Ruin und Erneuerung (eBook)

Die Wiedergeburt der europäischen Zivilisation 1945 | Eine vielstimmiges Panorama Europas in der Nachkriegszeit

(Autor)

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2022 | 1. Auflage
624 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2706-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ruin und Erneuerung -  Paul Betts
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»Ein Buch von bemerkenswerter Tiefe, das es vermag, sowohl eine Weltgeschichte Europas als auch eine europäische Geschichte der Welt nach 1945 zu sein.« Christopher Clark 1945 liegt Europa in Trümmern. Städte und Gemeinden sind durch Krieg zerstört, die Wirtschaft am Boden. Das von den Nationalsozialisten industrialisierte Morden hat ethische Werte ebenso pervertiert wie Religion, Kultur und Wissenschaft. Wie ist es gelungen, dem zerrütteten Kontinent wieder Frieden, Wohlstand und Fortschritt zu bringen? Auf der Grundlage von Originalquellen und Zeitzeugenberichten schreibt Paul Bett die vielstimmige Erzählung der Wiedergeburt Europas und zeigt, welch große Errungenschaft wir heute wieder verlieren könnten.

Paul Betts, geboren 1963 in Phoenix /Arizona, ist Professor für Moderne Europäische Geschichte am St. Antony's College der Universität Oxford. Er ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen über die europäische Kultur und Politik im 20. Jahrhundert. Ruin und Erneuerung ist die Summe langjähriger Forschungen über den grundlegend neuen Platz Europas in der Welt seit 1945.

Paul Betts, geboren 1963 in Phoenix /Arizona, ist Professor für Moderne Europäische Geschichte am St. Antony's College der Universität Oxford. Er ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen über die europäische Kultur und Politik im 20. Jahrhundert. Ruin und Erneuerung ist die Summe langjähriger Forschungen über den grundlegend neuen Platz Europas in der Welt seit 1945.

Erstes Kapitel: Spenden statt Waffen


Im Juli 1945 reiste der englische Dichter Stephen Spender mit einem Sonderauftrag von Frankreich nach Deutschland. Er hatte während der letzten Jahre der Weimarer Republik in Hamburg und Berlin gelebt und war seitdem nicht wieder dort gewesen. Nun betrat er Deutschland als Offizier der alliierten Kontrollkommission in der britischen Besatzungszone mit der ungewöhnlichen, auf sechs Monate angelegten Aufgabe, »etwas über das Leben und Denken der deutschen Intelligenz zu erfahren und zu erkunden, ob es überhaupt noch literarische Talente gab, die überlebt hatten«, und »mir ein Bild vom Zustand deutscher Bibliotheken zu machen«. Er schrieb ein Tagebuch über seine Mission, das schon 1946 unter dem Titel European Witness (Deutschland in Ruinen) erschien und einige der ersten Reflexionen eines Augenzeugen über das verwüstete Europa lieferte. Nur wenige Jahre zuvor, 1942, hatte Spender den Gedichtzyklus Ruins and Visions veröffentlicht, der persönliche Erfahrungen mit Themen wie Luftangriffen, der nationalsozialistischen Besetzung Frankreichs und dem Tod selbst verband, aber nichts hatte ihn auf den erschütternden Anblick der gewaltigen Trümmerfelder vorbereitet. Das Stadtbild Kölns – oder was davon übrig war – überwältigte ihn: »Beim ersten Durchfahren schien es mir, als sei dort auch nicht ein einziges Haus übrig geblieben.« Die verkohlten, geborstenen Mauern seien »wie dünne Masken vor der feuchten, hohlen, stinkenden Leere ausgewaideter [sic] Innenräume«. Nicht weniger verstörend war, dass die Trümmer zugleich die Verfassung der Überlebenden beschrieben: »Die Verheerung der Stadt spiegelt sich in der inneren Verheerung ihrer Bürger«, die »eher einem Stamm von Nomaden [gleichen], die inmitten einer Wüste eine Ruinenstadt entdeckt und dort ihre Lager aufgeschlagen haben, in ihren Kellern hausen und zwischen den Trümmern nach Beute suchen, Überresten einer toten Zivilisation«.21

