Was wir uns erzählen (eBook)
432 Seiten
Siedler Verlag
978-3-641-29029-0 (ISBN)
Eines der 10 besten Sachbücher des Jahres 2021 - New York Times
Nominiert für den National Book Award for Nonfiction (Longlist)
Eines von Barack Obamas Lieblingsbüchern des Jahres 2021
In diesem Buch nimmt Clint Smith uns mit auf eine einzigartige Reise: Er folgt den Spuren des transatlantischen Sklavenhandels von New Orleans bis nach Monticello und zum berüchtigten Angola Prison - historischen Stätten Amerikas, die von der Geschichte der Sklaverei erzählen. Doch die Wahrheit über das dort erlittene Unrecht ist unter vielen Schichten von Legenden und Zuschreibungen verschüttet. Poetisch und brillant führt uns Smith vor Augen, wie eng alltägliche Orte, Feiertage und sogar ganze Stadtteile bis heute mit diesem gewaltsamen Kapitel der amerikanischen Geschichte verflochten sind und so noch immer die Gegenwart prägen.
»Smith zwingt uns, zu überdenken, was wir über die amerikanische Geschichte zu wissen glauben.« TIME
»Wir brauchen dieses Buch.« Ibram X. Kendi, Autor von How to Be an Anti-Racist
»Ein brillantes, wichtiges Werk über ?ein Verbrechen, das noch immer stattfindet?« Kirkus
Clint Smith, geboren 1988, ist ein amerikanischer Autor, Dichter und Dozent aus New Orleans. Er studierte Englisch und Bildungswissenschaften am Davidson College und an der Harvard University. Smith arbeitet als Journalist für The Atlantic und unterrichtet außerdem englische Literatur in einem Gefängnis in Washington. Seine Essays, Gedichte und Texte wurden bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und sind unter anderem in The New Yorker, The New York Times Magazine, The Paris Review und The Harvard Educational Review erschienen. Smiths erstes Buch, der Gedichtband »Counting Descent«, wurde 2016 in den USA veröffentlicht und 2017 mit dem Literary Award for Best Poetry Book der Black Caucus of the American Library Association ausgezeichnet. Clint Smith ist National Poetry Slam Champion des Jahres 2014 und wurde 2018 auf die »Forbes 30 Under 30«-Liste gewählt. Seine beiden TED-Talks The Danger of Silence und How to Raise a Black Son in America wurden bisher über 7 Millionen mal gesehen.
»Die ganze Stadt ist ein Denkmal der Sklaverei«
Prolog
Der Himmel überspannte den Mississippi wie eine Melodie. An diesem windstillen Nachmittag strömte der Fluss ruhig dahin. Sein Wasser war gelblich-braun von den Sedimenten, die er auf seinem Tausende Meilen langen Weg nach Süden, durch Ackerland, Städte und Vororte, mit sich trug. In der Dämmerung flackerten die Lichter der Crescent City Connection, zweier Auslegerbrücken über den Fluss, die das westliche Ufer New Orleans’ mit dem östlichen verbinden. Phosphoreszierende Lampen schmückten die Stahlträger wie eine Versammlung von Glühwürmchen auf den Rücken von zwei mächtigen, reglosen Kreaturen. Ein Schleppkahn war auf dem Weg flussabwärts und zog ein Riesenschiff hinter sich her. Die Geräusche aus dem French Quarter direkt hinter mir pulsierten über den gepflasterten Gehweg weiter unten. Eine Pop-up-Brassband schmetterte in die frühabendliche Luft. Die Klänge von Trompeten, Tubas und Posaunen mischten sich mit den Geräuschen einer sich sammelnden Menge. Ein junger Mann trommelte auf umgedrehten Plastikeimern, flink und geschickt bewegten sich die Trommelstöcke in seinen Händen. Leute traten zum Fotografieren ans Flussufer. Sie hofften wohl auf ein Bild von sich selbst inmitten eines erkennbaren Stücks der für New Orleans so typischen Ikonografie.
Nachdem der transatlantische Sklavenhandel 1808 verboten worden war, transportierte man etwa eine Million Menschen vom oberen in den unteren Süden. Mehr als hunderttausend von ihnen wurden über den Mississippi transportiert und in New Orleans verkauft.
