Verkappte Religionen -  Carl Christian Bry

Verkappte Religionen (eBook)

Neu bearbeitete Ausgabe (Klassiker der ofd edition)

ofd edition (Herausgeber)

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2021 | 1. Auflage
335 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7543-7449-8 (ISBN)
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"... ein vergessenes Meisterwerk ..." Peter Sloterdijk in "Was geschah im 20. Jahrhundert" über Brys "Verkappte Religionen" Wer es wagt, die ausgetretenen Pfade der Geistesgeschichte zu verlassen, kann selbst heute noch verborgene Schätze heben. Zu den schönsten Fundstücken auf diesen Entdeckungsreisen gehört das Buch "Verkappte Religionen" von Carl Christian Bry. Seine Publikation ist ein handlicher, aber trotzdem gut gefüllter Werkzeugkasten für die Diagnostik kollektiver "Wahnvorstellungen". Die Lektüre der lebendigen und geistreichen Analyse lohnt gerade in heutigen Zeiten, in denen eine Vielzahl von synkretistischen Sinnangeboten und "Verschwörungstheorien" um die politische Deutungshoheit kämpfen. Wie bei allen Werken der ofd edition wurde die ursprüngliche Druckfassung der 2. Auflage (1925) nicht automatisiert kopiert, sondern sorgfältig neu editiert und der aktuellen Rechtschreibung angepasst - die bessere Lesbarkeit und Gestaltung verhilft so zu einem ungetrübten Lesegenuss. Eine Einführung erläutert den historischen Hintergrund und Interpretationsansätze.

Carl Christian Bry (1892-1926) war ein deutscher Publizist, der vor allem durch sein Buch "Verkappte Religionen" (1924) bekannt wurde.

Erster Teil: Heroische Hinterweltler


V. Im Vorhof

Vor über 30 Jahren erschien die deutsche Ausgabe eines dicken Buches, das zum ersten Mal den Versuch unternahm, wenigstens einige der verkappten Religionen als zusammengehörig zu erweisen. Es war der Band „Aberglauben und Zauberei“ von Alfred Lehmann, dem Direktor des psycho-physikalischen Laboratoriums an der Universität in Kopenhagen, ein Werk, das noch heute zum Beispiel in okkultischen Kreisen als das Hauptwerk mit widerlegender Tendenz gilt. Aber eben durch diese Einstellung geriet Lehmann auf einen Weg, der, wie wir bei Betrachtung des Okkultismus noch im Einzelnen sehen werden, in einer Sackgasse enden musste.

Wer die verkappten Religionen unter den Begriff Aberglauben summiert, übersieht einen wichtigen Zug: Das Hinterweltlertum ist immer rationalistisch begründet (auch wenn es tausendmal von den Mysterien des Blutes: dem Unerforschten, dem Okkulten redet). Der echte Aberglaube dagegen ist nie rationalistisch begründet. Er ist kein Ersatz für Religion, sondern ein illegitimer Bruder der Religion; er setzt die Religion voraus und er hängt deshalb in der einen oder anderen Gestalt allen Menschen an. Unmöglich, Karten zu legen, ohne an Gott zu glauben und sei es auch unbewusst. Der Aberglaube sucht keine Methode und keine Erklärung. Er vertraut vielmehr glatt auf das Wunder, in dem Gefühl, dass der Verstand unzureichend sei. Wenn ich glaube, dass ein gefundenes Hufeisen mir Glück bringen wird, so suche ich ebenso wenig eine Erklärung für diesen Glauben, als für die Existenz Gottes. Ich vertraue einfach. Der Unterschied zur Religion liegt mehr in der Veräußerlichung, als im Geiste oder sittlichen Verhalten. Wenn ich Karten lege, suche ich nicht irgendwelche neuen Gesetze und Lösungen der Welt; sondern ich vertraue – ganz religiös – dass Gott oder eine überirdische Macht die Karten wird so fallen lassen, dass sie nicht lügen. Ich versuche Gott; ich flehe zum Himmel um ein Zeichen; ich versündige mich; aber eben in dieser Versündigung erkenne ich – ganz religiös – das Unerforschliche an. Ich erkenne an, dass ich nichts weiß.