Für Spender sprach aus den qualmenden Überresten der bombardierten Städte viel mehr als der Flammentod von Hitlers Reich. Diese »Leichenstädte« seien »Errungenschaft unserer Zivilisation«, deren Ruinen »die von unserem Jahrhundert geschaffene Gestalt« seien, »so wie das Mittelalter sich seine Gestalt in der gotischen Kathedrale schuf«. Spender gestand, deprimiert von dieser obszönen »Gestalt« zu sein, und dass seine Bedrückung untrennbar mit der noch quälenderen Sorge verbunden war, dass »aus der Zerstörung Deutschlands die Zerstörung ganz Europas erwachsen könnte. […] Während ich durch die Straßen Bonns ging und der Wind mir nach Verwesung riechenden Trümmerstaub in die Nase trieb, der wie Pfeffer brannte, hatte ich das Gefühl, die Schutzmauern unserer Zivilisation seien so dünn wie Eierschalen und könnten an einem einzigen Tag fortgeblasen werden.«22

Spender war keineswegs der Einzige, der im Europa der sogenannten Stunde Null vom Untergang der Zivilisation sprach. Für ihn und für andere hatte die Beschwörung der Zivilisation nichts von den romantischen Betrachtungen eines zerfallenden kulturellen Erbes, wie sie das frühe 19. Jahrhundert oft angestellt hatte. Wir werden sehen, dass diese Narrative von einem überwältigenden Schock und Bruch handelten. Bis ins Detail zeichneten sie den Kollaps der Macht und der kulturellen Stärke Europas. In der gewaltigen Zerstörung lag auch ein Aufruf zum Handeln. Dieses Kapitel schaut auf Beobachter von außerhalb, auf Nothelfer und das internationale Personal der United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA), die gleich nach dem Krieg an vorderster Linie materielle und moralische Wiederaufbauarbeit leisteten, und darauf, wie sie über ein in Trümmern liegendes Europa Zeugnis ablegten. Dies war nicht irgendeine nebensächliche Entwicklung – es ging um die vollständige Umkehrung der Zivilisierungsmission Europas. Der Kontinent, für lange Zeit und in allen Teilen der Welt die kraftvolle missionierende Macht, war nun selbst ein Schauplatz eifriger missionarischer Tätigkeit und Objekt der Einflussnahme von außen. Auswärtige Hilfsorganisationen, religiöse wie weltliche, standen denen bei, die unter der Besatzungsherrschaft der Achsenmächte gelitten hatten; die UNRRA errichtete Niederlassungen in 16 europäischen Ländern und versorgte Displaced Persons (DPs) in Deutschland, Österreich, Frankreich und Italien. Diese üppig ausgestatteten Niederlassungen waren in der unmittelbaren Nachkriegszeit kühne Experimente des Internationalismus und wurden bald zu einem Quell von Konflikten und Kontroversen. Der Kalte Krieg – sein Beginn wird üblicherweise mit der Truman-Doktrin 1947 oder der Berlin-Blockade 1948/49 angesetzt – nahm bereits in den DP-Camps Gestalt an. Ausländische Freiwillige der religiösen Wohlfahrtsorganisationen und der intergouvernementalen Institutionen waren unter den Ersten, die vom Nachkriegseuropa erzählten, dort fotografierten und zugleich an ihm arbeiteten. Ihr Werk war wesentlich für den moralischen und materiellen Wiederaufbau des Kontinents.

Die Geografie der Zerstörung


Das Elendsjahr 1945 war eines der Bestandsaufnahme, die durch die Berge von Schutt, Asche und Leichen nur zu offensichtlich eingefordert wurde. Ganze Städte waren ausgelöscht; Guernica, Rotterdam, Caen, Coventry, Leningrad, Dresden und Warschau wurden zur architektonischen Signatur der Ära des totalen Krieges. Über 90 Prozent der Wohnbebauung Warschaus waren so schwer beschädigt, dass eine Wiederherstellung unmöglich war. Minsk, Budapest, Kiew und Charkow hatten ein ähnliches Schicksal erlitten, ebenso gegen Ende des Krieges viele deutsche Städte. Und doch nahm Berlin einen besonderen Platz in der Geografie der Zerstörung ein. Der amerikanische Auslandskorrespondent William Shirer sah in Berlin »[s]o weit das Auge reicht, in allen Windrichtungen nur Zerstörung und Trümmer, dazwischen ausgebrannte Häuser ohne Dach, die im Licht der niedrigstehenden Nachmittagssonne wie kleine Mausefallen wirken«. Tod, unheimliche Stille und ein Gefühl der Endgültigkeit bestimmen die zeitgenössischen Berichte über das besiegte Deutschland. Einen britischen Soldaten traf in Berlin die »Stille, die über allem lag«, in der Menschen »mit gedämpfter Stimme sprachen, als fürchteten sie, die Toten unter dem Schutt zu wecken«. Oft nicht ohne Befriedigung bemerkten sowjetische Korrespondenten, dass Berlin ein »Chaos aus riesigen Kratern und rußgeschwärzten Steinen, zerbrochenem Beton, verbogenen Stahlträgern und gesplittertem Glas« war.23

