Promenade der Fremden (eBook)

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2021 | 1. Auflage
121 Seiten
Verlag Karl Alber
978-3-495-82606-5 (ISBN)
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Das hypermoderne China trifft auf das Land der Dichter und Denker: Ein deutscher Professor verbringt einen Sommer in Shanghai - mit Kant, Fichte und Hegel im Gepäck. 13 Geschichten erzählen von diesem Abenteuer in der Fremde, in dem Kulturen aufeinandertreffen, die auf den ersten Blick unterschiedlicher kaum sein können. Vor der berauschenden Skyline Pudongs wird Vertrautes fremd, Fremdes kommt einem erstaunlich nah. Sowohl China, konfrontiert mit den Ideen der Aufklärung, als auch unsere alten Philosophen - was wussten die schon von Wolkenkratzern und Teezeremonien? - erscheinen nach dieser Reise in einem neuen Licht.

Franz-Alois Fischer, Jahrgang 1983, Franke, studierte Jura, Philosophie und Italienisch. Schon immer zwischen den Welten unterwegs, ist er nach philosophischer Promotion über Hegel an der LMU München heute Rechtsanwalt und Professor für Öffentliches Recht in München und gibt regelmäßig Seminare zur Politischen Philosophie an der LMU. Als freier Autor schreibt er philosophische, juristische und literarische Texte. 2019 war er für einen Sommer Gastdozent für Philosophie an der Fudan-Universität Shanghai und hat über seine Erfahrungen dort das Buch "Promenade der Fremden" geschrieben.

Drei

Es gibt nur ein Willy Hegel


Die ersten Tage liegen hinter mir und waren aufregend und neu. Zusammen mit Daniel war ich früh morgens gelandet, gegen die nassheiße Wand und hinein gelaufen in die überwältigende Weite der Stadt, die in keine Richtung ein Ende findet. Jetzt, da uns die Stadt aufgenommen hat, ist alles um uns herum Shanghai – rechts, links, oben, unten. Wo immer wir hinblicken, ragen die Hochhäuser in den Himmel, wo immer wir entlanglaufen, nässen sie auf uns herunter. Und trotzdem fühle ich mich frei. Befreit. Das Lasche meiner Münchner Existenz ist verschwunden und etwas Neues ist an seinen Platz getreten, das ich noch nicht genau benennen kann. Ich würde diesem Neuen gern denkend nachspüren, doch kann ich kaum einen Gedanken festhalten: Alles ist neu und nass und heiß, und meine Gedanken rasen, unkontrollierbar, in alle Richtungen davon. Ich komme ihnen kaum noch nach, dabei sind da schöne dabei, flüchtig zwar, doch aufregend, sie tragen eine Hoffnung in sich, die ich lange nicht empfunden habe. Ein erstes Selfie, das ich lieber für mich behalten werde, zeigt, wie mein Gesicht rot in angestrengte Denker-Falten geworfen ist – vergeblich, denn unter diesen Bedingungen bekomme ich einfach keinen klaren Gedanken zu fassen. Vielleicht, so schwirrt es mir durch den Kopf, habe ich ja das Nachdenken verlernt. Das wäre schön, oder?

Abgesehen vom drückenden Gefühl, in eine Waschküche geraten zu sein, sind unsere ersten Eindrücke seit der Landung ausnehmend positiv. Wir sind begeistert vom Hotel, das auf jedem Zimmer einen Glastisch mit breitem Ledersessel davor hat, sodass man sich beim Vorbereiten aufs Seminar wie ein Vorstandsvorsitzender fühlen kann. Unsere Gastgeber sind von einer aufopferungsvollen Freundlichkeit beseelt, die uns fast beschämt. Obwohl sie uns hier alles bezahlen, bedachten sie uns schon zur Ankunft mit Geschenken. Für die armseligen Minikrüge mit München-Wappen, die ich schnell noch als Mitbringsel am Flughafen gekauft hatte, schämte ich mich beim Überreichen. Ich habe jetzt noch das Gefühl, dass es besser gewesen wäre, gar nichts mitzubringen.