Leon A. Waters kam und stellte sich neben mir an den Fluss. Die Hände in den Hosentaschen, die Lippen zusammengepresst blickte er über die leichte Biegung des Mississippi zwischen den beiden Ufern der Stadt. Er war mir von einer Gruppe junger Schwarzer Aktivistinnen und Aktivisten in New Orleans vorgestellt worden, die Teil der Organisation »Take ’Em Down NOLA« waren.1 Deren selbst gestecktes Ziel ist »die Entfernung ALLER Symbole weißer Vorherrschaft in New Orleans, als Teil einer breiteren Anstrengung für ethnische & ökonomische Gerechtigkeit«. Waters war ein Mentor vieler Mitglieder dieser Gruppe – sie betrachten ihn als eine Art Elder Statesman ihrer Bewegung und schreiben ihm eine zentrale Rolle in ihrer politischen Bildung zu.
Ende sechzig und mit grau meliertem Schnurrbart, trug Waters ein schwarzes Sakko über einem grau-weiß gestreiften Hemd, dessen obersten Knopf er offen gelassen hatte. Eine dunkelblaue Krawatte hing locker um den offenen Kragen und über den Bund seiner verwaschenen Jeans. Eine rechteckige Brille mit dünnem Gestell saß ziemlich weit oben auf seinem Nasenrücken. Auf dem linken Glas war in der unteren Ecke ein schwacher Fleck zu erkennen. Seine Stimme war tief und monoton. Man könnte Waters fälschlicherweise für mürrisch halten, doch seine Art spiegelt einfach nur wider, wie ernst er das Thema nimmt, das er oft diskutiert: die Sklaverei.
Wir standen vor einer Plakette, die kürzlich das »New Orleans Committee to Erect Historic Markers on the Slave Trade« angebracht hatte, um die Rolle Louisianas im transatlantischen Sklavenhandel zu erläutern. »Sie erfüllt ihren Zweck«, meinte Waters zu der Gedenktafel. »Den ganzen Tag über kommen Leute vorbei, bleiben stehen, lesen, machen Fotos … Es ist auch ein Weg, um Leute darüber aufzuklären.«
In den letzten Jahren hat man begonnen, solche Schilder in der Stadt aufzustellen, die jeweils den Bezug einer bestimmten Gegend zur Versklavung dokumentieren. Das Ganze ist Teil einer größeren Auseinandersetzung. Nachdem jahrelang Schwarze Menschen von der Polizei getötet wurden und ihr Sterben mittels Videos in die ganze Welt übertragen wurde, nachdem ein weißer Supremacist in eine Schwarze Kirche in Charleston, South Carolina, stürmte und dort neun Menschen tötete, die gerade beteten, nachdem Neonazis durch Charlottesville, Virginia, marschierten, um eine Konföderierten-Statue zu schützen, und eine auf Lügen basierende Geschichte reklamierten, nachdem George Floyd durch einen auf seinem Hals knienden Polizisten ermordet worden war, da begannen Städte im ganzen Land, sich genauer mit der Geschichte auseinanderzusetzen, die solche Momente möglich machte. – Eine Geschichte, die viele bis dahin nicht anerkennen wollten. Für Waters, der sich als Heimatforscher und Revolutionär versteht, war das kein Neuland. Er und Gleichgesinnte arbeiteten jahrelang dafür, das Erbe der Unterdrückung in der Stadt – und darüber hinaus im ganzen Land – zu beleuchten.
Erst kürzlich, nach jahrzehntelangem Druck von Aktivistinnen und Aktivisten und im Rahmen einer breiteren Bewegung auf nationaler Ebene, haben offizielle Vertreter der Stadt begonnen zuzuhören. Oder vielleicht haben sie endlich das Gefühl, über das nötige politische Kapital zu verfügen, um aktiv zu werden. Jedenfalls entfernte New Orleans 2017 vier Statuen und Denkmäler, die, wie man befunden hatte, dem Vermächtnis der White Supremacy, der weißen Vorherrschaft und Überlegenheit, Tribut zollten. Die Stadt beseitigte Denkmäler von Robert E. Lee, Sklavenhalter und General der erfolgreichsten Armee der Konföderierten im Civil War, von Jefferson Davis, Sklavenhalter sowie erster und einziger Präsident der Konföderierten, P.G.T. Beauregard, Sklavenhalter und General der Konföderierten-Armee, der die ersten Schüsse im Bürgerkrieg anordnete, sowie ein Monument, das an die Schlacht am Liberty Place 1874 erinnerte. Damals versuchten White Supremacists während der Phase der Reconstruction, als die abtrünnigen Südstaaten wieder in die Union eingegliedert wurden, die etablierte Regierung im Bundesstaat Louisiana zu stürzen. Diese Denkmäler sind jetzt weg, aber mindestens hundert Straßen, Statuen, Parks sowie nach Konföderierten, Sklavenhaltern oder Verfechtern der Sklaverei benannte Schulen sind noch da. An einem kühlen Februarnachmittag versprach Waters, Gründer der Hidden History Tours of New Orleans, mir zu zeigen, wo einige dieser Spuren der Vergangenheit weiter vorhanden sind.
