Invicto - Unbezwingbar (eBook)

KAPITEL II – MIT KLARHEIT VISUALISIEREN

Der Seelenfrieden hängt von der guten Ordnung des Geistes ab, dem Einzigen, was dir wirklich gehört.

MARCUS AURELIUS

Wir werden Philosophen, um die Wahrheit zu entdecken, was einfach das Ergebnis von falschem Denken, hastigem Urteilsvermögen oder gut gemeinten, aber falschen Lektionen von unseren Eltern und Lehrern ist.

EPIKTET

Wir gehen davon aus, dass wir als rationale Wesen die Kontrolle über alle unsere Entscheidungen haben, aber in Wirklichkeit ist dem nicht so. Unser Verhalten wird stark von Gedanken und Emotionen beeinflusst, die ohne unser Wissen unbewusst wirken. Die ersten Eindrücke, die wir von bestimmten Situationen haben, mögen sich manchmal bestätigen. Bei vielen anderen Gelegenheiten liegen wir dagegen mit unserer Einschätzung daneben.

Warum ist das problematisch? Nun, je verzerrter unsere Sicht auf die Realität ist, desto schlechter sind die Entscheidungen, die wir treffen. Es ist so, als würde man versuchen, in eine unbekannte Stadt zu reisen, indem man einer ungenauen Karte folgt.

Der erste Schritt, um klar(er) sehen zu können, besteht darin, sich bewusst zu machen, was in unseren Köpfen vor sich geht. Nur wenn wir das Unsichtbare erkennbar machen, können wir uns ändern. Dabei geht es um die Frage, ob unsere Überzeugungen und automatischen Reaktionen uns eher helfen oder schaden.

BEGREIFE DEINEN VERSTAND: VOM REIZ ZUR REAKTION

Untersuche die Dinge, die in deinem Kopf erscheinen. Überlege, was andere objektiv sagen, und stelle dann deine eigenen Überzeugungen auf.

EPIKTET

Wir neigen dazu, unsere Gedanken mit Fakten gleichzusetzen, und nehmen an, dass unsere Eindrücke die Realität genau widerspiegeln. Doch dies ist offensichtlich falsch, denn zwei Personen können dasselbe Ereignis sehr unterschiedlich interpretieren.

Die Stoiker wussten, dass wir nicht direkt auf Erlebnisse reagieren, sondern auf unsere Interpretation der Vorkommnisse. Sie sahen es daher als notwendig an, die ersten Eindrücke zunächst infrage zu stellen und sich nicht zu schnell eine Meinung zu bilden. Um bessere Entscheidungen zu treffen, müssen wir uns mehr Zeit für unsere Urteile oder Wertungen lassen.

Wenn dir ein externes Ereignis Unbehagen bereitet, ist es nicht das Ereignis selbst, das dich verletzt, sondern dein Urteil darüber. Und du hast die Macht, dein Urteilsvermögen zu ändern.

MARCUS AURELIUS

Die Stoiker kannten die Macht der Sprache. Sie wussten, dass Wörter verschiedene emotionale Reaktionen in uns hervorrufen. Aus diesem Grund schlugen sie vor, präzise und objektiv zu kommunizieren und sich darauf zu beschränken, die Umwelt zu beschreiben, ohne eigene Wertungen hinzuzufügen.

Anstatt zu denken: »Diese Situation ist schrecklich«, wäre folgender Gedanke angebrachter: »Es ist gerade etwas passiert. Mein erster Eindruck davon ist, dass es schrecklich ist.« Die zweite Option bietet uns eine größere Distanz zum Geschehen, sodass wir die Realität deutlich ruhiger betrachten können.

Wenn zum Beispiel ein Glas herunterfällt, sollten wir nüchtern analysieren: »Ein Glas ist zerbrochen«, statt mit uns zu hadern – »Ich habe wieder mal ein Glas zerbrochen! Wie ungeschickt ich doch bin!« – und vorschnelle Schlussfolgerungen wie »Ich mache nie etwas richtig!« zu ziehen. Es ist wichtig, sich auf objektive Tatsachen zu konzentrieren, statt subjektive Bewertungen zu treffen, die wahrscheinlich falsch, sicherlich aber nutzlos sind.

Die Stoiker nannten diese ersten verzerrten Eindrücke Fantasien. Manchmal bilden sie die Realität gut ab, aber oftmals auch nicht. Bevor wir sie für die Wahrheit halten, müssen wir sie daher hinterfragen und erst mal als Hypothesen und nicht als Tatsachen behandeln.

Indem wir diese erste Wahrnehmung auf den Prüfstand stellen, haben wir die Chance, unsere Gedanken zu verändern, und gewinnen dadurch einen anderen Blickwinkel auf uns selbst und die Welt um uns herum. Mit dieser Klarheit wird auch unsere Reaktion besser und präziser ausfallen.