So kommt es, dass gerade die großen Menschen abergläubisch sind. Vor einer stürmischen Landtagssitzung in der Konfliktzeit schlägt Bismarck, der Realpolitiker, der Immoralist, der Germane, in dem wirklich, nicht nur auf dem Papier, altes unchristliches Reckentum die herrschende Macht geblieben ist: schlägt Bismarck die Bibel auf und findet die Losung: „Den Weg, den du gehst, werde ich mit dir gehen“ und geht darauf nicht nur froh, sondern geradezu vergnügt in den Kampf. Er wusste, dass man so klug sein kann, wie die Klugen dieser Welt und doch immer vorwärts tappt, wie das Kind ins Dunkle.

Der Hinterweltler, der Verkapptreligiöse, stammt aus dem gerade entgegengesetzten Bezirk. Sein Anfang ist der Besserwisser und die bescheidenste verkappte Religion, die am wenigsten beständige, aber vielleicht auch die am schwersten auszurottende, ist der Geheimtipp, der sich auf allen Lebensgebieten findet. Wir haben ihn im Krieg und zwar bei allen Kriegführenden erlebt. Da hatte Hindenburg schon im Frieden die ostpreußischen Sümpfe genau ausgemessen, in die er einstmals die Russen treiben wollte; da bekannten sich die Franzosen zu dem Glauben, die Deutschen hätten schon in Friedenszeiten im Kalk der Champagne geheime Schützengräben angelegt. Besserwisser oder vielmehr Schlimmerwisser erstanden an allen Ecken und Enden. Sie fanden sich im Felde, in der Heimat, im Unterstand, in der Etappe, auf dem Auswärtigen Amt und im Generalstab. Manchmal lag, wie in den größeren verkappten Religionen immer, ein Gramm Wahrheit auf dem Grunde des Geschwätzes. Aber nicht darauf kam es an. Verlockend war vor allem das Gefühl, es besser zu wissen, als die misera plebs, ein Eingeweihter zu sein. Man bekam mehr Selbstachtung, mochte auch die Geheimlosung morgen schon widerlegt sein. Denn übermorgen tauchte bestimmt eine schönere auf; Seifenblasen in allen Farben, meist aber in schwarz, waren ja billig.

Waren? Sie sind es noch heute. In Paris fabuliert man und vielleicht nicht nur aus politischer Berechnung, von Zeit zu Zeit über den deutschen militärischen Geheimbund „Friedrich Barbarossa“ mit drei Millionen Mitgliedern. Wir Deutschen, die wir wissen, dass das ein Märchen ist, fabulieren statt dessen nicht nur in Romanen, sondern an manchem Biertisch und im ernsten Männergespräch von dem geheimnisvollen Mittel, das die zu erwartenden französischen Flugzeuge aus der Luft zum Absturz bringen könne und von der Düngemittelerfindung, die unsere Ernten vervielfachen werde – Dinge, die nicht etwa beispielshalber von mir ungefähr erfunden sind, sondern die ich mit eigenen Ohren nicht als Hoffnung (als welche zum Beispiel die Vervielfachung der Ernten bei Leuten auftaucht, die jeder Scharlatanerie so abgeneigt sind, wie etwa Hans Heinrich Ehrler), sondern ganz in der Art des Geheimtipps als eine felsenfeste Tatsache, als schon ganz fertige Rettung, gehört habe. Hier diktiert natürlich das politische Augenblicksbedürfnis manches; wir werden diesen Zug noch öfter antreffen; aber wie vorhin bei Gelegenheit der Betrugsmöglichkeiten ausgeführt: Das Bezeichnende daran ist nicht so sehr, dass die Parole kaltblütig erfunden, sondern dass sie warmherzig geglaubt wird. Beseitigt werden kann sie nur, wie jede verkappte Religion, durch eine andere oder, wie wir hoffen wollen, durch echte Religion; nie aber durch Logik. Denn fragt man nun weiter, warum denn der geniale Erfinder nicht mit diesem Mittel herausrückt und uns rettet, so erhält man die Antwort: Ja, einer solchen Regierung wie heute stelle natürlich der Erfinder das Mittel nicht zur Verfügung. Wobei es ganz gleichgültig ist, um welche Regierung es sich handelt; denn der Besserwisser wird gegen jeden Besserwisser sein. Das Eigenartige und Bezeichnende ist, dass er seinen Erfinder nicht trotz des Nichtherausrückens, sondern gerade wegen des Nichtherausrückens für einen patriotischen Mann erachtet. Er ist für Logik unzugänglich geworden; er hat den Übertritt zur verkappten Religion vollzogen, ihre ersten Weihen empfangen.

