Silvester-Tagebuch (eBook)

Jutta Koslowski (Herausgeber)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
320 Seiten
Gütersloher Verlagshaus
978-3-641-28889-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Silvester-Tagebuch -  Karl Bonhoeffer
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Karl Bonhoeffer, der Vater Dietrich Bonhoeffers, hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, am Silvestertag jeden Jahres einen kurzen Jahresrückblick niederzuschreiben. Dieses »Silvester-Tagebuch« berichtet von dem Leben der Familie, aus der in der Zeit des Naziterrors vier profilierte Gegner des Hitlerregimes hervorgehen sollten, die alle ihren Widerstand mit dem Leben bezahlten. Was machte diese Familie aus? Warum erwies sie sich als unkorrumpierbar und resilient, als die meisten anderen einfach mit der Masse liefen?

Diese sorgfältige und umfassende wissenschaftliche Erstedition des vollständigen Tagebuches von Karl Bonhoeffer eröffnet eine aufschlussreiche Perspektive auf diese Fragen. Sie erschließt die Lebenswirklichkeit, das Netzwerk und den Wertekosmos einer großbürgerlichen Familie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Silvesterberichte

von Karl Bonhoeffer

Breslau
31. Dezember 1899 abends 11 Uhr

[Handschrift v. Paula Bonhoeffer]

Voriges Jahr am Sylvesterabend waren wir beide202 still zu Hause. Wir waren beide noch allein und warteten auf Karl-Friedrich.203 Er zögerte lange mit seinem Erscheinen und machte es mir nicht ganz leicht. Dies war aber alles ganz vergessen, als er am 13ten Januar zur Welt kam. Zum Empfang tranken wir (Großmama Hase,204 Karl, ich, Frau Franke, die Hebamme, und Frau Röhnelt, die Pflegerin) eine Flasche Asti Spumante205 auf die Zukunft. –

Er schrie kräftig, schnitt Grimassen und wog 7 Pfund. Den ersten Schmerz bereitete er mir nach 8 Tagen; er hatte ein Pfund abgenommen. Von da ab nahm er gut zu. Nach dem Grundsatz, dass die Erziehung nie zu früh anfangen kann, wurde Karl-Friedrich zeitig rangenommen und wir blieben gegen sein nächtliches, nahrungsverlangendes Gebrüll hart. Nach 4 Tagen gab er nach und schlief des Nachts durch. Bis zum 4ten Monat blieb er an der Mutterbrust. Dann kam eine Zeit, in der wir uns viel Sorge um seine Ernährung machten. Professor Czerny206 stand uns mit seinem Rat zur Seite. Er verordnete Malzsuppe und dies und ein Sommeraufenthalt in Jena207 brachten wieder alles in Ordnung. Nun konnte er wieder Milch bekommen, Brühe und leichtes Gemüse (Spinat und Mohrrüben) und wiegt heute 22 1/4 Pfund. Somit macht er der Czerny’schen viel angefeindeten Hungermethode208 alle Ehre. Er bekommt heute noch keinen vollen Liter Milch. Die wichtigsten Ereignisse in diesem ersten Lebensjahr sind: am 9ten Februar war die Taufe, die von Großvater Hase209 vollzogen wurde, in unserer Wohnung am Mathiasplatz. Es feierten mit uns die Großeltern Hase, Elisabeth, Hans und Benedikt Hase, Felix Dahn210 (der ein Gedicht verlas) mit seiner Frau, Dr. Henke, Dr. Gaupp und W. Meyer. Auf der Tauftafel stand gutes schwäbisches Gebäck von Großmutter Bonhoeffer211 aus Tübingen gesandt. Seinen Namen bekam Karl-Friedrich nach seinen beiden Großvätern,212

[Von hier an Karl Bonhoeffers Handschrift]

Otto Hans213 nach seinen beiden Onkeln214 Hans von Hase215 und Dr. Otto Bonhoeffer.216 Die ersten Monate war unser Hauptbemühen, ihn möglichst wenig unter der schlechten Luft der Großstadt leiden zu lassen. Es ging deshalb täglich ein paar Mal der Kinderwagen die zwei Treppen herauf und herunter zum Mathiasplatz.

Das Kindermädchen Luise wurde dabei manchmal mürrisch, aber da sie selbst Karl-Friedrich eifersüchtig liebt, ließ sie sich die Mühe, nachdem sie daran gewöhnt [war], nicht mehr verdrießen. Auf dem Platz freute er sich an den Zweigen, wenn sie sich im Winde bewegten, und griff nach ihnen. Seine Stimmung war im Freien immer besser als in der Stubenluft. –

Die erste große Reise geschah in der Droschke nach der Gartenstraße zum Besuch der Großeltern Hase. Die neue Umgebung machte ihn nicht liebenswürdig. Solange er nicht schlief, brüllte er. Auch das Vorüberfahren an den Häusern erregte ihn. Wir wiederholten deshalb diese Besuche nur selten. Mitte August fuhren wir zu einer Familienvereinigung aller Bonhoeffers217 nach Jena ins Hase’sche Berghaus. Bei der Nachtfahrt schlief er ruhig in der Hängematte und brachte einen Schnupfen mit in das Berghaus. Dies hinderte ihn nicht, in kurzer Zeit ordentlich zuzunehmen.218 Er ist dort von den Großeltern Bonhoeffer sehr verwöhnt worden und hat sich dafür sehr empfänglich gezeigt. Eine Neigung, sich unterhalten zu lassen, hat er von da zurückbehalten und durch sie sich die ersten Schläge verdient. Er hat dort sitzen gelernt. –

Nach Breslau zurückgekehrt, fing er bald an, sich auf die Füße zu stellen. Jetzt geht er an meiner Hand geführt, manchmal auch ein paar Schritte ganz allein. –

