Der Karabiner von Stalin (eBook)

Ein sowjetisches Leben zwischen Bürgerkrieg, Konzentrationslager und Gulag
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
529 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45064-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Karabiner von Stalin -  Matthias Kaltenbrunner
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Das Leben von Nikolai Novodarov, einem Offizier der Roten Armee, bündelt wie in einem Brennglas die Erschütterungen der russischen Geschichte im 20. Jahrhundert. Er kämpfte als Kindersoldat im Russischen Bürgerkrieg und überlebte den Großen Terror der 1930er Jahre. Im Zweiten Weltkrieg begannen für ihn fünfzehn lange Jahre in Gefangenschaft: zuerst in deutschen Kriegsgefangenenlagern und im Konzentrationslager Flossenbürg, dann als »Vaterlandsverräter« im sowjetischen Gulag. Nach Stalins Tod rehabilitiert, konnte er sich nur schwer in der Gesellschaft der UdSSR zurechtfinden. Auf der Grundlage von autobiografischen Manuskripten, Verhörprotokollen des sowjetischen Geheimdienstes und konfiszierten Notizen aus dem Gulag berichtet Matthias Kaltenbrunner über Nikolais Lebensgeschichte und dessen Verhältnis zum Sowjetsystem zwischen eiserner Loyalität und totaler Ablehnung.

Matthias Kaltenbrunner, Dr. phil., ist Postdoc Researcher am Research Center for the History of Transformations (RECET) an der Universität Wien.

Matthias Kaltenbrunner, Dr. phil., ist Postdoc Researcher am Research Center for the History of Transformations (RECET) an der Universität Wien.

2.Anfänge am Don, 1907-1925


Kurze Kindheit in Kamenskaja


Die erste Version von Nikolaj Novodarovs Romantrilogie beginnt mit einer Episode, die er im Alter von acht Jahren erlebt hat. Sein Alter Ego Dimka (Kurzform von Nikodim) Stepnov, dessen Erlebnisse in der dritten Person geschildert werden, ist beim Viehhüten eingeschlafen und wird zur Strafe vom Vater seines Arbeitgebers mit einem arapnik, einer russischen Jagdpeitsche, geschlagen. Anschließend schickt ihn der alte Mann zur Kohlegrube am Stadtrand, um štyb zu schürfen – kleine Kohlestücke, fast Kohlestaub. Nach der grausamen Bestrafung hat er Schmerzen am ganzen Körper, doch er beißt die Zähne zusammen und begibt sich zur Grube, da ihm klar ist, dass er seine Eltern unterstützen muss. Kondrat, ein gutmütiger Kohlearbeiter, beruhigt den Jungen. Dimkas jüngerer Bruder Ivan, genannt Vanjatka, gerade einmal fünf oder sechs Jahre alt, wartet am Eingang der Kohlegrube, während er sich gemeinsam mit Kondrat in einen engen, dunklen Seitengang begibt, der nur von einer Petroleumlampe ausgeleuchtet wird, dort ist es »heiß, eng und schrecklich«. Auf der Seite liegend schlagen sie mit einem Schrämeisen einen schmalen Schlitz ins Gestein und laden dann die Kohlestücke auf eine Art Schlitten, der von Kondrat mit einem Seil nach oben gezogen wird, während Dimka auf allen vieren, mit der Stirn an den Schlitten gestützt, von hinten anschiebt. Der schwere Schlitten bewegt sich langsam, als er plötzlich stecken bleibt. Es sind die Seile gerissen und Dimka ist im Schacht eingeschlossen. Zu allem Unglück erlischt auch die Lampe, es ist daher vollkommen dunkel, der Junge bekommt kaum noch Luft, er wird fast verrückt vor Angst und erwartet das Ende. Gleichzeitig redet er sich immer wieder ein, dass ihn Kondrat bestimmt befreien würde, was schließlich auch geschieht. Er kommt wohlbehalten ans Tageslicht, wo ihn sein kleiner Bruder erwartet, der ihn schon gesucht hat.64

Abb. 1: Karte 1

Quelle: Ing.-Büro für Kartographie J. Zwick, Gießen

Nikolaj Novodarov schildert in diesem ersten Kapitel seiner Romantrilogie auf beklemmende Weise die Situation eines kleinen Jungen im vorrevolutionären Russland, der gezwungen ist, unter bedrückenden Bedingungen Kinderarbeit zu leisten. Gleichzeitig sind in der Figur des Dimka-Nikodim schon alle wesentlichen Charaktereigenschaften angelegt, die Novodarov auch später auszeichnen sollten: Ausdauer, Verantwortungsbewusstsein und Härte sich selbst gegenüber. Dazu kommen ein außergewöhnlicher Mut, der die Angst auch in scheinbar ausweglosen Situationen überwindet, und nicht zuletzt ein großes Grundvertrauen in andere Menschen. Novodarovs Geburtsort Kamenskaja, wo sich diese Szene 1914 oder 1915 vielleicht so oder ähnlich abspielte, heißt heute Kamensk-Šachtinskij65 und wurde – wie der Namenszusatz anzeigt – in der Sowjetzeit zu einem wichtigen Bergbauzentrum. Die Stadt wurde an das Steinkohlebecken Donbass angeschlossen, benannt nach dem Fluss Severskij Donec (wörtlich: nördlicher kleiner Don), einem Nebenfluss des »großen« Don. Die östlichen Ausläufer mit Kamensk-Šachtinskij gehören heute administrativ zum Gebiet Rostov am Don im Süden der Russischen Föderation. Damals jedoch wurde in Kamenskaja Kohle lediglich in kleinen Mengen auf nichtindustrieller Basis für den lokalen Gebrauch abgebaut, so wie vom achtjährigen Nikolaj für seinen Arbeitgeber.66 Als 70-Jähriger rekapitulierte Novodarov diese Vorgangsweise, ohne von sich selbst in der ersten Person zu sprechen, in einem Brief an einen Jugendfreund: Da Kohle in Kamenskaja das einzige Heizmaterial gewesen sei, sei den »Armen« nichts anderes übrig geblieben, als in »sogenannten Kriechschächten« in 20 bis 25 Metern Tiefe wie in einem »Fuchsbau« nach Kohlestaub zu schürfen.67

