Predigt, Publikum und Seelenheil (eBook)

Lutherische Pfarrpraxis im Berlin des 18. Jahrhunderts
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
416 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45003-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Predigt, Publikum und Seelenheil -  Florian Grumbach
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Wie gestaltete sich in der Residenzstadt Berlin im 18. Jahrhundert - der Epoche der Säkularisierung und der Entstehung einer bürgerlichen Kultur - das Handeln lutherischer Geistlicher zwischen Gemeinde und Obrigkeit? Auf breitem Quellenfundament veranschaulicht Florian Grumbach die pastorale Praxis und die Routinen der Amtsarbeit der Geistlichen, etwa ihre Predigten und ihr Publikationsverhalten. Als Akteure im frühneuzeitlichen öffentlichen Leben speisten Pfarrer ihr Standesbewusstsein aus der Rolle als religiöse Experten, Lehrer und dem geistlichen Amt. Die pastorale Praxis dagegen unterlag nicht allein ihrem Zugriff, sondern ebenso den Einflüssen der Gemeindemitglieder und des landesherrlichen Kirchenregiments, die oftmals von der lutherischen Theologie abgekoppelte Erwartungen hegten.

Florian Grumbach ist Historiker.

Florian Grumbach ist Historiker.

II.Lutherische Kirche im Berlin des 18. Jahrhunderts


Das 18. Jahrhundert ist als Zeitalter der Vernunft154 und der Aufklärung bezeichnet worden; als Säkulum, in dem »spätestens« die »intellektuellen Grundlagen der Moderne« gelegt wurden.155 Es wurde – nicht zuletzt – als Periode der europäischen Expansion etikettiert. Expansion meint hier nicht nur den immensen Wuchs der Bevölkerung des Alten Kontinents, sondern auch die Ausweitung der Bildungssysteme, die Vergrößerung der Armeen, des Medienmarktes und die Entstehung einer neuen Öffentlichkeit.156 Diese sich wechselseitig beeinflussenden und grundlegenden Veränderungen beschleunigten sich ab der Mitte des 18. Jahrhunderts und führten zu bisher ungekannten, dynamischen Vorstellungen von Vergangenheit und Zukunft.157

Auch Berlin erlebte im 18. Jahrhundert eine Phase beschleunigten Wachstums: Das oft, mal im Zusammenhang mit der Aufklärung,158 mal mit der Rangerhöhung Friedrichs I. (1657–1713)159 zitierte Anagramm Berolinum – orbi lumen, das der Dichter und Pfarrer Johann Kayser (1654–1721) unter den Eindrücken einer Berlinreise verfasste,160 war nicht nur Ausdruck der Begeisterung für die prachtvolle Residenz an der Spree, sondern auch für ihr stetiges Wachstum. Eingebettet in einen Vers hieß es vollständig: »Quotidie accrescens Berolinum, Lumen est Orbi«.161

Tatsächlich wuchs die Bevölkerung im Berlin des 18. Jahrhunderts immens. Hatte die Stadt 1680 lediglich 16.500 Bewohner, waren es 1740 bereits 90.000 und um 1800 bevölkerten 170.000 Menschen die Stadt, trotz der wiederholt auftretenden Pestepidemien und des verheerenden Siebenjährigen Krieges.162 Bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurden mehrere Stadterweiterungen angelegt, wie der Friedrichswerder (1662) die Dorotheenstadt (1674)163 und die Friedrichstadt (1688),164 die im 18. Jahrhundert zunehmend wuchsen. 1709 wurden die Zwillingsstädte (Alt-)Berlin und Cölln mit dem Friedrichswerder, der Friedrichstadt und der Dorotheenstadt zusammengefasst. Die zuvor einzeln privilegierten Stadtteile verloren dabei erhebliche Teile ihres Selbstverwaltungsrechtes und die Stadtverordneten und Bürgerpräsidenten im neu konstituierten Magistrat waren fortan faktisch Funktionsträger des Landesregiments.165

