Bindungsstörungen (eBook)

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2021 | 1. Auflage
179 Seiten
Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG
978-3-8444-2732-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Bindungsstörungen -  Margarete Bolten,  Christian Günter Schanz,  Monika Equit
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Das Konstrukt der Bindungssto?rungen umfasst laut den gängigen Klassifikationssystemen eine heterogene Gruppe von Auffälligkeiten der sozialen Funktionen und des Beziehungsverhaltens bei Kindern. Diese entwickeln sich als Folge länger anhaltender vernachlässigender Umgebungsbedingungen, zu denen u.a. Vernachlässigung, Misshandlung oder auch ein häufiger Wechsel der Bezugspersonen gehört. Damit unterscheiden sich die Bindungsstörungen insofern von anderen Störungen, dass bereits in der klassifikatorischen Definition ein ätiologischer Faktor enthalten ist. Der Leitfaden stellt praxisorientiert das diagnostische und therapeutische Vorgehen bei Bindungsstörungen im Kindesalter dar. Aufbauend auf dem aktuellen Stand der Forschung werden Leitlinien zur Diagnostik, Verlaufskontrolle, Behandlungsindikation und Therapie dieser Störungen formuliert und ihre Umsetzung in die klinische Praxis dargestellt. Durch die Bereitstellung zahlreicher Materialien für den diagnostischen und therapeutischen Prozess, inkl. der Arbeit mit Eltern, sowie unterschiedlicher Fallbeispiele soll die Umsetzung der Leitlinien im klinischen Alltag erleichtert werden.

|1|1  Stand der Forschung


1.1  Klinische Bindungsforschung: Von den Anfängen bis zur Gegenwart


In diesem ersten Kapitel werden die Meilensteine der Klinischen Bindungsforschung ab den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts skizziert, die wesentlich zum heutigen Wissensstand beigetragen haben, welcher in den nachfolgenden Kapiteln detailliert dargestellt wird.

Säuglinge kommen mit einem angeborenen Bedürfnis nach Schutz durch soziale und emotionale Nähe zur Welt. Eine fürsorgliche und liebevolle Beziehung ist zentral für die gesunde Entwicklung von Kindern, denn im Rahmen der Interaktionen mit den Hauptbezugspersonen entwickeln sich emotionale und soziale Kompetenzen. Die Folgen einer gestörten Mutter-Kind-Beziehung bzw. eines Aufwachsens in Betreuungssystemen, die durch ein hohes Maß an Diskontinuität und einen Mangel an emotionaler Zuwendung geprägt waren, wurden erstmals von Spitz (1945) untersucht. Spitz beschrieb die resultierenden Verhaltensauffälligkeiten anhand dreier Phasen, von denen die erste durch anhaltendes Weinen und Schreien, die zweite durch Rückzug und die dritte durch Aufgabe mit Verlust der Lebensfreude gekennzeichnet sei. Er bezeichnete die Verhaltensauffälligkeiten als „anaklitische“ (von altgriechisch anaklīnein – sich anlehnen) Depression bzw. bei sehr langer andauernder Deprivation als „psychogenen Hospitalismus“.

Der Begriff der „Bindung“ geht auf die Arbeiten des britischen Arztes, Kinderpsychiaters und Psychoanalytikers Bowlby zurück. Bowlby legte in den 1950er Jahren den Grundstein für die Entwicklung der Bindungstheorie, als er im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die psychische Gesundheit von obdachlosen Kindern im Nachkriegseuropa und die Zustände in Kinderheimen und Erziehungsanstalten untersuchte (Bowlby, 1951). Da vorangegangene psychoanalytische und behavioristische Ansätze in ihrem Erklärungsgehalt nicht ausreichend waren, um die heterogenen Verhaltensreaktionen der untersuchten Kinder zu erklären, formulierte Bowlby in seinem WHO-Bericht erstmals wesentliche Grundannahmen seiner Theorie über die Bindung zwischen Bezugspersonen und ihren Kindern.

