Kindheit als Privileg (eBook)

Bildungsideale und Erziehungspraktiken in Russland (1750-1920)
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
480 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45010-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kindheit als Privileg -  Katharina Kucher
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Kindheit war in Europa seit dem 18. Jahrhundert eine Lebensphase, die gesellschaftliche Akteure zunehmend mittels Erziehung gestalteten und als Projektionsfläche für ihre Vorstellungen nutzten. Katharina Kucher bietet in dieser Studie erstmals einen umfassenden Überblick über die Geschichte der Kindheit in Russland von der Mitte des 18. bis ins 20. Jahrhundert. Gestützt auf einen reichen Quellenbestand, der von Gemälden und Fotografien bis hin zu neu ausgewerteten, einzigartigen Archivdokumenten reicht, leistet sie einen innovativen Beitrag zur Kultur- und Gesellschaftsgeschichte, insbesondere des Adels im Zarenreich.

Katharina Kucher, PD Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg und verantwortliche Redakteurin der »Jahrbücher für Geschichte Osteuropas«.

Katharina Kucher, PD Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg und verantwortliche Redakteurin der »Jahrbücher für Geschichte Osteuropas«.

2.Kindheit im Zeitalter der Aufklärung in Russland


Um eine Geschichte der Kindheit im Russland des 19. Jahrhunderts zu erzählen, muss der Blick zunächst auf das 18. Jahrhundert gerichtet werden. Dieses gilt auch in Russland als der Zeitraum, in dem im Kontext der Aufklärung die »Entdeckung der Kindheit« erfolgte. Ein wesentlicher Indikator dafür ist das gesellschaftliche und staatliche Interesse an Erziehung und Bildung, an der Formierung »neuer Menschen« vom Kindesalter an. Die Neuerungen des 18. Jahrhunderts treten vor dem Hintergrund der vorpetrinischen, religiös geprägten Vorstellungen von Kindheit deutlich zu Tage, verstehen doch die verfügbaren Quellen aus der Zeit vor 1700 die Kindheit in erster Linie als eine Phase, in der die Voraussetzungen geschaffen werden sollten für eine religiös gefestigte Persönlichkeit als Bestandteil einer patriarchal geordneten und fest in der Gesellschaft verankerten Familie.

Wichtige Quellen, um den Komplex, der die Ausprägung von Kindheit im 18. Jahrhundert maßgeblich konstituiert, zu fassen, sind die staatliche Bildungspolitik und pädagogische Schriften. Wichtige Anhaltspunkte bieten weiter die Malerei und die Entwicklung einer materiellen und intellektuellen Kultur für Kinder in Form von Kleidung, Spielen und Literatur. Für alle diese Bereiche lassen sich seit Peter I. und insbesondere mit der Regierungszeit Katharinas II. entscheidende Dynamiken feststellen und Veränderungen belegen, die weit in das 19. Jahrhundert hineinreichten. Wesentliches Kennzeichen aller angesprochenen Bereiche war der vielfältige Einfluss der europäischen Aufklärung, die im Rahmen eines intensiven Wissens- und Kulturtransfers in Russland Einzug hielt und die Rezeption und Konzeption von Kindheit mitprägte.

Dieses Kapitel stellt nach einer knappen Rückschau auf die Entwicklungen vor 1700 pädagogische Leitdiskurse des 18. Jahrhunderts in Form von Erziehungsplänen, Kinder-Lektüren und staatlichen Maßnahmen wie die Gründung des Smol’nyj-Instituts bei gleichzeitiger »Sichtbarwerdung« von Kindern im Rahmen einer sich ausbildenden materiellen Kultur vor und fragt nach Ansprüchen und Spezifika von Erziehungsvorstellungen und -praktiken. Angesichts des intensiven Transfers westeuropäischen Gedankenguts in fast allen die Kindheit betreffenden Bereichen stellt sich weiter die Frage nach der Existenz einer nationalen, einer russischen Kindheit. Eine Herangehensweise, die die bekannte Dichotomie russisch vs. ausländisch ausspielt, erscheint wenig fruchtbar. Die Ausführungen gehen deshalb von der Annahme aus, dass sich im Russland des 18. Jahrhundert ein bestimmter Typ von Kindheit herausbildete, dessen Spezifik die Transnationalität war – konstituiert durch ausländische Einflüsse einerseits und russische Kultur und Umgebung andererseits.

2.1Kindheit, Erziehung, Schulbildung und pädagogische Vorstellungen bis zur Regierungszeit Katharinas II.


Das Verhältnis von Eltern und Kindern im alten Russland schien von klaren Vorstellungen geprägt gewesen zu sein.96 So zeugen die Kapitel 15–18 des Domostroj, des altrussischen Hausbuches aus dem 16. Jahrhundert, von den auf die Familien projizierten pädagogischen Vorstellungen.97 Dabei hatten Eltern die Pflicht, ihre Kinder »in guter Zucht (und Ordnung) zu erziehen«, sie »Gottesfurcht und Sittsamkeit und jeglichen Anstand zu lehren«.98 Befanden sich die Kinder beiden Geschlechts bis zu ihrem siebten Lebensjahr hauptsächlich unter Aufsicht der Mütter, übernahmen die Väter in Ermangelung eines »formalen Schulsystems« fortan die Ausbildung der Söhne; die berufliche Qualifikation konnte auch außerhalb der Familie erlangt werden.99 Mütter vermittelten ihren Töchtern die Fertigkeiten, die diese für ihr künftiges Dasein als Ehefrau und Mutter benötigten. Generell galten Schläge, nicht anders als im Westeuropa der damaligen Zeit, als probates Erziehungsmittel: »Bei der Unterweisung und Belehrung und (wenn man ihnen) Ratschläge gibt, soll man sie körperlich züchtigen: Züchtige die Kinder in der Jugend, dann verschaffst du dir Ruhe in deinem Alter«, heißt es in Kapitel 15.100 In Kapitel 17 wird nochmals bekräftigt:

