Den Schmerz der Anderen begreifen (eBook)

Über Erinnerung und Solidarität | Ein Plädoyer für eine empathische Erinnerungskultur
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
288 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2754-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Den Schmerz der Anderen begreifen -  Charlotte Wiedemann
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Orientierung und Ermutigung zum Handeln: Wege zu einer neuen Gedenkkultur In einem Moment, in dem hitzige Feuilleton-Debatten den Eindruck erwecken, es ginge um einen kurzlebigen Positionsstreit, stellt Charlotte Wiedemann klar: Was wir erleben, ist eine Zeitenwende - wir müssen unsere Haltung zur deutschen Geschichte aus einer kosmopolitischen Perspektive neu begründen. Das heißt: nicht-europäische, nicht-westliche Sichtweisen ebenso einbeziehen wie die Ansprüche einer jungen, diversen Generation in Deutschland. Wie lässt sich in Zukunft an den Holocaust und an die kolonialen Verbrechen erinnern? Globalhistorisch fundiert und persönlich zugleich denkt Charlotte Wiedemann die Idee des Antifaschismus neu und entwirft ein empathisches Gedenkkonzept für unsere Zeit.

Charlotte Wiedemann, geboren 1954, ist freie Auslandsreporterin, ihre Beiträge erschienen u.a. in Geo, Die Zeit, Neue Zürcher Zeitung, Merian und Le Monde Diplomatique. Sie gehört dem Wissenschaftlichen Beirat des Zentrums Moderner Orient in Berlin an und hält Vorträge zu interkulturellen Themen und zur Erinnerungskultur. Sie ist Kolumnistin der taz und hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, zuletzt erschien Der lange Abschied von der weißen Dominanz (2019).  

Charlotte Wiedemann, geboren 1954, ist freie Auslandsreporterin, ihre Beiträge erschienen u.a. in Geo, Die Zeit, Neue Zürcher Zeitung, Merian und Le Monde Diplomatique. Sie gehört dem Wissenschaftlichen Beirat des Zentrums Moderner Orient in Berlin an und hält Vorträge zu interkulturellen Themen und zur Erinnerungskultur. Sie ist Kolumnistin der taz und hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, zuletzt erschien Der lange Abschied von der weißen Dominanz (2019).  

Nürnberg und die Grenzen des Universalismus


Nürnberg. Mit dem Namen dieser Stadt verbindet sich ein dunkler und heller Klang. Das Dunkle ist die Erinnerung daran, dass der Nationalsozialismus kein Regime, sondern ein Gesellschaftssystem war – Reichsparteitag, Rassegesetze. Der helle Klang wird durch die Nürnberger Prozesse aufgerufen, das Internationale Militärtribunal zur Aburteilung der Haupttäter des NS-Systems.

Aber da ist noch etwas, ein Schattenwurf, groß fällt er ins Bild und wird doch selten gesehen. Zwischen 1945 und 1949, während jener vier Nachkriegsjahre, da das Militärtribunal und die Nachfolgeprozesse in Nürnberg tagen, begehen europäische Staaten an der Zivilbevölkerung ihrer Kolonien Verbrechen, die nach den Kriterien des Nürnberger Statuts gleichfalls Crimes against Humanity sind: »Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportation oder andere unmenschliche Handlungen …«

In jenem Moment, da im Anblick der nationalsozialistischen Vernichtungsstätten eine neue universelle Ethik beschworen wird, erhebt sich auf mindestens drei kolonialen Schauplätzen ein Crescendo der Gewalt. Was in Malaya (britisch), Indonesien (niederländisch) und – just am emblematischen Tag des Kriegsendes – im französisch beherrschten Algerien geschieht, müsste nach heutigen Maßstäben vor dem Internationalen Strafgerichtshof angeklagt werden. In allen drei Ländern hat die Gewalt ein gemeinsames Gesicht: Es gilt, das Streben nach Freiheit und Souveränität zu ersticken. Eine Stunde null der Selbstbestimmung, die sich in den Erwartungen der betroffenen Völker mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs verbindet, darf es nicht geben – noch nicht.

