Existenzielle Perspektiven in der Psychotraumatologie (Leben Lernen, Bd. 329) (eBook)
294 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11690-8 (ISBN)
Dr. med. Helmut Rießbeck ist Allgemeinarzt, Internist, Arzt für Psychotherapie und Psychotraumatologie und in eigener Praxis in Schwabach tätig; er ist außerdem Vorsitzender des Traumahilfezentrums in Nürnberg.
Dr. med. Helmut Rießbeck ist Allgemeinarzt, Internist, Arzt für Psychotherapie und Psychotraumatologie und in eigener Praxis in Schwabach tätig; er ist außerdem Vorsitzender des Traumahilfezentrums in Nürnberg.
Einführung
Die klinische Psychotraumatologie hat in den letzten 20 Jahren bemerkenswerte Fortschritte gemacht, in der neurobiologischen Fundierung, aber auch was das klinisch praktische Handwerkszeug angeht. Eine Reihe von Methoden und Techniken sind auch validiert worden. Das Spektrum von Methoden lässt inzwischen wenige Wünsche offen, aber dies hat auch den Blick der Kliniker verengt. Gerade die unbestreitbaren Erfolge könnten dazu führen, dass sich der Blick auf die betroffenen Einzelnen und ihr Schicksal verstellt. Wie in anderen klinischen Disziplinen haben wir eine Fülle von Befunden und Ergebnissen über kurzfristige Interventionen und ihre Erfolge. Gerade aber bei Menschen mit komplexeren Beeinträchtigungen wird sichtbar, dass es im Umgang mit den Lebens- und Entwicklungsschwierigkeiten um mehr geht. Damit stellt sich die Frage, woran Menschen vor allem leiden, gerade in der Psychotraumatologie nochmals neu.
Konzentrierte sich die Psychoanalyse auf unbewusste Phantasien und auf Schwierigkeiten von Menschen, mit Triebregungen und Impulsen umzugehen, so eröffnete sie damit einige neue Sichtweisen, die auch für traumatische Erschütterungen relevant sind, aber sie ignoriert im hohen Maße, wie Menschen unter den realen Lebensbedingungen, sozialen Zumutungen, Überforderungen und unmittelbaren Erschütterungen in die Knie gehen. Die Verhaltenstherapie hat die psychotherapeutischen Möglichkeiten bereichert, indem sie die Verzerrungen durch Fehlwahrnehmung und Fehllernen klinisch zugänglich machte. Theorie und Praxis der Hypnotherapie richteten den Blick auf das unwillkürliche Handeln und die unterschwelligen Kommunikationsmuster. Mir scheint aber, dass der Mensch sowohl als Einzelner wie auch in Gruppen und Gemeinschaften, der in den Auseinandersetzungen mit seinen Lebensbedingungen und Schicksalsschlägen steht, dabei in den Hintergrund gerückt ist.
Dies ist der Grund, ein Buch zu schreiben, welches dazu beiträgt, eine neue Verbindung zu schaffen zwischen der existentiellen Psychotherapie und dem, was in den letzten 30 bis 40 Jahren in der Psychotraumatologie neu erarbeitet wurde.
Yalom formulierte es so: »Die existentielle Position hebt eine andere Art von Grundkonflikt hervor: Weder einen Konflikt mit unterdrückten instinkthaften Antrieben noch einen mit internalisierten bedeutsamen Erwachsenen, sondern stattdessen einen Konflikt, der aus der Konfrontation des Individuums mit den Gegebenheiten der Existenz hervorgeht« (Yalom, 2000, S. 18). Die von ihm, Viktor Frankl, Rollo May und anderen Vertretern des psychotherapeutischen Existentialismus ins Leben gerufene Schule hat die allgemeine Psychotherapie vor allem in den 80er-Jahren sehr bereichert, ist aber mit der Zunahme neurobiologischer Zentrierung ziemlich in den Hintergrund gerückt. Aus dem Alltagsverständnis heraus möchte man traumatische Erschütterung mit existentieller Betroffenheit nahezu gleichsetzen. Es ist erstaunlich zu sehen, wie wenig diese Ansätze in dem Bereich, der eigentlich prädestiniert ist für den existentiellen Blickwinkel, Fuß gefasst haben.
In der Anfangsphase meiner Begegnungen mit traumatisch erschütterten Menschen war ich zeitweise fast euphorisiert von den Möglichkeiten, so lange unverrückbar scheinende Beeinträchtigungen beeinflussen zu können, und ich weiß, vielen KollegInnen ging es ebenso. Wir waren auf der Suche nach immer mehr, schneller und umfassender wirkenden Interventionen. Begriffe wie »Schicksal«, »Demut« oder »Hinnehmen müssen« kamen in dieser Betrachtungsweise nicht mehr vor. Die Trauma-fokussierten Therapieansätze standen natürlich unter einem erheblichen Legitimationsdruck, suchten sie doch zu beweisen, sowohl eigenständig als auch innovativ zu sein und in ihrem Feld das, was die Richtlinienverfahren anboten, erheblich zu erweitern oder manchmal sogar deren Annahmen auf den Kopf zu stellen. In vieler Hinsicht führte und führt dies zu noch weiter zunehmenden mechanistischen Vorstellungen, eine Schattenseite des neurobiologischen Blickwinkels.
So sehe ich diesen Bereich in der gleichen Gefahr wie die Landwirtschaft in meiner fränkischen Alltagsumgebung. Es wird Mais angebaut, überall und immer wieder Mais. Der Ertrag ist hoch, die Effizienz auch. Wildschweinherden werden immer größer gemästet und die Pflanze ist ein äußerst guter Energielieferant für die zahlreichen Biogasanlagen. Doch die Vielfalt und Schönheit der Landschaft geht verloren, langfristig drohen Versteppung und Unfruchtbarkeit. Ähnliches droht der bis jetzt noch recht vielfältigen und lebendigen Psychotraumatherapie.