Wegweisende empirische Befunde zum Bindungsverhalten stammten in den Sechzigern von dem Primatenforscher Harlow und in den Siebzigern von Ainsworth, welche nach ihrer Promotion in Bowlbys Arbeitsgruppe mitwirkte. In einer Reihe von Experimenten wies Harlow nach, dass ein isoliertes Aufwachsen bei jungen Rhesusaffen zu schwerwiegenden Verhaltensauffälligkeiten sowie einem verringerten Explorations- und Spielverhalten führt (Harlow, Dodsworth & Harlow, 1965a). Ainsworth unter|2|suchte das Verhalten von Kleinkindern mittels des von ihr entwickelten Fremde-Situations-Tests (FST), welcher als standardisiertes Laborparadigma die Reaktionen von Kleinkindern auf Trennungen und Wiedervereinigungen mit ihrer primären Bezugsperson untersucht (Ainsworth, Blehar, Waters & Wall, 1978; Ainsworth & Witting, 1969). Aufbauend auf diesen Befunden konnte das Explorationsverhalten als wesentlicher Bestandteil in die Bindungstheorie integriert werden.

Das Wechselspiel aus Bindungs- und Explorationsverhalten ist entscheidend von einer feinfühligen und sensitiven Interaktion zwischen Bezugsperson und Kind abhängig. Die Bedeutsamkeit dieser feinfühligen Reziprozität wurde seit dem Ende der siebziger Jahre mit dem sogenannten „Still-face“-Paradigma nachgewiesen (Tronick, Als, Adamson, Wise & Brazelton, 1978). Mithilfe dieses Paradigmas konnte eindrücklich gezeigt werden, dass das elterliche Ignorieren des kindlichen Interaktionsangebots zu Unlust, Protest und deutlichen Anzeichen von Stress beim Kind führt (Mesman, van Ijzendoorn & Bakermans-Kranenburg, 2009). Papousek und Papousek (1986) führten elterliche Defizite in dieser eigentlich biologisch angelegten elterlichen Verhaltensdisposition insbesondere auf psychische Störungen, unzureichende eigene Bindungserfahrungen in der Kindheit, gegenwärtige negative Beziehungserfahrungen, psychosoziale Stressfaktoren oder genetische Prädispositionen und damit assoziierte neurobiologische Veränderungen auf Seiten der Bezugspersonen zurück.

Ab dem Anfang der Zweitausender Jahre wurde die klinische Bindungsforschung entscheidend durch das „Bucharest Early Intervention Project“ geprägt (Zeanah, Fox & Nelson, 2012; Zeanah et al., 2003). Durch eine randomisierte Gruppenzuteilung und ein längsschnittliches Design konnte mit diesem Projekt erstmals auf hohem methodischem Niveau nachgewiesen werden, dass frühkindliche Deprivationserfahrungen durch die Verfügbarkeit eines adäquaten Beziehungsangebots in Teilen kompensiert werden können.

1.2  Bindungsverhalten über die Lebensspanne


Sowohl eine sichere Bindungsbeziehung als auch Explorationsverhalten und Selbstständigkeit sind wesentliche Voraussetzungen für die sozial-interaktive Entwicklung eines Kindes. Einerseits brauchen Kinder Schutz und Sicherheit, andererseits sind sie neugierig und wollen die Welt entdecken. Dabei stellen die Bezugspersonen für das Kind den Ort des Rückzugs und Schutzes, also die sichere Basis, dar. Entsprechend wirkt sich eine sichere Bindungsbeziehung positiv auf die Autonomieentwicklung und das Explorationsverhalten aus, da diese Kinder sich sicher sind, dass sie im Falle einer Bedrohung Schutz von ihren Bezugspersonen erwarten können und diese zuverlässig verfügbar sind (Bowlby, 1997).

|3|Die Bindungsentwicklung vollzieht sich in den ersten sechs Lebensjahren in engem Wechselspiel zwischen der Hirnreifung und den damit verbundenen Kompetenzen (motorisch, sprachlich, kognitiv) einerseits und den Erfahrungen mit den Eltern bzw. den Bezugspersonen andererseits. Menschliche Säuglinge sind von Geburt an auf die Interaktion mit ihren primären Bezugspersonen ausgerichtet. Das Bindungsverhalten konzentriert sich in dieser Altersphase vor allem auf einzelne Bindungspersonen und ist primär durch das Herstellen körperlicher Nähe und emotionaler Entlastung durch Co-Regulation durch die Bindungsperson gekennzeichnet. Menschliche Säuglinge sind davon abhängig, dass sie von ihren Bezugspersonen versorgt werden und diese ihre Bedürfnisse erkennen und feinfühlig beantworten.

