»Wie ich den Weg zum Führer fand« (eBook)

Beitrittsmotive und Entlastungsstrategien von NSDAP-Mitgliedern
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
554 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-44964-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

»Wie ich den Weg zum Führer fand« -  Jürgen W. Falter,  Kristine Khachatryan,  Lisa Klagges,  Jonas Meßner,  Jan Rosensprung,  Hannah Weber
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Welche Beweggründe motivierten Deutsche, in die NSDAP einzutreten? Und welche Strategien wählten genau diese Parteimitglieder nach 1945, um sich in ihren Entnazifizierungsprozessen zu entlasten? Anhand zahlreicher zeitgenössischer Quellen gibt dieser Band - erstmals überhaupt - Antworten auf beide Fragen, indem er die Entnazifizierungsakten und die darin enthaltenen Aussagen von Mitgliedern der NSPAP mit ihren während des Dritten Reichs verfassten Lebensgeschichten vergleicht. Er bietet damit hochinteressante Einblicke in die Sozialisationserfahrungen und die persönlichen Einstellungen der untersuchten Personen, analysiert die Rolle ihrer Fronterlebnisse, ihre Erfahrungen als Kriegskinder und die bedeutende Funktion nationalistischer und antisemitischer Organisationen als Übergangsstationen auf dem Weg in die NSDAP. Ein umfangreiches Kapitel beschäftigt sich darüber hinaus mit den über diese Männer und Frauen gefällten Spruchkammerentscheidungen.

Jürgen W. Falter war von 1993 bis 2012 Inhaber des Lehrstuhls für Innenpolitik und Empirische Politikforschung an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Von 2012 bis 2019 hatte er dort eine Forschungsprofessur am Institut für Politikwissenschaft inne. Seit 2001 ist er Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz.

Jürgen W. Falter ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität Mainz. Er war dort von 1993 bis 2012 Inhaber des Lehrstuhls für Innenpolitik und Empirische Politikforschung.

1. »Mein Lebenslauf oder richtiger: Wie ich Nationalsozialist wurde«


Viele verschiedene Wege führten zu Hitler

Jürgen W. Falter

Alle Wege führen nach Rom, hieß es in der Antike. Das war schon damals nicht ganz richtig, aber in der Tat führten viele Wege in die Hauptstadt des Römischen Reichs. Und viele Wege sind es auch, die in der Weimarer Republik und im Dritten Reich zu Hitler und zur NSDAP führten. Ganz unterschiedliche Wege, die mit Prägungen durch das Elternhaus, den Freundes- und Kollegenkreis, die Schule und die Jugendgruppe, der man angehörte, zu tun hatten. Es gab begünstigende Umstände, zu denen das Schützengrabenerlebnis der Frontsoldaten, die deutsche Niederlage im Krieg, die Revolution von 1918, die Erlebnisse von Grenzlandbewohnern in den Abstimmungskämpfen um die nationale Zugehörigkeit ihrer Heimat, aber auch die Kriegserfahrungen und -entbehrungen von Kindern und Jugendlichen zählten. Die nachfolgend skizzierten Lebens- und Kampfzeitberichte wie auch die Schilderung der manchmal verschlungenen, manchmal sehr geradlinigen Pfade in die NSDAP, die sich in manchen Spruchkammerprotokollen finden lassen, sollen diese unterschiedlichen Wege zu Hitler und seiner Partei illustrieren. So verschiedenartig die Wege sind, lassen sich doch typische und atypische unterscheiden. Von beiden wollen wir Beispiele zitieren, von Männern und Frauen, Älteren und Jüngeren, zu einem frühen Zeitpunkt und erst relativ spät eingetretenen Parteigenossen, ehemaligen Frontsoldaten und Kriegskindern wie auch von Arbeitern, Angestellten, Beamten und Selbständigen.

