, reagierte ihr Körper darauf mit Schlaf. Sie konnte nichts tun, als sich der bodenlosen Träumerei zu ergeben. Kurz bevor dieser Zustand eingetreten war, hatte Mary eine schreckliche Vision gehabt. Die Bücherberge, die rings um ihren Geliebten bis an die Decke gestapelt standen – ihr Vater verfügte über eine der größten privaten Bibliotheken des Landes – sie hatten sich plötzlich in den Raum hineingewölbt wie Wellen, und die Bücher, zu Tausenden herabgestürzt, hatten Shelley unter sich begraben.

«Wir waren gegen die Ehe», dröhnte ihr Vater in diesem Moment, «das wisst ihr beide. Aber wir haben...

Erscheint lt. Verlag 12.4.2022
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Schlagworte Byron • Caspar David Friedrich • Epochenporträt • Erzählendes Sachbuch • Geschichte 19. Jahrhundert • Jahr ohne Sommer • Johann Wolfgang von Goethe • Kältester Sommer • Klimawandel • Kulturgeschichte • Mary Shelley • Napoleon Bonaparte • Percy Shelley • St Helena • Tambora 1815 • Vulkanausbruch • William Turner
ISBN-10 3-644-00939-2 / 3644009392
ISBN-13 978-3-644-00939-4 / 9783644009394
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