Die annehmende Haltung dem Schicksal gegenüber, in welches der Mensch und seine Mitwelt geworfen wird, ist für die Orientierung an der Würde des Einzelnen unverzichtbar. Sie lässt uns auch besser verstehen und nachvollziehen, wie Menschen, die mit schweren Erschütterungen konfrontiert sind, sich von der Last nicht mehr befreien können, die Beziehung zu sich selbst verlieren und oftmals sich selbst aufgeben.
Die Fokussierung der Psychotraumatologie auf manualisierte Techniken würde zu einer ähnlichen Versteppung führen. Viele Psychotherapeuten verfügen über eine große Bandbreite an verschiedenen Herangehensweisen, Methoden und Techniken i. S. des multimethodalen Arbeitens. Doch das löst die Schwierigkeiten nur zum kleinen Teil. Es ist schon lebendiger, wenn statt Mais auf einem Feld eine Saatenmischung angebaut wird. Die Zweckorientierung – das angebaute Gut einfach zur Energiegewinnung zu vergären – bleibt damit aber bestehen. Viele Trauma-bezogene Methoden und therapeutischen Ansätze führen zu einer besseren Anpassung und Funktionsfähigkeit im Alltag. Aber sie beinhalten für die Betroffenen oft nicht die Wiedergewinnung von Lebendigkeit in der Beziehung zu sich selbst und anderen. Wenn Beratung und Psychotherapie die existentiellen Blickwinkel zum Gegenstand der Arbeit machen, wird der Prozess auf den ersten Blick komplizierter. Die Person des Therapeuten spielt eine viel größere Rolle, insbesondere auch sein eigener Umgang mit Belastungserfahrungen. Die Therapien finden mehr auf Augenhöhe statt, wenngleich natürlich nicht Therapien auf Gegenseitigkeit wie bei Sándor Ferenczis mutueller Therapie (Thomä, 2001, S. 263–270). Sie werden damit manchmal aber auch anstrengender, was die Regulation von Nähe und Distanz betrifft. Doch was würde passieren, wenn die existentielle Dimension ausgeklammert bliebe?
Die Folgen, wenn die immer widersprüchliche Lebendigkeit der therapeutischen Begegnung aus dem Fokus geriete, wären erheblich. Menschen mit komplexen Biografien, in denen zahlreiche schwere Belastungserfahrungen auftauchen, würden wir in Beratung und Therapie nicht mehr gerecht werden können. Und dies ist auch meine Hauptthese, die im Rahmen dieses Buches weiter auszuführen sein wird. Die existentielle Dimension des Erlebens der wesentlichen Erschütterungen muss ein wesentliches Zentrum der Therapie sein, sonst kommt es an den Kernpunkten der Arbeit zu Wortlosigkeit, Vermeidungshaltungen und letztlich Kontaktverlust.
Berater und Therapeuten teilen mit den Betroffenen existentieller Erschütterung in einem gewissen Ausmaß Erschrecken und Lähmung, auch wenn sie nicht die Wucht der elementaren Stressreaktionen selbst erleben. Sprache, Bilder, Symbolisierungen für wortlosen Schrecken und gesichtslosen Terror zu finden, geht an die Grenzen menschlichen Vermögens. Daher ist das Ausweichen, das Umgehen, Banalisieren, das, was Ellert Nijenhuis das Prinzip »Ignoranz« nennt, so allgegenwärtig, wenn es um das Existentielle geht.
Wie geht die von Thomas Hensel (2017, S. 112–114) zu Recht geforderte Unerschrockenheit, wenn die Beteiligten den Verwundungen, den heißen Bereichen, reflexhaft auszuweichen suchen? Wenn die Therapeuten selbst mit an den Rand der lebenswerten Welt geraten und den eigenen Halt zu verlieren drohen?
So weit sollte es nicht kommen, aber das ist leicht gesagt. Unsere emotionale Welt ist vielleicht doch eher eine Scheibe, von der wir, anders als bei einer Kugel, ins Bodenlose fallen können. Damit dies nicht geschieht, müssen die Begleiter, Facilitatoren, Therapeuten den Blick über die Abbruchkante für sich selbst unter halbwegs geschützten Bedingungen gemacht haben. Für die Begleiter heißt das, dass sie sich mit den existentiellen eigenen Perspektiven befassen müssen, und wissen, dass sie damit nicht zu Ende kommen können.
Dieses Buch ist ein klinisches und versucht gleichwohl, einen philosophischen Rahmen ähnlich einem Hintergrundbild aufzuspannen. Zu oft hat der Autor erfahren, wie wenig philosophisches Wissen am Abgrund hilft, weiter lebendig zu bleiben. Gerade in der existentiellen Bedrohung kommt es – was wir klar aus...
Erscheint lt. Verlag | 17.11.2021 |
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Reihe/Serie | Hilfe aus eigener Kraft |
Leben lernen | |
Leben Lernen | Leben Lernen |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | Beziehungsfähigkeit • Daseinsfragen • Einsamkeit • existentielle Erschütterung • Existentielle Fragen • Existentielle Psychotherapie • Interventionen Methoden • Irvin Yalom • Isolation • Komplextraumatisierung • Krankheit • Praxisbuch • Psychotraumatologie • Schicksal • Techniken • Tod • Traumatherapie |
ISBN-10 | 3-608-11690-7 / 3608116907 |
ISBN-13 | 978-3-608-11690-8 / 9783608116908 |
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Größe: 3,6 MB
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