Deutsche Dämonen (eBook)
432 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11698-4 (ISBN)
Monica Black ist Associate Professor an der University of Tennessee, Knoxville, und Historikerin des modernen Europas. Sie ist die Herausgeberin der Zeitschrift Central European History und Autorin des preisgekrönten Buches Death in Berlin: From Weimar to Divided Germany und gilt als eine der besten Koryphäen der deutschen wie auch der europäischen Sozial- und Kulturgeschichte.
Monica Black ist Associate Professor an der University of Tennessee, Knoxville, und Historikerin des modernen Europas. Sie ist die Herausgeberin der Zeitschrift Central European History und Autorin des preisgekrönten Buches Death in Berlin: From Weimar to Divided Germany und gilt als eine der besten Koryphäen der deutschen wie auch der europäischen Sozial- und Kulturgeschichte.
Einleitung
Frau N. und ihre Familie stammten aus einem Dorf in Franken. Frau N.s Vater galt dort als »Braucher«, als eine Person, die über gewisse Heilkräfte verfügte. Wenn auch die alteingesessene Bevölkerung dieses Ortes sich auf Menschen verließ, die über solche Kräfte verfügten, betrachteten Dorfgemeinden wie diejenige, in der Frau N. lebte, mit Heilkräften ausgestattete Menschen mit Argwohn, ja sogar mit Misstrauen. Konnte nicht jemand, der es vermochte, eine Krankheit durch Zauberkräfte zu heilen, eine solche Krankheit auch verursachen? Als Frau N.s Vater einen »schweren Tod« starb, sahen sich viele Nachbarn der Familie in ihrem Argwohn bestätigt, dass er mit finsteren Mächten im Bunde war, und jetzt übertrug die Gemeinde dieses Unbehagen auf Frau N. selbst. Man sagte ihr auch nach, dass sie sich von den Dorfbewohnern abhebe, »gegen den Strom« schwimme und sich zu sehr an den Wertvorstellungen der »höheren Schicht« orientiere.
Die ernsthaften Probleme für Frau N. setzten jedoch erst ein, als Herr C. ins Dorf kam. Er nahm für sich in Anspruch, über Heilwissen zu verfügen, und behauptete, er könne die Ursachen von Krankheiten erkennen, indem er Zeichen deute – mit Hilfe seines Wasserglases, in dem er Holzkohlestückchen, Brotbrocken und abgebrochene Zweigchen vom Reisigbesen schwimmen ließ. Er wurde im Dorf mit »magischen« Praktiken aktiv und gab vor, über magnetische Kräfte zu verfügen. Außerdem verbreitete er Gerüchte über Frau N. und erzählte, er habe durch ein Fenster beobachtet, wie sie in einem Buch las, das Zaubersprüche und -formeln enthalte. Herr C. schloss daraus: »Sie arbeitet mit dem Teufel im Bunde, ich mit Gott.«
Herr C. trank, arbeitete wenig und vernachlässigte seine große Familie. In der Dorfgemeinde hielt man nicht besonders viel von ihm. Doch nach dem plötzlichen Tod zweier Bauern in mittleren Jahren verschärften sich die ohnehin bereits kursierenden Verleumdungen gegen Frau N. Sie wurde verdächtigt, beide Todesfälle beeinflusst zu haben. Die plötzlich einsetzende Essunlust eines Pfarrerskindes wurde ihr ebenso zur Last gelegt wie der Tod eines Schweins, das einer mit ihr befreundeten Familie gehörte. Herr C. sagte nun voraus, dass auch die Kinder dieser Familie krank werden und danach gelähmt sein würden. Er wies die Mutter der Kinder an, deren Urin zu sammeln, wenn sie dem Fluch entgehen wolle; er werde ihn dann nachts im Hof der Frau N. verspritzen, um den Bannfluch zu brechen. Er sagte außerdem voraus, Frau N. werde dreimal zu dieser Familie kommen, um etwas zu entleihen; man dürfe ihr aber unter keinen Umständen etwas geben. Herr C. sagte, wenn alle seine Anweisungen genauestens befolgt würden, habe Frau N. keine Macht mehr über die Familie.
Die Familie lehnte Herrn C.s Hilfe ab, blieb aber zutiefst besorgt. Herr C. war es gelungen, im Ort ein Klima großer Angst zu erzeugen. Banalste Vorkommnisse wurden im Dorf jetzt als Ergebnisse von Hexerei ausgelegt. Kindern verbot man, etwas zu essen, was von Frau N. zubereitet worden war, oder Geschenke von ihr anzunehmen. Brachte sie zu einer Hochzeit Blumen mit, wurden sie weggeworfen. Verschenkte sie eine Setzpflanze, wurde diese prompt entfernt.
Frau N. blieb schließlich kein anderes Mittel mehr, als Herrn C. zu verklagen. Er wurde schließlich wegen übler Nachrede zu einer verhältnismäßig niedrigen Gefängnisstrafe verurteilt. Nach dem Prozess mochten weiterhin Gerüchte über Frau N. verbreitet worden sein, aber sie wurden nicht mehr offen ausgesprochen.[1]
▪▪▪
Als ich zum ersten Mal etwas über Frau N. und Herrn C. las, klang ihre Geschichte für mich – bis zur überraschenden Wendung am Schluss – wie ein Geschehen, das sich im Europa der frühen Neuzeit abgespielt haben könnte. Aber dann folgt die jähe Kehrtwendung: Frau N., die bis dahin verfolgte und diffamierte Person, geht vor Gericht, um dem Geschehen ein Ende zu machen. Herr C., der Ankläger, wird verurteilt und erhält eine Haftstrafe. Ein solches Ergebnis wäre im 16. oder 17. Jahrhundert kaum zu erwarten gewesen, zu einer Zeit, in der allein schon die Beschuldigung wegen Hexerei umfassende gerichtliche und behördliche Ermittlungen nach sich ziehen konnte. Die Folterung von Verdächtigen führte oft zur Nennung von weiteren »Hexen«. Das Ergebnis waren dann in zahlreichen Fällen Hinrichtungen und Verbrennungen.