Diese Entwicklung war keineswegs ein Automatismus. Noch im 17. Jahrhundert war Königsberg die größere Stadt, die als Residenz auf ältere Rechte verweisen konnte. Doch bereits in den letzten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts entwickelte Berlin einen deutlich urbaneren Charakter: Die Nutztiere verschwanden aus den Straßen, die Bebauung griff auf die umliegenden Äcker über. Im 18. Jahrhundert veränderte die Gründung von Manufakturen, die Errichtung einer Akzise-Mauer und die weit verbreiteten Einquartierungen von Soldaten das Bild der Stadt nachhaltig. Dies alles stieß nicht nur auf Gegenliebe und zur Mitte des Jahrhunderts waren die Meinungen über Berlin weit auseinandergedriftet und reichten vom zitierten orbi lumen bis zu lauten Klagen über Schmutz, Prostitution und Zuzug.166 Schließlich war eine »multifunktionale Haupt-, Residenz- und Garnisonstadt« entstanden, die durch immense Zuwanderungen geprägt wurde und ein Zentrum für die Migration aus deutschsprachigen Gebieten darstellte. Zugleich bildete sich eine bürgerliche Stadtgesellschaft über einen relativ kurzen Zeitraum aus.167

Der wachsende Druck durch die Ausdehnung der Stadt und der Bevölkerung war nicht selten in den Kirchengemeinden zu spüren. Vor allem zwei Arten von Problemen entstanden dadurch für die Geistlichen und die Kirchgänger: In ausgedehnten Stadtteilen war der Weg zur nächsten Kirche sehr weit und oftmals beschwerlich, vor allem im Winter oder bei Nässe. Die Kirchen und die Beichtstunden konnten überfüllt oder die Gottesdienste so stark besucht sein, dass nicht genug Plätze zur Verfügung standen. Unter besonderem Leidensdruck beschwerten sich Gemeinden bei ihren Patronen über die Zustände, wie die Gemeinde der Cöllner Vorstadt im Jahr 1759 beim städtischen Magistrat: Es habe sich wiederholt zugetragen, dass der Prediger der dortigen Sebastianskirche es nicht vermochte, Kranke und Sterbende rechtzeitig zu besuchen und diese

»einstmahls ohn allen Trost und Beistandes, ohn heiliges Abendmahl, dahin sterben müßen, welches die Seelensruhe derer Verstorbenen mit der größten Betrüblichkeit ihres Gewißens […] sehr zu hertzen gegangen […].«

Zudem seien auch Beichte und Gottesdienste überfüllt:

»[…] da bei einer so zahlreichen Gemeine eines Predigers es bishero nicht anders hat seyn können, daß wan die Gemeine zum Heiligen Abendmahl zu gehen sich resolvieret, es geschehen, daß zu weilen über 50. Personen beyderley Geschlechts in der Sacristey zum Beichten herin da zugegen, und dadurch die Gottes fürchtigen Gemüther in Unruhe setzen […]«168

Der zuständige Inspektor, der Propst und Demograf Johann Peter Süßmilch (1707–1767), unterstützte die Forderung der Gemeinde. Er erklärte, dass die Sebastianskirche lediglich einen Prediger habe und berechnete, die Parochie zähle stolze 8060 »Eingepfarrte«. Zudem seien die Grenzen »vom Mittelpunkt zu weit entfernt«, sodass mancher Hausbesuch gar eine »kleine Reise« sei. Bei schlechten Witterungsverhältnissen und Krankheitswellen im März und April sei daher die Betreuung Kranker und Sterbender nicht zu bewältigen. Süßmilch forderte daher, eine zusätzliche Pfarrstelle zu schaffen.169