Vom Baltikumskämpfer zum glühenden Anhänger Hitlers (1.000.643 A)18


Der Parteigenosse Hans Eder19 trug die sehr niedrige Mitgliedsnummer 8.646. Eingetreten in die NSDAP war er erstmals 1922 und dann, kurz nach Wiedergründung der Partei, noch einmal im Jahre 1925. Zum Zeitpunkt der Niederschrift seines mit viel Emphase verfassten Lebensberichts, den er 1934 für das Abel-Preisausschreiben einreichte, war er Bürgermeister der Kleinstadt Calbe an der Saale. Zwischen 1914 und 1918 war er Soldat gewesen, was ihn stark geprägt zu haben scheint. Denn seinen Lebensbericht für das Abel-Preisausschreiben beginnt er geradezu mit einem Hohelied auf den soldatischen Kameradschaftsgeist, die Opferbereitschaft und den unbedingten Willen, »etwas [zu] tun, ob nun für oder wider«. Er schreibt: »Uns war der Kampf Lebenszweck und -ziel geworden, Kampf schlechthin, und Opfer für Macht und Größe des Reiches.« National sei er durch »Erziehung und Überlieferung« gewesen, durch den Krieg entwurzelt und nun ohne erkennbaren Sinn. Widerstand gegen die roten Revolutionäre in Kiel habe man ihm, dem jungen Marineoffizier, und seinen kampfbereiten Kameraden von Seiten der Vorgesetzten verboten. Die ältere Generation habe den Umsturz über sich ergehen lassen und auf bessere Zeiten gehofft. Über deren Versagen müsse man Bescheid wissen, »um begreifen zu können, wie sich zwei Generationen in wenigen Tagen entfremdeten. In diesen Tagen wurde unser gläubiges Vertrauen zu den alten Führern, zu der alten Generation vernichtet. Totgeschlagen. Jetzt mussten wir unser Schicksal selbst in die Hand nehmen.«

Er begab sich ins baltische Kurland, um kämpfen zu dürfen, um »uralten deutschen Boden wieder deutsch [zu] machen«. Obwohl siegreich gegen die Bolschewisten, seien sie vom republikanischen Berlin im Stich gelassen worden. Da habe er erkannt, dass dies nicht mehr sein Deutschland sei. Von Wolfgang Kapp, dem Führer des gleichnamigen Putsches gegen die Reichsregierung, sei er ebenfalls enttäuscht gewesen. Ein Intermezzo in Pommern habe ihm dann die Augen geöffnet, dass die adeligen Deutschnationalen zwar ebenso wie er fanatische Gegner des Bolschewismus, aber doch ganz anders gewesen seien: »Sie sprachen Deutschland, und sie meinten Geld und Vorrecht. Sie sucht in unseren Männern nicht künftige freie Bauern, sondern leibeigene Knechte.« In Pommern stieß er zur Deutschsozialen Partei, einer völkisch orientierten Gruppierung, bei der er »Sozialismus, Aufgabe des Dünkels, Pflege des Gemeinschaftsgeistes« zu finden hoffte. Die Verbindung von Nationalismus und Sozialismus sollte »das deutsche Volk zur Freiheit führen«. Um seine Familie zu ernähren, da »zu der tapferen kleinen Frau, die ich mir als Beutestück aus dem deutschen Kurland mitgebracht hatte, der Stammhalter getreten war«, musste er ins »bürgerliche Leben« zurück, wurde Geschäftsführer, Prokurist, Verkaufsleiter in München. Dort traf er Adolf Hitler, dem er sich »im unerschütterlichen Glauben an die Richtigkeit der Synthese von Nationalismus und Sozialismus, mitgerissen von der gewaltigen Persönlichkeit dieses wahren Führers«, anschloss. 1922 wurde er Mitglied der NSDAP und hielt ihr auch während der Zeit des Verbots die Treue.