Das Bedürfnis nach Geheimtun begleitet uns ja von frühester Jugend und nimmt nur später die mildere Form der Exklusivität an. Schüler haben ihre Geheimsprachen, Liebende ihre Geheimschriften; ein Klub hat seinen besonderen Slang und bei allen dreien wird das Geheimnis als süßes oder wertvolles empfunden – auch wenn es durchaus nicht nötig wäre, das Geheimnis zu wahren. Die Sache ist auch mehr als Mummenschanz, nicht mit den Vereinen Schlaraffia und Allotria zu verwechseln. Sie ist viel gewöhnlicher; das heißt viel tiefer verankert. Jeder Beruf, ja jede Passion entwickelt ihren eigenen Wortschatz. Es ist durchaus nicht gesagt, dass diese Fachwörter des Jägers, des Kartenspielers, des Buchdruckers, des Zimmermanns irgendwie bezeichnender sind, als die gewöhnlichen Ausdrücke – obgleich auch das häufig vorkommt – ihr Urwesen ruht vielmehr darin, dass sie nicht jeder versteht, dass sie den nicht dazu Gehörigen, den Nichteingeweihten ein Buch mit sieben Siegeln bleiben. Und dass sie letzten Endes (hier liegt ihr Zusammenhang mit den verkappten Religionen) ein Mittel sind, um sich gegen die Menschheit überlegen zu fühlen. Jeder Lehrling jedes Berufes fühlt sich gehoben, sobald er einmal die Fachsprache beherrscht. Das Merkwürdige bleibt aber, dass diese Erscheinung nicht etwa mit der Gewöhnung verschwindet, sondern sich womöglich noch verstärkt. Hier entsteht sozusagen der Ritus einer verkappten Religion, ohne die Religion selbst.

Aber die Erscheinung bleibt nicht auf Worte allein beschränkt. Der Drang nach Sonderwissen greift auf den Inhalt über. Ich habe vor einigen Jahren schaudernd erlebt, dass ein Dichter von gesundem und klarem Urteil bei einem Gespräch über den Faust mir plötzlich klarmachen wollte, dass Marlowes Faust eine viel stärkere Dichtung sei, als Goethes Faust; und dass er diese Meinung mit ganz überraschenden und durchweg richtigen Argumenten verfocht. Alles Einzelne stimmte unzweifelhaft und war gar nicht zu widerlegen; nur hatte er völlig das Gefühl für das Gesamte, für den Abstand zwischen Marlowes akademischem Zauberstück und Goethes Welttragödie verloren. Der Grund war weniger, dass er von Marlowes recht trockener Arbeit hochentzückt war, als dass er die Meinung über Goethes Faust nicht gelten lassen wollte, weil sie eben die allgemeine Ansicht darstellt. Ähnliches haben wir gerade auf literarischem Gebiet noch öfter erlebt. Zwischen den beiden Brüderpaaren, die in der modernen deutschen Literatur Ruf erworben haben, hat aus ganz demselben Grunde, dem Drang nach Besserwissen, das Urteil geschwankt. Als Gerhart Hauptmann sich anschickte, sich aus einem berühmten Dichter in eine Art Nationalbesitz zu verwandeln, als er unter viel Aufhebens seinen 50. Geburtstag beging, trat die Reaktion ein: Man fand, dass nicht so viel an ihm sei. Das hätte nun zu einer kritischen Auseinandersetzung, zu einer neuen Beleuchtung seines Werkes und Wertes führen können. Aber die „Eingeweihten“ kürzten damals das Verfahren ab. Sie wiesen weniger auf Gerhart Hauptmanns unzweifelhafte Schwächen hin. Sie tuschelten vielmehr einfach, dass in Wahrheit sein Bruder, Carl Hauptmann, der bei weitem Wertvollere und eben deshalb bis jetzt Unbeachtete sei. Während es sonst immer schwer ist, der Sohn oder der Bruder eines berühmten Mannes zu sein, verschaffte hier das Besserwissen, der Drang nach exklusiver, geheimer Kenntnis dem als Gesamterscheinung herzlich wenig bedeutenden Carl Hauptmann vorübergehend in engeren Kreisen einen beträchtlichen Ruf, ja sogar einen Erfolg. Natürlich konnte er nicht von langer Dauer sein; denn das Geheimnis blieb nicht lange Geheimnis und verlor...

Erscheint lt. Verlag 4.10.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Erkenntnistheorie / Wissenschaftstheorie
ISBN-10 3-7543-7449-4 / 3754374494
ISBN-13 978-3-7543-7449-8 / 9783754374498
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