Trotz der gravierenden Probleme wurde erst nach fünf Jahren ein zweiter Prediger in die Cöllner Vorstadt bestellt. Legt man die Statistik Süßmilchs zugrunde, betreute er immer noch 4030 Seelen.170 Zwar mag dieses Verhältnis ein extremes Beispiel sein, aber die Schwierigkeiten, die unüberschaubar große Gemeinden für Geistliche mit sich brachten, waren häufig diskutierte Problemstellungen. Unabhängig von ihrer theologischen Prägung sollten Pfarrer und Prediger ein verbindliches und persönliches Seelsorger-Verhältnis mit den Individuen ihrer Gemeinde eingehen. So findet sich im einschlägigen, eher aufgeklärten Journal für Prediger171 eine anonyme, kurze Abhandlung über die Frage »Wie lernt ein neu angehender Prediger seine Beichtkinder kennen?«. Gleich zu Anfang wird zwischen kleinen Dorf- und großen Stadtgemeinden unterschieden und es folgen hilfreiche Ratschläge, wie ein Landgeistlicher alltäglichen Kontakt mit seinen Gemeindemitgliedern aufbauen kann, ohne die Würde seines Standes zu verletzten. Über die Stadtgemeinden im Speziellen schwieg der anonyme Autor allerdings und lieferte keine spezifischen Lösungen für schwer überschaubare, urbane Parochien.172

Es darf daher vermutet werden, dass sich die Verhältnisse der pastoralen Praxis im urbanen Raum von denen in ruralen Gebieten unterschieden, die Übersicht der Geistlichen geringer, der seelsorgerische Kontakt punktueller, kurz, dass die Beziehungen weniger persönlich und eng waren und sich mit dem Wachstum der Stadt zunehmend lockerten. Dadurch veränderte sich die Kirche als sozialer Ort und Mittelpunkt. Die städtische, »im Konsens durchgesetzte« und »obrigkeitlich gesteuerte […] religiöse Orthodoxie«, die im konfessionellen Zeitalter vorherrschte, verlor ihre Integrationskraft in dem »grundlegenden gesellschaftlichen Wandel seit der Mitte des 18. Jahrhunderts«.173 Für die Residenzstadt hat Agnes Winter die These vertreten, dass vor allem massives Bevölkerungswachstum zu Erosionserscheinungen in den Kirchengemeinden führte.174 Sicherlich lassen sich der Bedeutungswandel der Kirchen und die sozialen Veränderungen nicht monokausal erklären. Für Berlin und insbesondere die Berliner Kirchenlandschaft hatte die Expansion der Stadt nichtsdestoweniger einen signifikanten Anteil an diesen Entwicklungen.

Im Folgenden soll daher der Versuch unternommen werden, die »religiöse Topografie« Berlins zu skizzieren. Dazu soll zunächst beschrieben werden, welche Hierarchien und Strukturen in den Kirchengemeinden und welche personellen Verhältnisse unter den Bediensteten vorherrschten. Schließlich soll herausgearbeitet werden, dass die Berliner Geistlichkeit eine relative Elite ihres Standes darstellte und durch die räumliche und personelle Nähe zum Informationsfluss der Kirchenadministration in einer besonderen Position war. Zudem soll argumentiert werden, dass besonders das Bevölkerungswachstum ein grundlegender Prozess...

Erscheint lt. Verlag 13.4.2022
Reihe/Serie Religion und Moderne
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte Neuzeit (bis 1918)
Schlagworte 18. Jahrhundert • Aufklärung • Berlin • evangelische Geistlichkeit • Evangelische Kirche • geistliche • Gemeinde • Geschichte • Katechisation • Kirche • Kirchengeschichte • Lutheraner • lutherische Kirche • lutherische pastorale Praxis • Obrigkeit • Öffentlichkeit • Pietismus • Praktische Theologie • Predigt • Preußen • Protestantismus • Religionsgeschichte • Säkularisierung
ISBN-10 3-593-45003-8 / 3593450038
ISBN-13 978-3-593-45003-2 / 9783593450032
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