Lass dich nicht von der Intensität eines ersten Eindrucks nach unten ziehen. Antworte so, wenn er ankommt: »Warte ein bisschen auf mich, Eindruck, lass mich sehen, wer du bist und was du repräsentierst, lass mich dich auf die Probe stellen.«

EPIKTET

Ungeprüfte erste Eindrücke sind oft die Ursache für übertrieben starke Emotionen. Daher ist es wichtig, uns mehr Zeit zu geben, bevor wir reagieren. Epiktet empfahl, uns selbst als Nachtwächter einer Festung zu sehen. So wie wir in dieser Rolle niemandem Zugang gewähren würden, der mit bösen Absichten kommt, sollten wir keine emotionalen Reaktionen aus dem Affekt heraus zulassen, die unserem mentalen Bollwerk schaden könnten.

Viele Menschen glauben, dass unsere Empfindungen eine direkte Antwort auf das sind, was mit uns geschieht, aber das ist nicht wahr. Zwischen dem Ereignis und der Emotion liegt eine unbewusste Interpretation, eine Art Filter, der unsere Reaktion bestimmt.

Dieser Filter ist teilweise angeboren. Er wird jedoch im Laufe unseres Lebens – entsprechend unseren Erfahrungen, Überzeugungen und Normen – angepasst.

In Gegenwart eines Hundes (= Ereignis/Reiz) empfindet die eine Person zum Beispiel Freude und die andere Angst oder Nervosität. Der Grund hierfür liegt darin, dass der Filter bei dem einen mit positiven Assoziationen besetzt ist (»Hunde sind toll. Ich mag sie«), während der Filter für die zweite Person negative Gedankenverbindungen enthält (»Hunde sind gefährlich. Ich gehe ihnen lieber aus dem Weg«), möglicherweise ausgelöst durch eine schlechte oder traumatische Kindheitserfahrung.

Wenn wir unsere Filter untersuchen, lernen wir, uns selbst besser zu verstehen. Das ermöglicht uns, unsere Überzeugungen zu verändern, was wiederum dazu führt, dass sich unsere Emotionen als Reaktionen auf externe Ereignisse wandeln.

In jedem Fall ist das Auftreten der Empfindungen nur der erste Schritt. Viele gehen davon aus, dass sie automatisch eine Reaktion auslösen (wie das Ausweichen, wenn man einen Hund sieht), aber das ist nicht unbedingt so. Zwischen der Emotion und der Reaktion können wir gezielt etwas Raum einfügen. Das gibt uns die Möglichkeit, unsere Gefühlslage zu analysieren und sie gegebenenfalls zu regulieren. Damit erreichen wir nichts weniger als eine bessere Selbstkontrolle.

Auf diese Weise reagieren wir nicht mehr emotional, sondern rational. Die positiven Auswirkungen auf unsere mentale Verfassung und unser Leben sind enorm.

Wie können wir aber diesen Raum für die so wertvolle Reflexion integrieren? Indem wir kontinuierlich auf unsere Stimmungen und Emotionen achten. Das genau ist der Kern der sogenannten prosoché (Achtsamkeit), auf die sich die Stoiker bezogen.

Überwache ständig deine Wahrnehmungen, da sie etwas schützen, das nicht unerheblich ist: deinen Respekt, deinen Wert, deine Mäßigung, deine Gelassenheit. Mit einem Wort, deine Freiheit.

EPIKTET

Wenn wir darauf achten, werden wir uns dieses Raums bewusst und haben die Möglichkeit, unsere ersten Eindrücke infrage zu stellen. So sind wir in der Lage, unsere Reaktion zu ändern.

Viele Menschen greifen als Reaktion auf Angstgefühle und andere emotionale Belastungen zu Essen. Alles, was wir öfter wiederholen, wird aber stärker. Mit der Zeit wird diese Verbindung automatisiert und läuft wie ein unsichtbares Programm ab.

Durch die »stoische Pause« verwandeln wir einen unbewussten in einen bewussten Prozess. Das gibt uns die Möglichkeit, neue Strategien zu entwickeln, um beispielsweise nicht mehr aus emotionalen Gründen zu essen. Wir schaffen es so, eine emotionale durch eine rationale Reaktion zu ersetzen.

Wie nahezu alles im Leben erfordert auch die Entwicklung dieser neuen Achtsamkeit Übung und wird uns nicht geschenkt. Wir sollten uns angewöhnen, so häufig wie möglich die erste emotionale Reaktion festzustellen und die damit verbundenen körperlichen Veränderungen und Empfindungen mit der Neugier eines Forschers zu beobachten. Gelingt uns das, können wir eine weitere Eskalation verhindern.

Druck ist leichter zu kontrollieren, wenn er klein ist, als wenn er an Stärke gewinnt.

SENECA

Das Einüben der in diesem Buch vorgestellten Techniken verbessert deine Fähigkeit, die Reize von den Reaktionen zu trennen. Du wirst die mentalen Filter und automatisch ausgelösten Gedanken erkennen, die deine Emotionen in dir auslösen. Du wirst vermeiden, ohne nachzudenken zu reagieren. In den Worten der Stoiker ausgedrückt: Du wirst aufhören, ein Sklave deiner selbst zu sein. Deine Impulse werden dich nicht mehr aus der Bahn werfen.

Der Stoizismus zielt darauf ab, uns zum Nachdenken über unsere Gedanken zu bewegen. Wir helfen unserem Geist, selbstbewusster zu werden.

Dieses Bewusstsein zu entwickeln, ist jedoch nur der erste Schritt. Nachdem wir unsere automatisch auftretenden Gedanken und die Gefühle,...