Er ist ein lebhaftes, etwas schreckhaftes und ängstliches Kind. Im Grunde aber heiter und für Späße bald zu haben. Er hört gern Musik und hat das schon ehe er auf die Welt kam durch eigentümliche Bewegungen, die er bei Musik machte, der Mutter bemerkbar gemacht. –

Am 10. Dezember kam ein Brüderchen zur Welt,219 das er mit »da, da, ach, ach« begrüßte. Von diesem ist heute noch wenig zu erzählen. Er220 scheint ruhigerer Gemütsart zu sein. Karl-Friedrich schläft das neue Jahrhundert an. Der kleine Walter tritt es mit uns wachend an. Eben schlägt es 12 Uhr. Des nächsten Jahrhunderts221 Beginn feiern hoffentlich unsere Urenkel ebenso zufrieden, wie wir heute sind.

202 Karl und Paula Bonhoeffer.

203 Karl-Friedrich Bonhoeffer (1899–1957), geboren am 13. Januar in Breslau; er war der erste Sohn von Karl und Paula Bonhoeffer. Beide hatten sich am 17. Dezember 1897 in Breslau verlobt und dort am 5. März 1898 geheiratet. Karl Bonhoeffer schreibt über die erste Begegnung mit Paula in seinen ›Lebenserinnerungen‹: »Dem in jener Zeit mich beschäftigenden Bestreben, auf eigenen Füßen zu stehen zu kommen, lag nicht allein der natürliche Wunsch des älteren Klinkassistenten zugrunde. Es war etwas Neues in meinen Gesichtskreis getreten. Im Hause des Physikers Oskar Meyer, an den ich durch seinen Bruder Lothar empfohlen war, traf ich an einem der dortigen Abende, die ich bis dahin selten besucht hatte, im Winter 1896 ein blondes, blauäugiges, junges Mädchen, das mich schon beim ersten Eintreten ins Zimmer durch ihre freie natürliche Haltung, ihren offenen unbefangenen Blick in einer Weise gefangennahm, daß mir dieser Augenblick ersten Sehens meiner späteren Frau als ein fast mystischer, lebensentscheidender Eindruck in der Erinnerung steht. Wir freundeten uns an diesem Abend rasch an, und meine bis dahin auf die Klinik und einige ältere Tübinger Genossen zurückgezogene Lebensweise änderte sich.« (ZUTT, JÜRG/STRAUS, ERWIN/SCHELLER, HEINRICH (Hg.): Karl Bonhoeffer. Zum Hundertsten Geburtstag am 31. März 1968, Berlin 1969, S. 49). Über seine Verlobung schreibt Karl Bonhoeffer: »Kurz vor meinem Abgang aus der Klinik [als Assistent von Carl Wernicke an der Psychiatrischen Klinik in Breslau] wurde ich auf das Innenministerium nach Berlin zitiert. Dort wurde mir von dem Dezernenten für das Gefängniswesen Krohne die Stellung als Leiter der Beobachtungsstation für geisteskranke Gefangene für den 1. März 1998 zugesagt. Ich fuhr sofort nach Breslau zurück, um gleich tags darauf zu meinem künftigen Schwiegervater zu eilen, um ihn um seine Tochter, mit der ich natürlich schon einig war, zu bitten. Ich muß bei diesem feierlichen Akt vielleicht nicht ganz deutlich gewesen sein, vielleicht traute der Schwiegervater auch seinem schon damals nicht mehr ganz scharfen Gehört nicht ganz, jedenfalls kam zunächst nicht das erwartete Ja, sondern eine ausweichende Antwort über das Ergehen seiner Frau, nach der ich mich meines Wissens nicht speziell erkundigt hatte. Etwas in Verlegenheit gesetzt, nahm ich einem zweiten Anlauf und gelangte nun zum Ziel. So wurde der 17. Dezember 1897 unser Verlobungstag, der am Abend mit der letzten Flasche des Jubiläumsweins vom Feste des 90. Geburtstages des Jenaer Großvaters, des Kirchenhistorikers [Karl August von Hase], ausklang.« (Ebd., S. 52).

204 Clara von Hase, geb. Gräfin von Kalckreuth (1851–1903).

205 Korrektur; im Original: Asti spoumante.

206 Adalbert Czerny (1863–1941) war Kinderarzt und begründete die Schule für Kinderheilkunde an der Berliner Charité, wo er (wie bereits zuvor in Breslau) ein Kollege von Karl Bonhoeffer war.

207 Es handelte sich um einen Besuch bei Verwandten; Paulas Vater Karl Alfred von Hase war in Jena aufgewachsen, bevor er später nach Breslau ging.

208 Czerny legte als Kinderarzt seinen Schwerpunkt auf die Themen Ernährung, Ernährungsstörungen und Ernährungstherapie. Karl Bonhoeffer hielt viel von dessen umstrittenen Methoden, wie er in seinen ›Lebenserinnerungen‹ betont: »Ich bin überzeugt, daß es sein Verdienst war, daß wir bei unseren 8 Kindern keine Magenstörungen erlebt haben, daß wir so gut wie niemals durch die Kinder gestörte Nächte hatten. Wir hielten uns streng an seine Ernährungsvorschriften, die keine...

Erscheint lt. Verlag 21.3.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte 1918 bis 1945
Schlagworte 2022 • Adolf Hitler • Charité • Deutsches Kaiserreich • Dietrich Bonhoeffer • eBooks • Erster Weltkrieg • Gerhard Leibholz • Geschichte • Holocaust • Klaus Bonhoeffer • Neuerscheinung • Weimarer Republik • Widerstand im Nationalsozialismus • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-641-28889-4 / 3641288894
ISBN-13 978-3-641-28889-1 / 9783641288891
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