Philosophie des Fahrens (eBook)
432 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2702-0 (ISBN)
Matthew B. Crawford, geboren 1965, ist promovierter Philosoph und gelernter Motorradmechaniker. Er studierte politische Philosophie an der University of Chicago, war dort Fellow am Committee on Social Thought und arbeitete in einer Denkfabrik. Zurzeit lehrt er an der University of Virginia und arbeitet außerdem in seiner eigenen Motorradwerkstatt 'Shockoe Moto' in Richmond, Virginia. Ich schraube, also binich erreichte auf Anhieb die Bestsellerliste der New York Times.
Matthew B. Crawford, geboren 1965, ist promovierter Philosoph und gelernter Motorradmechaniker. Er studierte politische Philosophie an der University of Chicago, war dort Fellow am Committee on Social Thought und arbeitete in einer Denkfabrik. Zurzeit lehrt er an der University of Virginia und arbeitet außerdem in seiner eigenen Motorradwerkstatt "Shockoe Moto" in Richmond, Virginia. Ich schraube, also bin ich erreichte auf Anhieb die Bestsellerliste der New York Times.
SELBSTGESCHRAUBT
EIN ZUSAMMENBRUCH: 72ER JEEPSTER COMMANDO
Ich bestellte noch einen Kaffee, obwohl ich nicht vorhatte, ihn zu trinken. Das schien mir richtig zu sein, denn ich saß an der Theke. Es war spät in der Nacht, eine Nacht im Januar 1987, der Ort war ein Diner am Highway 101 in San Miguel. Dies war keine richtige Ortschaft, sondern ein »zu Statistikzwecken definiertes Siedlungsgebiet« in Zentralkalifornien. Ich war vollkommen erschöpft und fragte mich, was zum Teufel ich jetzt tun sollte. Es musste gegen zwei Uhr morgens sein. Die Kellnerin war wahrscheinlich nicht an den Anblick von 21-Jährigen gewöhnt, die sich um diese Uhrzeit derart viel Zeit für eine Tasse Kaffee nahmen. Sie blieb so lange neben meinem Hocker stehen, dass ich den Eindruck gewann, sie habe Lust zu plaudern. Also fragte ich sie, ob mich die örtlichen Polizisten aufscheuchen würden, wenn sie mich schlafend in meinem Auto fänden.
»Wohin willst du?«, fragte sie.
»Nirgendwohin, und zwar schnell«, antwortete ich. Der Spruch klang gut; ich hatte ihn einstudiert.
Ich erklärte ihr meine Lage. Sie sagte, etwa eine Meile die Straße hinunter gebe es einen Schrottplatz.
»Wirklich?« Die Nachricht erfüllte mich mit warmer Hoffnung, die sich besser anfühlte als ihr bitterer Kaffee.
»Und über die Cops musst du dir keine Gedanken machen. Hier kommt nur die Autobahnpolizei vorbei.« Aber dieses Problem gab es schon nicht mehr: Mein Bedürfnis nach Schlaf war verflogen. In sechs Stunden würde der Schrottplatz vermutlich offen sein.
Es war fünf Stunden her, dass diese Nacht eine unangenehme Wendung genommen hatte. Ich war in meinem 72er Jeepster unterwegs in Richtung Süden, als ein quälendes Geräusch aus dem Motorraum – ein hämmerndes Dat Dat Dat Dat Dat – ankündigte, dass aus meinem Plan A nichts werden würde. In dem Augenblick, als ich dieses Geräusch hörte, fiel mir eine Kleinigkeit ein, eine von hundert auf einer im Geist und ein wenig zu nachlässig erstellten Aufgabenliste. Der fragliche Punkt in der Liste betraf die Montage des Kühlers: statt vier Schrauben nur zwei, wie mir jetzt einfiel, und eine davon hatte anscheinend nicht genau in die Fassung gepasst, aber ich hatte sie trotzdem hineingezwungen, um den Kühler »fürs Erste« zu befestigen, während ich den Motor austauschte. Und dann hatte ich es ein bisschen länger als fürs Erste bei dieser provisorischen Lösung belassen.