Eine Widrigkeit, für die Shanghai im Speziellen nichts kann, kam an den ersten Tagen noch hinzu, nämlich der Jetlag. Wir waren über Nacht geflogen. Den Fehler, während des Tages unserer Ankunft zu schlafen, konnte ich bei all dem Trubel vermeiden, aber natürlich bin ich am ersten Abend früh ins Bett gefallen. Um ein Uhr nachts war ich dann schon wieder wach; oder sagen wir: bei Bewusstsein. Irgendwie müde und doch aufgekratzt, zu erschöpft, um ernsthaft arbeiten zu können, zu kirre, um mich auszuruhen. Im Verlauf der Nacht drohte dann das diffuse Durcheinander der rasenden Gedanken, die ich seit der Ankunft hier habe, mich gänzlich zu verschlingen. Den Gedanken nachzugehen, war nicht mehr unterhaltsam, sondern furchteinflößend. Kein Gedanke hatte Bestand und so rasch, wie sie einander ablösten, mussten sie letzten Endes ins Nichts führen. Mir wurde mit einem Mal bewusst, wie weit entfernt von daheim ich wirklich war, sodann auch, wie hoch über dem Boden ich mich befand. Bevor ich mich in eine Panik hineinsteigern konnte, raffte ich mich lieber auf und ging zum Fenster. Vielleicht war es ja gar nicht gar so hoch? Ich schaute hinaus auf die dunkle Promenade und meine Beine wurden zu Gummi. Zum Glück sind die Hürden, die der chinesische Staat vor den westlichen Teil des Internets gesetzt hat, nicht allzu schwer zu umgehen. Mit einem VPN-Client konnte ich mich übers hoteleigene WLAN so mit dem Netz verbinden, als säße ich mit meinem Laptop in Europa. Dann konnte ich Netflix schauen und ein bissl den bewährten Zerstreuungsritualen frönen. Irgendwann in der Früh – es war schon lange hell – bin ich doch noch einmal eingeschlafen, nur um kurz darauf wieder von meinem Handy geweckt zu werden, mit starken Kopfschmerzen.

Die zweite Nacht war düster. Man konnte nur ein paar Häuserblocks weit sehen, denn überall war Nebel oder Smog, wobei mir der Unterschied während meines Aufenthaltes nie ganz klar wurde. Das linderte zwar das Gefühl von Verlorenheit in der Weite, rief jedoch das Gefühl des Eingeschlossenseins hervor; ein Gefängnis im Hochnebel. Da war es schön, dass ich mit ein paar Leuten in der Heimat schreiben konnte, die aber auch irgendwann ins Bett mussten, sodass ich wieder bei Netflix landete. In der Früh war es auch damit zu Ende, weil der VPN seinen Geist aufgab. Er ließ sich noch zweimal für ein paar Minuten verbinden, dann war er dauerhaft gesperrt. Vielleicht war der chinesische Staat doch etwas wehrhafter als zunächst vermutet. In jedem Fall waren damit Youtube, Netflix und all die anderen Zerstreuungsplattformen für mich unerreichbar. Die Gedanken waren mir die Nacht über geblieben, drängend und rasend wie die Nacht zuvor, aber noch unbestimmter und diffuser. Es war, als jagte ich Geistern hinterher, die mit jeder Minute der Schlaflosigkeit weiter an Kontur einbüßten. Sie verdichteten sich zu einem Nebel, der mir den Blick auf die Wirklichkeit zu nehmen drohte. Zum Schluss war eine chinesische Version von CNN meine letzte Ablenkungsmöglichkeit; es war der einzige englischsprachige Sender, der im Hotelfernseher zu finden war. Die Moderatoren sahen sehr asiatisch aus und sprachen sehr amerikanisch. Sie berichteten von Unwettern in Japan und Indien, standen vor großen animierten Wetterkarten, und analysierten die Lage smart und elanvoll. Seit meiner Ankunft sah ich außer meinen Kollegen keinen einzigen Westler und begegnete überall nur Chinesen. Vielleicht war es aber doch übertrieben und irgendwie auch typisch westlich, sich über diesen Befund in China ernsthaft zu wundern. Im Fernsehen hatten sie die Unwetter abgehandelt und zeigten nun Bilder von Menschenmassen und Polizisten, irgendwie ging es wohl um Hongkong. Plötzlich wurde das Bild schwarz. Damit war mir also auch die letzte Zerstreuung genommen und merkwürdigerweise fühlte sich das genauso an, als wäre die letzte Verbindung zur Außenwelt gekappt worden. Ich war auf mich selbst zurückgeworfen. Später erfuhr ich, dass das die Zensur der Hongkong-Reportagen gewesen war. Doch in jenem Moment bezog ich es auf mich. Für eine ganz formlose Zeitspanne – ich kann nicht sagen, waren es Sekunden, Minuten oder die restlichen Stunden der schlaflosen Nacht –, für eine unbestimmte Dauer war der Unterschied zwischen meinem Gedankennebel und mir selbst aufgehoben. Derjenige, der diesen Gedanken, erst spaßig-sportlich, dann immer verzweifelter, hinterherjagte, wurde eins mit ihnen. Ich war die. Es lag auf der Hand, dass irgendetwas Grundsätzliches nicht stimmen könne. So war ich mir in jenem zeitlosen Augenblick ganz sicher, mein Leben ändern zu müssen.