Die Beobachter empfanden die Zerstörung schlicht als unverständlich, nicht zuletzt hinsichtlich des radikal gewendeten Schicksals der Deutschen und Deutschlands. Shirer fragte in seinem Berliner Tagebuch am 3. November 1945, fast sechs Monate nach dem Ende der Kämpfe: »Wie soll man Worte finden, um das Bild einer bis zur Unkenntlichkeit zerstörten großen Hauptstadt wahrheitsgetreu und genau zu schildern?« Wie sollte man die Angehörigen der einst hochmütig selbstgewissen »Herrenrasse« beschreiben, die »man nun in den Ruinen herumstochern sieht, gebrochen, betäubt, zitternd; hungrige menschliche Wesen ohne Willen, Lebenszweck, Ziel, reduziert auf animalische Funktionen wie Nahrungs- oder Obdachsuche, um den nächsten Tag lebendig zu erleben?«. Janet Flanner betonte im New Yorker, wie sehr sich der Zweite Weltkrieg von seinem Vorläufer unterschied: »Die Niederlage im letzten Krieg hat Deutschland keinen Stein gekostet. Diesmal ist der Zerstörer selbst zerstört worden.« Cornelia Stabler Gillam war eine junge Quäkerin aus Philadelphia, die herüber nach Europa gekommen war, um in Kantinen der US-Armee Klavier zu spielen. Sie beschrieb ihren Eltern die zerstörte Domstadt Aachen in einem Brief vom Juni 1945: »Menschen kriechen wie Ratten aus den zertrümmerten Gebäuden, in denen sie leben. […] Ich hatte Angst, dass ich weinen würde, und wusste, dass es missverstanden würde. Ich würde nicht um die Deutschen weinen, sondern um die ganze Welt.«24

Auch deutsche Autoren, besonders heimkehrende Exilanten, erfassten Schock und Verwirrung. Klaus Mann, der als Reporter der US-Militärzeitung Stars and Stripes in sein geliebtes München zurückkehrte, schilderte seine Fassungslosigkeit und Verzweiflung: »Was einmal als die schönste Stadt Deutschlands galt, […] hat sich in einen riesigen Friedhof verwandelt. […] Nur mühsam fand ich meinen Weg durch die einst vertrauten Straßen.« Theodor Plievier, der im Frühjahr 1945 von Moskau nach Deutschland reiste, erzählte von einer »gespenstisch verändert[en]« Stimmung in Dresden, »[e]ine Düne aus Backsteinbrocken und geronnenem Mörtel, dahinter wieder eine Düne und wieder«. In seiner Notiz »Fahrt durch die Ruinenstadt« deutete Arnold Zweig die Trümmer als »Rückschläge des totalen Krieges«, als grausames quid pro quo: »Von hier aus wurde er losgelassen, hunderttausend Kehlen brüllten im Sportpalast ihr ›Ja‹ zu ihm – und...

Erscheint lt. Verlag 27.1.2022
Übersetzer Bernd Rullkötter, Jan Martin Ogiermann
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Zeitgeschichte ab 1945
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Besatzung • Dekolinalismus • Demokratie • Displaced Persons • Eiserner Vorhang • Europa • Europäische Union • Flüchtlinge • Gefühle • Gesellschaft • Globalgeschichte • Kalter Krieg • Kriegsende • Kultur • Mauerfall • Menschenrechte • Migration • Multikulturalismus • Rassismus • UNESCO • Werte • Wiederaufbau • Zivilcourage • Zivilisation
ISBN-10 3-8437-2706-6 / 3843727066
ISBN-13 978-3-8437-2706-8 / 9783843727068
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