Waters fuhr mich an zwei Schulen vorbei, die nach John McDonogh benannt sind. Bis in die 1990er versah man Dutzende Schulen, die hauptsächlich Schwarze Kinder besuchen, mit dem Namen dieses reichen Kaufmanns, der auch Sklavinnen und Sklaven besaß. Wir passierten zudem Läden, Restaurants und Hotels, die dort standen, wo einst die Büros, Verkaufsräume und Sklavenpferche von über einem Dutzend Sklavenhandelsfirmen gewesen waren, die New Orleans zum größten Sklavenmarkt im Vorkriegsamerika gemacht hatten. Zum Beispiel das Omni Royal Hotel, errichtet an der Stelle des St. Louis Hotel, wo Männer, Frauen und Kinder ge- oder verkauft und voneinander getrennt wurden. Schließlich erreichten wir den Jackson Square im Herzen des von Touristen überfüllten French Quarter. Dort hatte man einst aufständische versklavte Menschen exekutiert.
Sogar die Straße, an der Waters mich am Ende unserer Tour absetzte und in der meine Eltern jetzt wohnen, ist nach Bernard de Marigny benannt, einem Mann, der im Laufe seines Lebens mehr als hundertfünfzig versklavte Menschen besaß. Das Echo der Sklaverei ist allgegenwärtig. Sie steckt in den Dämmen, die ursprünglich von versklavten Arbeitskräften errichtet wurden. Ebenso in der kleinteiligen Architektur einiger der ältesten Gebäude der Stadt, die versklavte Hände errichteten. Sie steckt in den Straßen, die erstmals von versklavten Menschen gepflastert worden sind. Oder wie der Historiker Walter Johnson über New Orleans sagte: »Die ganze Stadt ist ein Denkmal der Sklaverei.«2
New Orleans ist mein Zuhause. Dort bin ich geboren und aufgewachsen. Ich erforsche noch, inwiefern die Stadt ein Teil von mir ist. Dabei kam ich zu der Erkenntnis, dass ich relativ wenig über das Verhältnis meiner Heimatstadt zu den Jahrhunderten Sklaverei weiß, die im weichen Boden der Stadt wurzeln. Die in den Statuen stecken, an denen ich täglich vorbeigegangen war, in den Namen der Straßen, in denen ich wohnte, in den Namen der Schulen, die ich besuchte, genau wie in den Gebäuden, die für mich früher nichts anderes waren als Reste kolonialer Architektur. Das war alles direkt vor meinen Augen, auch wenn ich gar nicht danach suchte.
Im Mai 2017 – nachdem die Statue von Robert E. Lee nahe dem Zentrum von New Orleans von ihrem sechzig Fuß hohen Sockel geholt worden war – quälte mich plötzlich die Art und Weise, wie an die Sklaverei erinnert und sich damit auseinandergesetzt wird. Ich brachte mir all die Dinge bei, von denen ich wünschte, jemand anderer hätte sie mich schon längst gelehrt. Unser Land befindet sich in einem Moment, an einem Wendepunkt, an dem es die Bereitschaft gibt, sich intensiv mit dem Erbe der Sklaverei zu beschäftigen und damit, wie diese die Welt, in der wir heute leben, geprägt hat. Allerdings schien es so, als wehrten sich manche umso starrsinniger dagegen, je bewusster manche Orte sich bemühten, die Wahrheit über ihre Nähe zur Sklaverei und deren Folgen zu erzählen. Ich wollte einige dieser Orte besuchen – solche, die die Wahrheit erzählen, solche, die davor weglaufen, und wieder andere, die irgendetwas dazwischen tun – einfach um diese Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu verstehen.
In Was wir uns erzählen reise ich an acht Orte in den USA und einen im Ausland, um zu begreifen, wie jeder einzelne davon mit seinem Verhältnis zur Geschichte der amerikanischen Sklaverei umgeht. Ich besuche Plantagen, Gefängnisse, Friedhöfe, Museen, Gedenkstätten, Häuser, historische Sehenswürdigkeiten und Städte. Die Mehrzahl dieser Plätze...
Erscheint lt. Verlag | 14.3.2022 |
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Übersetzer | Henriette Zeltner-Shane |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | How the Word is Passed |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
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ISBN-10 | 3-641-29029-5 / 3641290295 |
ISBN-13 | 978-3-641-29029-0 / 9783641290290 |
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