Nun trat er nach eigener Aussage einen neuen Leidensweg an: »Die gesellschaftliche Ächtung begann, der wirtschaftliche Boykott.« Seine Frau, die selbst 1925 Parteigenossin wurde, habe ihm dabei stets zur Seite gestanden. Bis zur Machtergreifung diente er nach verschiedenen Aushilfstätigkeiten der nationalsozialistischen Sache als Schriftleiter von Parteiblättern. Am 30. Januar 1933, dem Tag der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler, habe er nicht getobt vor Begeisterung. »Ganz still habe ich zu Hause mit meiner Frau gesessen, Hand in Hand. Und Tränen haben ihr und mir, uns Alten Kämpfern Hitlers, in den Augen gestanden.«

Im Falle des Parteigenossen Eder scheinen Kriegserfahrungen, vor allem in Form des häufig genannten Schützengrabensozialismus, die als Schmach empfundene Niederlage und die Revolution, eine Art naturwüchsig vermittelter Nationalismus und latent vorhandener, nicht im Vordergrund seiner lebensgeschichtlichen Ausführungen stehender Antisemitismus den Wurzelgrund gebildet zu haben, aus dem seine nationalsozialistische Überzeugung und seine glühende Hitlerverehrung hervorwuchsen.

Ein ziemlich untypischer Fall (1.000.591 A)


Walter von Feder wurde 1899 in Moskau als Sohn eines deutschen Lehrers geboren und lebte in dieser Stadt bis ins Jahr 1918, in der er das Gymnasium einer deutschen Kirchengemeinde besuchte. Seine Mutter war eine »Halbdeutsche, ihre Mutter […] eine Deutsche, der Vater […] ein russischer Offizier«. Von Feder wuchs praktisch zweisprachig auf, reiste viel mit seinen Eltern. Zu seinen ersten Erinnerungen gehört die Revolution von 1905 in Moskau mit ihren Toten, dem »Blut auf dem Pflaster«, wie er schreibt, und der »Verdunkelung«. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs, er war gerade 15 Jahre alt, erlebte er erstmals »die Realität des Nationalitätenhasses«. Zum ersten Mal habe er das Wort »Deutscher« als Schimpfwort gehört. Daran, dass er ein Deutscher sei, habe er früher nie gedacht. Nun aber begann er, »allmählich den Unterschied zu merken zwischen meinen russischen Schulkameraden und mir«. Am Gymnasium wurde die deutsche Sprache verboten. Auch seien die Zeitungen tagtäglich voll gewesen von Berichten über Gräueltaten der deutschen Soldaten, während seine russischen Verwandten »fast übereinstimmend das Gegenteil berichteten«.

1915 erlebte er in Moskau ein Deutschen-Pogrom mit der Ermordung von sechs oder sieben Deutschen, schwarzen Listen und Plünderungen deutscher und nicht-deutscher Läden und Privatwohnungen. In dieser Zeit, schreibt er, habe er erstmals viele Juden auf einmal gesehen. Juden hätten bis dahin in Moskau keine Wohnerlaubnis erhalten. Nur Juden mit Hochschulbildung hätten damals in Moskau ihren Wohnsitz gehabt. Von Juden selbst habe er bis dahin nichts gehört, »umsomehr aber jüdische Witze«. Das massenhafte Auftreten jüdischer Flüchtlinge, die vornehmlich aus Polen stammten, habe ihm bewusst gemacht, »wie groß der Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden ist. Schon rein äußerlich, in Gebärden, Kleidung und dem Auftreten auf der Straße und im Hause. Alles das war mir fremd und unangenehm.«

1917 erlebte er die nächste russische, von Sozialdemokraten geführte Revolution, die sich den Kampf gegen »Reaktion, Ausbeutung, Kriege und soziales Elend« auf die Fahnen geschrieben hatte. Ihn habe das mit seinen 17 Jahren »mitgerissen«. Wie auch in Deutschland würden nun »die paar restlichen Könige […] angesichts des Glücks und Friedens der anderen Völker...

Erscheint lt. Verlag 19.1.2022
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte 1918 bis 1945
Schlagworte Adolf Hitler • Antisemitismus • Austritt • Beitritt • Drittes Reich • Einstellungen • Entnazifizierung • Geschichte • Mitglieder • Motive • Nationalsozialismus • Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei • NSDAP • Organisationen • Parteiaustritt • Parteibeitritt • Parteigenossen • Parteimitglieder • persilschein • Sozialisation • Sozialstruktur • Spruchkammer
ISBN-10 3-593-44964-1 / 3593449641
ISBN-13 978-3-593-44964-7 / 9783593449647
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