Aber die Geschichte von Frau N. und Herrn C. ereignete sich nicht im 16. oder 17. Jahrhundert. Sie spielte sich unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg ab, in der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland. Nach den Schrecken des Dritten Reiches, nach dem Holocaust und dem blutigsten und nihilistischsten Konflikt der Menschheitsgeschichte sah es für eine gewisse Zeit so aus, als wären Hexen – Männer und Frauen, von denen man glaubte, dass sie das Böse verkörperten und mit ihm im Bunde seien – auf das Land losgelassen worden. Im Zeitraum von etwa 1947 bis 1965 kam es im ganzen Land zu Dutzenden von »Hexen-Prozessen« – die Presse prägte diesen Ausdruck –, vom katholischen Bayern im Süden bis zum protestantischen Schleswig-Holstein im Norden. Zu den Schauplätzen zählten kleine Dörfer in ländlicher Umgebung wie das von Frau N., aber auch Klein- und Großstädte.
Ein Vorwurf der Hexerei im Nachkriegsdeutschland bedeutete letztendlich, dass jemand heimlich begangener böser Taten bezichtigt wurde und von einer bösartigen Verschwörung die Rede war. Nach dem Ende des Nationalsozialismus schien in der Nachkriegszeit die Frage des Bösen die Vorstellungskraft und das Alltagsleben vieler einfacher Bürgerinnen und Bürger zu beschäftigen und zu durchdringen, und »Hexen« waren dabei nur eine der zahlreichen Erscheinungsformen. In den Archiven fand ich Quellen, in denen Menschen berichten, dass sie von Teufeln verfolgt würden und deshalb Exorzisten engagierten. Ich erfuhr von einem ungemein populären Heiler, der behauptete, er verfüge über die Fähigkeit, die Guten und die Bösen auszumachen, könne die Ersteren heilen und die Letzteren vertreiben. Ich stieß auf Gerichts- und Polizeiakten, in denen Gebetskreise beschrieben wurden, deren Mitglieder zusammenkamen, um eine dämonische Ansteckung zu bekämpfen. Ich las Berichte über Menschen, die Massenpilgerreisen zu heiligen Stätten unternahmen, um dort spirituelle Heilung und Erlösung zu finden. In Zeitungsausschnitten entdeckte ich Endzeit-Gerüchte, die den Bösen den Untergang prophezeiten und den Unschuldigen die Errettung verhießen.
Um zu erkennen, wie Hexerei und andere Fantasievorstellungen über das Böse uns ein Verständnis der frühen Nachkriegsjahre in Westdeutschland erleichtern können, müssen wir das Thema Hexerei anders angehen, als wir das üblicherweise tun. Bei den Anschuldigungen wegen Hexerei im Westdeutschland der Nachkriegszeit ging es – im Unterschied zu den Hexerei-Hysterien des 16. und 17. Jahrhunderts – nicht um Sex mit dem Teufel, Besenritte bei Nacht, wundersame Schwebeflüge oder Treppenstürze, die ohne Schaden blieben. Auch Sukkuben und Inkuben oder der Hexensabbat gehörten nicht mehr zum Repertoire.[2] Die Geschichte von Frau N. und Herrn C. und viele andere dieser Art kamen eher nüchtern und nicht gerade fantastisch verstiegen daher. Zwar unterstellten auch diese Beschuldigungen aus Zauberei herrührende böse Taten, beruhten aber in erster Linie auf gewöhnlichen Verdachtsmomenten, Eifersucht und Misstrauen. Aber diese Geschichten waren, so trivial sie auf Außenstehende auch gewirkt haben mögen, todernst, existenziell ernst, weil sie sich um Gut und Böse und Krankheit und Gesundheit drehten.
Der Glaube an Hexen, Dämonen und Wunderheilung ist kein bloßer Überrest einer »vormodernen« Welt, der, statisch und zeitlos, unverändert von einer Generation an die nächste weitergegeben würde. Die verschiedenen Ausprägungen dieses Glaubens weisen eigene kulturelle Gepflogenheiten und Geschichten auf, die sich im Lauf der Zeit wandeln. Aber sie verfügen auch, über die Epochen und geografischen Entfernungen hinweg, über gemeinsame Wesenszüge. Fast alle Menschen, die in den 1980er Jahren in den Vereinigten Staaten lebten, werden sich beispielsweise an die landesweit zu beobachtende Zwangsvorstellung erinnern, die mit mutmaßlichen satanischen Kulten und rituellem Kindesmissbrauch zu tun hatte. Diese Zwangsvorstellung unterscheidet sich zwar in den meisten Einzelheiten von den in diesem Buch erörterten Episoden, teilt aber dennoch bestimmte Motive mit ihnen: Die Anschuldigungen flammten meist in engen zwischenmenschlichen Beziehungen auf, zwischen Familien, Betreuungspersonen und Nachbarn. In den Behauptungen steckte ...
Erscheint lt. Verlag | 20.10.2021 |
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Übersetzer | Werner Roller |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Zeitgeschichte ab 1945 |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | Deutschland • Hexen • Nachkriegsdeutschland • Nachkriegszeit • Nationalsozialismus • Okkultismus • Stunde Null • Verschwörungsmythen • Verschwörungstheorie • Wahrsager • Wunderheiler • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-608-11698-2 / 3608116982 |
ISBN-13 | 978-3-608-11698-4 / 9783608116984 |
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