Den Jeep hatte ich im Vorsommer gekauft, nachdem ich mich in den 64er International Harvester Scout eines Freundes verliebt hatte. Wir waren darin zu viert zu einem Campingausflug in die Sierras aufgebrochen, um ein Wiedersehen nach der Highschool zu feiern. Zu den Höhepunkten der Tour zählten ein eiskalter Wasserfall, eine Nacht unter dem Sternenhimmel auf einer massiven Granitplatte und das schwindelerregende Vergnügen einer holprigen Fahrt auf einem furchigen Pfad, wobei wir mehrere Bäche durchquerten, ohne zu wissen, ob das Auto vielleicht darin versinken würde. Unsere Zuversicht wurde dadurch bestärkt, dass wir vier kräftige junge Männer waren, die notfalls schieben, ziehen und graben konnten: Es war durchaus möglich, dass wir zusammen eine halbe Pferdestärke besaßen! Aber der kleine Vierzylinder-Scout mit von Hand bedienten Differentialsperren an den Vorderrädern bewältigte alle Herausforderungen mit Bravour. Das in sandiger Tarnfarbe lackierte Auto war nicht höher gelegt und hatte schmale, kleine Reifen und eine weiche Aufhängung – perfekt. Brian hatte 800 Dollar dafür bezahlt. Es war wüstenfarben lackiert.
Am nächsten kam diesem wunderbaren Auto ein Modell, das ich in Auto Trader for the Bay Area fand (dieses Anzeigenmagazin konnte man im Gemischtwarenladen kaufen). Es war ein 72er Jeepster Commando, ein früher Vorläufer des SUV. Das Auto war hellblau und höhergelegt, hatte ein abnehmbares starres Dach und keinen Überrollbügel. Ich entfernte als Erstes das Dach. Bei den Fahrten unter freiem Himmel in einer offenkundig instabilen Todesfalle, in der ich wegen des drehzahlschwachen Motors oft durch die Gänge ruderte (der Wagen hatte eine manuelle Viergangschaltung für einen Sechszylindermotor), fühlte ich mich wie eine teuflische Figur in einer Abenteuergeschichte. (Junge Männer neigen zu motorisierter Selbstdramatisierung.) Ich fühlte mich ohne eigenes Verdienst charismatisch – mein einziger Beitrag war der Einfall gewesen, dieses Auto zu kaufen.
Aber die Geschichte nahm schon im ersten Kapitel eine Wendung zum Schlechten. Nur einen Tag nachdem ich den Commando gekauft hatte, übte ich in der Nacht ein wenig mit dem Allradantrieb (auf einer Baustelle in San Francisco, wenn Sie es genau wissen wollen – ich bin nicht stolz darauf), als plötzlich der Motor aussetzte. Nachdem der Abschleppdienst den Wagen vor meinem Haus in Berkeley abgestellt hatte, entdeckte ich, dass der Motor aufgrund einer abgenutzten Motorhalterung so wild umhergehüpft war, dass diese schließlich den Ölfilter durchbohrt hatte – und es gab keine Warnleuchte, die auf einen mangelnden Öldruck hingewiesen hätte. Der Motor war hinüber.
Ich kaufte auf einem Schrottplatz einen Motor aus einem anderen Jeep-Modell und tauschte die beiden Aggregate vor dem Haus meines Vaters auf der Straße aus. Ich brauchte mehrere Wochen dafür. Alle paar Tage musste ich den Wagen zu einer anderen Parklücke schieben, um einen übereifrigen Parkplatzaufseher namens Ortega zu beschwichtigen, der es bereits auf mich abgesehen hatte, weil ich des Öfteren fahruntüchtige Autos auf der Straße stehen ließ. Einige Tage nachdem der Motortausch endlich erledigt war, wurde der Jeep am helllichten Tag gestohlen. Ein paar Monate später fand die Polizei das verfluchte Gefährt – und dieser Ausflug nach Santa Barbara war nun meine erste wirkliche Exkursion in meinem neuen Auto.
Als ich das erwähnte Dat Dat Dat hörte, fuhr ich an den Straßenrand und öffnete die Motorhaube. Ich hatte keine Taschenlampe dabei, aber ich konnte ertasten, dass der Kühler tatsächlich aus der Halterung gefallen und gegen den Lüfter gekippt war, sodass die Ventilatorblätter den Kühler durchbohrt hatten. Überall war glitschige, süßlich riechende Kühlflüssigkeit. Ich durchwühlte den Kofferraum, der mit allem möglichen Kram gefüllt war: Ich war auf dem Rückweg von Berkeley nach Santa Barbara, wo ich im Wintersemester mein Studium an der UCSB fortsetzen würde. Ich fand einen Kleiderbügel und eine Kombizange und befestigte den Kühler mit dem Draht wieder an seinem Platz. Die Frage war jetzt, wie viel Kühlflüssigkeit der Motor verloren hatte. Wie schnell würde sie ausfließen, wenn ich den Motor wieder anließ? Der Wischwassertank war leer, und ich hatte kein Wasser im Wagen. Jetzt bedauerte ich es, dass ich eine Stunde früher angehalten hatte, um zu pinkeln: So hatte ich weitere kostbare Flüssigkeit vergeudet, die ich in dieser Notlage gut hätte brauchen können.