Dieselben Mächte, die nach dem Sieg über den Nationalsozialismus schwören, alle Menschen gleich und würdig zu behandeln – wie es die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zum Ausdruck bringen wird –, schließen einen großen Teil der Menschheit von der Universalität der Rechte begründungslos aus. Das sich entwickelnde neue Völkerrecht findet für die Taten von Europäern außerhalb Europas keine Anwendung. Es gibt für die Kolonien weiterhin eine andere Moral, eine andere Ethik, und die Erfahrung des Nationalsozialismus, der Shoah hat daran nichts geändert.

Der Verrat an den Erwartungen des globalen Südens zu einem historisch hoch bedeutsamen Zeitpunkt hallt bis heute nach, und die leidvollen Erfahrungen, die damit verbunden sind, haben sich direkt oder indirekt auch in außereuropäische, nichtwestliche Betrachtungen der Shoah eingeschrieben – in die Debatte also, wie sich die Vernichtung der Juden und Jüdinnen zu den Erfahrungen des Südens mit europäischer Gewalt verhält.

Gehen wir deshalb zurück an diese Nahtstelle der Zeitgeschichte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Dessen globale Komplexität hatte für die europäischen Kolonien in Südostasien japanische Besatzung bedeutet; sie ging mit Folter und Mord einher, aber sie befeuerte mit der Parole »Asien den Asiaten« zugleich einen bereits schwelenden Freiheitsdrang.

In British Malaya (heute Malaysia) hatten die Briten während des Kriegs eine Guerilla aus den Reihen der chinesischen Minderheit für den Untergrundkampf gegen die japanischen Besatzer bewaffnet. Das bot sich gewissermaßen an, denn Chines:innen hatten unter den Japanern besonders zu leiden. Nach Japans Niederlage gaben die kommunistisch eingestellten Guerilleros ihre Waffen nicht ab, sondern richteten sie gegen die zurückkehrenden Briten. Ihr Anführer, ein Mann namens Chin Peng, dem der Alliierte Oberkommandeur Admiral Mountbatten zuvor höchstpersönlich eine Verdienstmedaille an die Brust geheftet hatte, galt nun als gemeingefährlicher Outlaw. Wer möchte, erkennt hier einen Vorgriff auf die Wandlung vom Freund zum Feind der amerikanisch geförderten Mujahedin gegen die sowjetische Besetzung Afghanistans, aus denen dann die Taliban wurden, der Geist, der nicht mehr in die Flasche zurückwill.

Großbritannien verhängte auf der Halbinsel Malaya für mehr als ein Jahrzehnt den Ausnahmezustand. Soldaten brannten Dörfer nieder, deren Bewohner:innen verdächtigt wurden, den Unabhängigkeitskämpfern Essen zu liefern, zwangen zum Zweck der Überwachung einige Hunderttausend Zivilist:innen in eingezäunte Siedlungen und verwendeten bei der Jagd auf die Guerilla chemische Entlaubungsmittel, dies wiederum ein Vorgriff auf Methoden im Vietnamkrieg.

Aufgrund einer jahrelangen, hartnäckigen Kampagne von Hinterbliebenen ist ein Dorfmassaker exemplarisch in Erinnerung; es hat den Ortsnamen Batang Kali in Teilen der britischen Öffentlichkeit zum Begriff gemacht. Die Plantagenarbeiter von Batang Kali wurden im Dezember 1948 exekutiert, und bis heute verweigert London den Familien der Opfer eine Entschuldigung. Die Angehörigen wandten sich hilfsweise an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und wurden mit der Begründung abgewiesen, die Menschenrechtscharta der EU habe noch nicht existiert, als die Männer von Batang Kali erschossen wurden.

Die Leidtragenden von Kolonialverbrechen haben nach dieser Logik einfach zu früh gelebt, sie hatten Leben zur falschen Zeit, und darum konnten sie es folgenlos verlieren.

Britische Soldaten schreckten in Malaya nicht davor zurück, sich mit abgetrennten Köpfen von Exekutierten fotografieren zu lassen. Das Foto ist auf der Website einer britischen Zeitung heute noch abrufbar, seine Veröffentlichung diente bereits damals der antikolonialen Anklage. Als Beweis für Verbrechen scheint seine Publikation berechtigt, aber nachdem ich das Bild betrachtet hatte, wünschte ich mir, ich hätte es nicht getan. Das Betrachten übertritt eine Schamgrenze, verletzt erneut das Menschsein von derart ausgestellten Opfern. Dies ist nicht der einzige Fall, wo die Notwendigkeit der Dokumentation und das Gebot des Respekts ausgehandelt und in eine Balance gebracht werden müssen.