An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war Kamenskaja der Verwaltungssitz des Donec-Kreises, in dem zur Zeit der Volkszählung von 1897 nicht ganz eine halbe Million Menschen lebten. Damit war der Kreis der bevölkerungsreichste von neun territorialen Verwaltungseinheiten des »Gebiets des Donheers«, eines administrativen Gebildes, das 1786 unter Katharina II. als Zugeständnis den Donkosaken gegenüber eingerichtet worden war. Die Donkosaken, einst Wehrbauern und Grenzwächter, hatten somit weiterhin einen rechtlichen Sonderstatus, der sich etwa in einer eigenen Ordnung für den Militärdienst, aber auch in Steuerbefreiungen und Handelsprivilegien ausdrückte. Zudem wurde jedenfalls formal eine gewisse kosakische Selbstverwaltung aufrechterhalten; so wurden das Gebiet und die Kreise nicht von zivilen Gouverneuren, sondern von Atamanen (kosakischen Heerführern) verwaltet. An die kosakische Tradition erinnern bis heute viele Bezeichnungen von Dörfern, die Sloboda (Freiheit) heißen, da den kosakischen Gründern im 17. und 18. Jahrhundert für eine gewisse Zeit die Befreiung von der Leibeigenschaft geschenkt worden war.68 In einer dieser ehemals »freien Siedlungen« des Donec-Kreises, in Efremovo-Stepanovka69 etwa 100 Kilometer nördlich von Kamenskaja, kam im Jahr 1880 Nikolajs Vater Denis Novodranov zur Welt. Der Familienname leitet sich wahrscheinlich von dran (Dachschindel) her und bezeichnete eine Person, die in einem neugedeckten Haus lebte. Nikolaj mochte später den Klang seines Familiennamens nicht und änderte diesen Ende 1934 offiziell von »Novodranov« zu »Novodarov« (dar bedeutet »Gabe« oder »Geschenk« und ist daher viel positiver konnotiert), während der Rest der Familie beim alten Namen blieb.70 Die Biografie des Vaters spiegelt geradezu bilderbuchartig die sozioökonomischen und politischen Prozesse wider, die das Leben der ländlichen Bevölkerung des Russischen Reiches seit der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 grundlegend veränderten. Seinen eigenen Angaben zufolge verlor Denis Novodranov bereits als Säugling seine Mutter und wuchs bei verschiedenen Verwandten auf, wo er sich als Knecht in der Landwirtschaft verdingte, konnte jedoch immerhin einige Jahre die Schule besuchen.71 Um die Jahrhundertwende trat er in die Zarenarmee ein, in der er während des Russisch-Japanischen Krieges in einem Infanterieregiment72 im Nordkaukasus diente. Dort sei er erstmals mit revolutionärem Gedankengut in Kontakt gekommen, schrieb er in seinem 1923 für die Kommunistische Partei verfassten Lebenslauf, in dem es selbstredend darum ging, die Anfänge seiner bolschewikischen Gesinnung möglichst weit rückzudatieren. Es habe eine geheime Organisation existiert, die schließlich während der Revolution 1905 auch einen Soldatenaufstand organisiert habe, er selbst sei zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits wieder zu Hause gewesen.73

Während Denis Novodranov seinem beruflichen und militärischen Werdegang im Lebenslauf viel Platz einräumt, schweigt er sich über sein Familienleben aus. Über die Herkunft seiner Ehefrau Matrena ist so gut wie nichts bekannt, nicht einmal das Geburtsjahr. Etwa 1900 wurde die älteste Tochter Elena geboren. Im Roman ist das rücksichtslose Verhalten des Onkels und Ziehvaters der Anlass zur Übersiedlung nach Kamenskaja, da dieser Denis Novodranov (der im Buch Dmitrij Stepnov heißt) ein versprochenes Stück Land nicht geben will. Für Kamenskaja sprachen auch familiäre Netzwerke, die dorthin bestanden, lebten doch bereits mehrere ältere Geschwister Denis Novodranovs in der aufstrebenden Kosakensiedlung.74 Am 20. Dezember 1906 brachte Matrena dort ihr zweites Kind zur Welt, den Sohn Nikolaj. In Westeuropa, wo anders als im Zarenreich nicht der julianische, sondern der gregorianische Kalender verwendet wurde, schrieb man zu diesem Zeitpunkt bereits den 2. Januar 1907. Als Lenin im Jahr 1918 auch in Sowjetrussland den gregorianischen Kalender einführte, kam es bei Novodarovs Geburtsdatum wohl zu einem Umrechnungsfehler, wodurch er seinen Geburtstag zeitlebens eine Woche später feiern sollte.75 Dass Novodarovs Geburt durch das Taufbuch der orthodoxen Christi-Geburt-Kirche von Kamenskaja dokumentiert ist, ist für seine Generation keineswegs die Regel, denn solche ...

Erscheint lt. Verlag 12.4.2023
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Biografie • Biographie • Biographieforschung • Konzentrationslager • Kriegsgefangenschaft • KZ Mauthausen • Russischer Bürgerkrieg • Russland • Selbstzeugnisse • Sowjetunion
ISBN-10 3-593-45064-X / 359345064X
ISBN-13 978-3-593-45064-3 / 9783593450643
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