Ich sah mich nach Gegenständen um, die ich als Wasserbehälter benutzen konnte. Ich hatte zwei Quart* Motoröl dabei, die ich möglicherweise am Straßenrand würde opfern müssen – dies wäre nur eine in einer Reihe von Umweltsünden gewesen, die ich im Lauf von sechs Jahren begangen hatte, wenn ich mich mit kaputten alten Autos herumschlug. Und dann war da noch ein großer stählerner Suppentopf, den ich bei Surf-Ausflügen als behelfsmäßigen Barbecue-Behälter für Lagerfeuer auf den Klippen verwendete.
* Angloamerikanisches Volumenmaß für Flüssigkeiten. 1 Quart entspricht etwa 0,95 Litern. (A. d. Ü.)
Aber wo sollte ich das Wasser herbekommen? Die Nacht war rabenschwarz. Ich war seit etwa 25 Kilometern an keiner Ausfahrt vorbeigekommen und hatte auch noch kein Schild gesehen, das die nächste Ausfahrt angekündigt hätte. Ich musste mich irgendwo nahe der Grenze zwischen dem Monterey County und dem San Luis Obispo County befinden, also im Herzen des ländlichen Zentralkalifornien. Hier gab es Rinder, Salat, Erdbeeren und Knoblauch. Es war eine mondlose Nacht, ich konnte nicht mal meine Füße am Boden sehen. Aber in östlicher Richtung erkannte ich in der Ferne ein Licht; alles, was zwischen mir und diesem Licht lag, war unsichtbar. Es war kein einladendes Licht: Seine Farbe wirkte eher industriell kalt, nicht kommerziell. Diese Lampe beleuchtete keine Veranda.
Ich klaubte meine Behälter zusammen, überquerte den Highway und kraxelte blind die Böschung hinunter. Das sandige Gelände war mit den würzig duftenden Büschen übersät, die für das Hinterland der Küste charakteristisch sind. Ich überquerte ein flaches, relativ ebenes Gelände, das wie ein ausgetrocknetes Flussbett wirkte. Wann immer ich das Licht aus den Augen verlor, konnte ich die Richtung nur anhand meiner Vermutung bestimmen, dass das Auf und Ab des Geländes parallel zur Autobahn verlief. Mehrfach stürzte ich in abrupt abfallende, etwas mehr als einen halben Meter tiefe Gräben, die anscheinend künstlich angelegt worden waren.
Schließlich erreichte ich eine zweispurige Straße und konnte den Ursprung des grellen weißen Lichts sehen, meines Polarsterns. Es hing über einem Tor, das der einzige sichtbare Zugang zu einer von einem Maschendrahtzaun umgebenen Anlage mit mehreren rostigen Metallgebäuden war. Es war ein wehrhafter Zaun, vielleicht drei Meter hoch und an der Krone nach außen gebogen. Ich suchte den von der Lampe ausgeleuchteten Raum mit den Augen ab, konnte jedoch nirgends einen Wasserhahn oder einen Schlauch erspähen.
Es schien niemand in der Nähe zu sein. Auch wenn da...
Erscheint lt. Verlag | 27.5.2022 |
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Übersetzer | Stephan Gebauer |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Allgemeines / Lexika |
Schlagworte | AI • Auto • Autobahn • Autonomie • BMW • Cabrio • Chevrolet • Computer • Diesel • Fantasie • Ford • Freiheit • Highway • Kontrolle • Konzerne • Mercedes • Opel • Porsche • Regierung • Roboter • Selbstachtung • Selbstständigkeit • Steuerread • Toyota • Uber • Volkswagen |
ISBN-10 | 3-8437-2702-3 / 3843727023 |
ISBN-13 | 978-3-8437-2702-0 / 9783843727020 |
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