»Züchtige deinen Sohn von seiner Jugend an […]. Und werde nicht müde, den Knaben zu schlagen […]. Erziehe ein Kind unter Drohungen, und du findest Frieden und Segen an ihm. […] und laß ihm in der Jugend keine Eigenmächtigkeiten durchgehen, sondern brich ihm die Rippen, solange er heranwächst. Wenn er aber (einmal) verstockt ist, gehorcht er dir nicht (mehr), und er wird dir zum Verdruß und Seelenschmerz; und dein Haus wird abkommen, Hab und Gut verfallen und von den Nachbarn (wirst du) Tadel und Hohn von den Feinden (ernten); von der Obrigkeit (wirst du) Geldbußen und bösen Ärger (erfahren).«101

Im Falle der Töchter ging es hauptsächlich darum, deren Jungfräulichkeit zu bewahren, rechtzeitig die Bereitstellung einer Mitgift zu sichern und den Mädchen Gottesfurcht und Handfertigkeit zu vermitteln.

In dem Essay »Dva vospitanija« (»Zwei Erziehungen« bzw. »Two Childhoods«) hat Vasilij Ključevskij 1893 Vorstellungen von Kindheit im alten Russland und im katharinäischen Zeitalter anhand des Domostroj und Ivan Beckojs Statuten »Über das Aufziehen beider Geschlechter« aus dem Jahr 1764 verglichen.102 Bezüglich des Domostroj unterstrich Ključevskij die Bedeutung der Familie im Sinne einer erweiterten Sippe, als Schule, in der die Väter als Lehrer fungierten. Er hob hervor, dass das altrussische Hausbuch, dessen Anweisung bezüglich der Kindererziehung für einen modernen Menschen mitunter grausam anmutet, Plan und nicht unbedingt Praxis häuslicher Erziehung war und die erwähnten körperlichen Strafen differenziert als Ausdruck pädagogischer Anteilnahme zu betrachten seien: »Es war bekannt, dass eine liebende Hand nicht schlägt, um Schmerz zu verursachen, verletzt dies doch auf jeden Fall denjenigen, der schlägt, mehr als den Geschlagenen.«103 Er unterstrich die Relevanz der anderen im alten Russland gebräuchlichen Erziehungspraxis des »visuellen Modells«, des »gelebten Beispiels«, für das die »moralische Atmosphäre« eine »kontinuierliche Vertiefung« darstellte »bei der das Kind Informationen, Ansichten, Gefühle und Gewohnheiten« aufnehmen konnte.104

Schulen, die öffentlich zugänglich waren, existierten bis zu den 1680er Jahren kaum. In erster Linie war es deshalb Aufgabe der Eltern, ihren Kindern eine elementare Bildung (Lesen, Schreiben, religiöse Unterweisung) zu vermitteln. Vereinzelte Versuche, Kinder zu unterrichten, insbesondere seitens der Kirche, hatte man sich als private Zirkel vorzustellen, »die sich um einige gelehrte Mönche scharten«.105 Dabei kamen die wichtigsten Bildungsimpulse aus der Ukraine. Mit dem Friedensschluss von Andrusovo 1667 wurde die Südwestexpansion des Zarenreiches auf Kosten Polen-Litauens vertraglich besiegelt. Dies führte dazu, dass Russland nun über Bildungseinrichtungen eines Teils der Ukraine verfügte.106 Eine zentrale Institution stellten die von Petr Mohyla nach »west- und mitteleuropäischen, insbesondere an jesuitischen Kollegien« orientierte Akademie in Kiew dar sowie die zum Schutz der Orthodoxie errichteten Bruderschaftsschulen.107 Dabei waren die bis Mitte des 17. Jahrhunderts existierenden Bildungsbemühungen und die Pädagogik im Wesentlichen auf die »Verteidigung des religiösen Glaubens« ausgerichtet.108

In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts begann sich dies mit dem wachsenden Einfluss der Aufklärung zu verändern. In dem pädagogischen Traktat »Graždanstvo obyčaev detskich« (»Die Anerkennung kindlicher Gewohnheiten«) ist zwar als Ziel »die Erziehung im christlichen Geist« neben dem »Studium der freien Wissenschaften« und der »Aneignung prächtiger Gewohnheiten« genannt; das Kapitel zur christlichen Erziehung steht aber erst an dritter Stelle und fällt vergleichsweise knapp...

Erscheint lt. Verlag 14.12.2022
Reihe/Serie Campus Historische Studien
Campus Historische Studien
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte Neuzeit (bis 1918)
Schlagworte 19. Jahrhundert • Adel • Bildung • Bürgertum • Erziehung • Gesellschaft • Gesellschaftsgeschichte • Kinder • Kindheit • Kindheitsgeschichte • Kulturgeschichte • Pädagogik • Porträt • Russisches Kaiserreich • Russland • Sozialgeschichte • Zarenreich
ISBN-10 3-593-45010-0 / 3593450100
ISBN-13 978-3-593-45010-0 / 9783593450100
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