Was in Malaya geschah, hatte ein Vorher und ein Nachher, es knüpfte mit den eingezäunten Lagerdörfern an die Concentration Camps an, welche die Briten unter dieser Bezeichnung erstmals im südlichen Afrika einführten, und es warf seinen Schatten voraus auf die exzessive Gewalt, mit der Großbritannien ab 1952 gegen Freiheitskämpfer und -kämpferinnen in Kenia vorging. Auch deren Kampf um Entschädigung zieht sich bis in die jüngste Gegenwart.

In Indonesien stießen die Niederländer ebenfalls auf Widerstand, als sie nach dem Ende der japanischen Besatzung glaubten, die alten Verhältnisse wieder ins Recht setzen zu können. Wie es ein Staat, der sich zuvor der nationalsozialistischen Eroberung schnell gefügt hatte, mit der Freiheit der anderen hielt, fasste der israelische Historiker Yuval Noah Harari in folgenden Aphorismus: »Während die Niederländer ihre eigene Unabhängigkeit 1940 nach kaum mehr als viertägigem Kampf aufgegeben hatten, kämpften sie mehr als vier lange und bittere Jahre, um die indonesischen Unabhängigkeitsbestrebungen zu unterdrücken.«7

1947, als in Amsterdam unter dem Titel Het Achterhuis, Das Hinterhaus, die erste Ausgabe der Tagebücher von Anne Frank erschien, nahmen niederländische Soldaten in der Kolonie den Kindern ganzer Dörfer die Väter.

An einem Dezembermorgen jenes Jahres erschien im Dorf Rawagede auf Java, kaum hundert Kilometer von Jakarta entfernt, eine Einheit, die nach einem bekannten Unabhängigkeitskämpfer fahndete. Als die Männer des Dorfes, sie waren Reisbauern, auf die Fragen der Soldaten keine Antwort gaben, sei es aus Solidarität mit dem Gesuchten oder weil sie sein Versteck nicht kannten, wurde ihnen befohlen, sich in Reihen aufzustellen, es waren mehrere Hundert Männer, und sie wurden allesamt erschossen. Eine junge Witwe berichtete später, wie Ehefrauen, Mütter und gebrechliche Alte, die der Exekution entgangen waren, aus den Leichenbergen ihre Liebsten hervorzogen und sie bestatteten.

Die Kinder des Dorfes waren Zeugen von all dem, trugen die traumatischen Bilder mit sich für den Rest des Lebens.

Obwohl bereits im darauffolgenden Jahr ein Bericht der Vereinten Nationen das Geschehen in Rawadege verurteilte, wurden die beteiligten Soldaten in den Niederlanden nie zur Rechenschaft gezogen. Viele Jahre vergingen, und dann geschah etwas, das neuerdings auf vielen Schauplätzen des globalen Südens geschieht: Communities ebenso wie Einzelne werden sich einer Unerträglichkeit bewusst, wie lange sie sich nämlich in Geduld geübt haben, ob das nun geraubtes Kulturerbe betrifft, entwendete Schädel oder die Erinnerung an große Schmerzen.

Mit diesem Rückenwind veränderter Zeitumstände, der auch im westlichen Java spürbar ist, entschlossen sich neun Witwen aus Rawagede im hohen Alter zur Klage in Den Haag. Wieder verging Zeit, und dann erschien eines Tages, erneut im Dezember, der örtliche Botschafter in Rawagede und entschuldigte sich für die Tragödie, wie er es formulierte. Ein Gerichtsurteil hatte die Regierung zu dieser Geste gezwungen, und weil es ein Akt der Pflicht, nicht der Überzeugung war, wollte aus den Ministerien in Den Haag niemand die weite Reise nach Java auf sich nehmen. Es sind solche Details, die feinen...

Erscheint lt. Verlag 27.5.2022
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Geschichte Allgemeine Geschichte 1918 bis 1945
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Afrika • Ausbeutung • Erinnerungskultur • Globaler Süden • Holocaust • Identität • Imperialismus • Kolonialismus • Konzentrationslager • Nationalsozialismus • Rassismus • Singularität • Sklaverei • Vergangenheitsaufarbeitung • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-8437-2754-6 / 3843727546
ISBN-13 978-3-8437-2754-9 / 9783843727549
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