Am nächsten Tag weiß ich noch von meinem Entschluss, aber die unmittelbare Verzweiflung, die zu ihm führte, ist verflogen. Heute besuche ich Daniels erste Kant-Vorlesung. Es geht um Freiheit und um die Frage, ob es denn wirklich zwei Welten braucht, um die Freiheit zu sichern: eine Welt der Erscheinungen, in der wir bloße Spielbälle der Naturgesetze sind wie die Tiere, und eine ominöse andere Welt, in der Freiheit möglich ist. So, wie ich das verstehe, brauchen wir die zweite Welt überhaupt nur, weil sie die Freiheit ermöglicht. Die chinesischen Studenten wirken in der Mehrzahl brav und sind insgesamt ein wenig undurchsichtig; man ist sich nie ganz sicher, ob etwas gut bei ihnen ankommt oder nicht. Fast vollständig fehlen diese alternativen Typen, die in unseren Seminaren in Deutschland so häufig sind. Solche, die durch besonders auffällige Frisuren, extravagante Kleidung oder Kosmetik, gerne aber auch einfach durch allgemeine Ungepflegtheit ihr Anderssein und ihren Tiefsinn nach außen zu tragen versuchen – und die dann inhaltlich manchmal doch eher lasch und enttäuschend sind. Die Studenten im Vorlesungssaal der Fudan-Universität könnten auch – nach unseren Maßstäben – fast alle BWL oder Jura studieren, was mich an eine Freundin in Deutschland erinnert, die sich sehr darüber wunderte, dass es überhaupt chinesische Philosophiestudenten geben soll, weil Philosophie doch nichts bringe. Beim Anblick der hiesigen Studentenschaft denke ich mir, dass man in der Philosophie natürlich genauso Karriere machen kann wie in der Raketentechnik. Professor ist schließlich Professor. Ein weiterer Unterschied in den allgemeinen Äußerlichkeiten besteht darin, dass hier kaum dicke Leute zu sehen sind, obwohl doch alle die ganze Zeit am essen sind. Nur wenn man ganz genau hinschaut, findet man ein paar Personen im Auditorium, die für die chinesischen Maßstäbe einen Hauch von Alternativität versprühen. Einer von ihnen zeichnet sich durch eine große Kastenbrille aus, die ihm etwas Nerdiges verleiht. Er meldet sich jetzt schon zum dritten Mal. Er spricht schlechtes Englisch, aber immerhin spricht er, und er verbreitet mit seinen Fragen eine große Unruhe im übrigen Publikum, das sonst still und etwas gehemmt wirkt. Wenn ich ihn recht verstehe, will er darauf hinaus, dass die Beschreibung der ersten Welt – also der Welt der Naturgesetze, in der wir uns als Tiere begreifen müssen – doch bereits fehlerhaft sei.

»You cannot say: one, two, three, four, six!«, sagt er mehrfach, »There is always something between, that cannot be determinated.« Dann rekurriert er irgendwie auf Quantenphysik. Daniel gibt sich die größte Mühe, sein Anliegen zu verstehen, aber ein echter Dialog kommt nicht zustande. Trotzdem ist etwas im Hörsaal zu spüren: ein Funke? Der Anfang eines Gedankens? Ich weiß nicht. Es ist heiß, alle sind müde und erschöpft von den Anstrengungen eines ganzen Tags mit Kant … Was auch immer da war, es ist rasch erloschen.

Nach der Vorlesung werden wir, die Gäste aus Europa, von unseren...

Erscheint lt. Verlag 14.9.2021
Reihe/Serie philosophie_erzählt
Philosophie erzählt
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Östliche Philosophie
Schlagworte Aufeinandertreffen der Kulturen • China • Essen • Freiheit • Georg Wilhelm Friedrich • Hegel • Immanuel Kant • Individuum • Staat
ISBN-10 3-495-82606-8 / 3495826068
ISBN-13 978-3-495-82606-5 / 9783495826065
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