Ainsworth (1985) unterschied insgesamt vier Phasen der kindlichen Bindungsentwicklung (vgl. Abbilddung 1): In der „Vorphase“ (Pre-Attachment-Phase) zeigen Säuglinge noch personenunspezifische Bindungsverhaltensweisen, wohingegen sie in der „Differenzierungsphase“ (Attachment-in-the-making) zwischen sechs und acht Monaten, bereits Bindungsbeziehungen zu einer oder mehreren spezifischen Bindungspersonen aufbauen.

In der Phase der „Ausgeprägten Bindung“ (Clear-cut attachment) bildet sich etwa bis zum Alter von drei Jahren eine klare Bindung zu einer oder |4|mehreren Bezugspersonen heraus. Mittels des FST kann hier im Altersbereich von 12 bis 18 Monaten bereits zwischen sicher, unsicher-vermeidend, unsicher-ambivalent und desorganisiert gebundenen Kindern unterschieden werden (vgl. Tabelle 1). Längsschnittstudien zeigten zwar, dass es eine gewisse Stabilität von Bindungsstilen gibt (Main, Hesse & Kaplan, 2005; Sroufe, Egeland, Carlson & Collins, 2005), jedoch auch Diskontinuitäten auftreten, wenn es zu deutlichen Veränderungen in der Beziehungsgestaltung zwischen Bindungspersonen und dem Kind kommt. Ein einmal erworbenes Bindungsmuster bleibt daher nicht zwangsläufig bis ins hohe Alter stabil. So können bestimmte Lebensereignisse, wie z. B. längere Trennungen, schwere Erkrankungen oder Todesfälle von Bezugspersonen, die Bindung ebenso beeinflussen wie neue Beziehungserfahrungen.

Die „Phase der zielorientierten Partnerschaft“ (goal directed partnership) beginnt zwischen dem 2. und 3. Lebensjahr. Ab dieser Phase beginnen die Kinder sich in Gedanken, Gefühle und Ziele der Bezugsperson hineinzuversetzen. Dies ermöglicht es dem Kind, neben den eigenen Bedürfnissen, auch die Bedürfnisse des Gegenübers zu berücksichtigen und somit mit der Bindungsperson in Verhandlung zu treten. Dadurch ist es Kindern möglich, Trennungen auf Zeit (z. B. Kindergartenbesuch) besser zu akzeptieren. Sie nutzen hierfür u. a. die inzwischen gereifteren Kompetenzen zur Selbstregulation und zur Abschätzung einer bestimmten Zeitdauer. Entsprechend brauchen Kinder im Vorschulalter nicht mehr durchgängig die...

Erscheint lt. Verlag 11.10.2021
Reihe/Serie Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie
Verlagsort Göttingen
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie
Schlagworte Beziehungsverhalten • Bezugsperson • Bindungsforschung • Bindungsqualität • Bindungsstörung • Bindungsverhalten • DC: 0-5 • Deprivationsstörung • Deprivierende Lebensbedingungen • DSM-5 • Elternarbeit • Eltern-Kind-Interaktion • ICD-10 • Interaktionsverhalten • Kind • Kinderpsychotherapie • Kinder- und Jugendpsychiatrie • Kindes- und Jugendalter • Kindeswohlgefährdung • Misshandlungsstörung • Psychoedukation • Reaktive Bindungsstörungen • Verhaltenstherapie • Vernachlässigung
ISBN-10 3-8444-2732-5 / 3844427325
ISBN-13 978-3-8444-2732-5 / 9783844427325
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