Phänomenologie der Lebenswelt. Ausgewählte Texte II (eBook)

Husserl, Edmund - Logik und Ethik - 14187

(Autor)

Klaus Held (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
367 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-961909-5 (ISBN)

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Phänomenologie der Lebenswelt. Ausgewählte Texte II -  Edmund Husserl
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Der zweite Band der zweibändigen Husserl-Auswahlausgabe enthält neben einer ausführlichen Bibliographie Texte zu folgenden Themen: Analyse der Wahrnehmung - Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins - Konstitution der Intersubjektivität - Das Problem der Lebenswelt. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

Analyse der Wahrnehmung

Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins
Einleitung
I. Analyse des Zeitbewusstseins

II. Die Konstitutionsstufen der Zeit und der Zeitobjekte
Konstitution der Intersubjektivität
I. Die primordiale Abstraktion
II. Die fremderfahrende Appräsentation
III. Zur Konstitution der höheren Stufen der Intersubjektivität

Das Problem der Lebenswelt
I. Die lebensweltliche Motivation der mathematisierten neuzeitlichen Naturwissenschaft
II. Grundzüge einer Wissenschaft von der Lebenswelt

Zu dieser Ausgabe
Anmerkungen
Literaturhinweise
Nachwort

3. Die Möglichkeit der freien Verfügung über das zur Kenntnis Kommende


Indem die Wahrnehmung ursprünglich Kenntnis erwirbt, erwirbt sie auch ein für die Dauer bleibendes Eigentum des Erworbenen, einen jederzeit verfügbaren Besitz. Worin besteht diese freie Verfügbarkeit? Frei verfügbar ist dieses schon Bekannte, obschon Leergewordene insofern, als die [15]nachgebliebene leere Retention jederzeit frei erfüllbar ist, jederzeit zu aktualisieren ist durch Wiederwahrnehmung im Charakter des Wiedererkennens. Herumgehend, nähertretend, mit den Händen tastend etc., kann ich alle schon bekannten Seiten wiedersehen, wieder erfahren, sie sind wahrnehmungsbereit; und dasselbe gilt für die Folgezeit. Das bezeichnet den Grundcharakter der transzendenten Wahrnehmung, durch den allein eine bleibende Welt für uns da, für uns vorgegebene und eben frei verfügbare Wirklichkeit sein kann, dass für die Transzendenz eine Wiederwahrnehmung, erneute Wahrnehmung desselben möglich ist.

Doch noch ein Weiteres ist als wesentlich beizufügen. Haben wir ein Ding kennengelernt und tritt ein zweites Ding in unseren Gesichtskreis, das nach der eigentlich gesehenen Seite mit dem früheren und bekannten übereinstimmt, so erhält nach einem Wesensgesetz des Bewusstseins (vermöge einer inneren Deckung mit dem durch »Ähnlichkeitsassoziation« geweckten früheren) das neue Ding die ganze Kenntnisvorzeichnung vom früheren her. Es wird, wie man sagt, apperzipiert mit gleichen unsichtigen Eigenschaften wie das alte. Und auch diese Vorzeichnung, dieser [11] Erwerb innerer Tradition ist zu unserer freien Verfügung in Form aktualisierender Wahrnehmung.

Aber wie sieht nun des Näheren diese freie Verfügung aus? Was macht das freie Eindringen in unsere durch und durch von Antizipationen übersponnene Welt, was macht alle bestehende Kenntnis und neue Kenntnis möglich? Wir bevorzugen hierbei den normalen und Grundfall der Konstitution von äußerem Dasein, nämlich den von unveränderten Raumdingen. Die Klarlegung der Möglichkeit, dass [16]Veränderungen von Dingen vonstatten gehen können, ohne dass sie wahrgenommen sind, und doch in mannigfachen nachkommenden Wahrnehmungen und Erfahrungen der Kenntnis, nach allen ihren unwahrgenommenen Stücken, zugänglich sind, ist ein höher liegendes Thema, das schon die Aufklärung der Möglichkeit einer Erkenntnis von ruhendem Dasein voraussetzt.

Wir fragen also, um wenigstens dieses Grundstück der konstitutiven Problematik zum Verständnis zu bringen, wie sieht die freie Verfügung über Kenntnis aus, die ich schon habe, wenn auch noch so unvollkommen habe, und zwar im Fall unveränderter Dinglichkeit? Was macht sie möglich?

Aus dem Bisherigen ersehen wir, dass jede Wahrnehmung implicite ein ganzes Wahrnehmungssystem mit sich führt, jede in ihr auftretende Erscheinung ein ganzes Erscheinungssystem, nämlich in Form von intentionalen Innen- und Außenhorizonten. Keine erdenkliche Erscheinungsweise gibt darum den erscheinenden Gegenstand vollkommen, in keiner ist er letzte Leibhaftigkeit, die das vollkommen erschöpfende Selbst des Gegenstandes brächte, jede Erscheinung führt im Leerhorizont ein plus ultra mit sich. Und da mit jeder die Wahrnehmung doch prätendiert, den Gegenstand leibhaft zu geben, so prätendiert sie in der Tat beständig mehr, als sie ihrem eigenen Wesen nach leisten kann. In eigentümlicher Weise ist jede Wahrnehmungsgegebenheit ein beständiges Gemisch von Bekanntheit und Unbekanntheit, die auf neue mögliche Wahrnehmung verweist, die zur Bekanntheit bringen würde. Und das wird noch in einem neuen Sinn gelten als in dem, der bisher hervorgetreten ist.

[17]Sehen wir nun zu, wie im Übergang der Erscheinungen, etwa im Nähertreten, Herumgehen, Augenbewegen, die Deckungseinheit nach dem Sinn aussieht. Das Grundverhältnis in diesem be[12]weglichen Übergang ist das zwischen Intention und Erfüllung. Die leere Vorweisung eignet sich die ihr entsprechende Fülle an. Sie entspricht der mehr oder minder reichen Vorzeichnung, bringt aber, da ihr Wesen unbestimmbare Unbestimmtheit ist, in eins mit der Erfüllung auch Näherbestimmung. Also damit ist eine neue »Urstiftung« vollzogen, eine Urimpression, wie wir hier wieder sagen können, denn ein Moment ursprünglicher Originalität tritt auf. Das schon urimpressional Bewusste weist durch seinen Hof auf neue Erscheinungsweisen vor, die, eintretend, teils als bestätigende, teils als näher bestimmende auftreten. Vermöge der unerfüllten und jetzt sich erfüllenden Innenintentionen bereichert sich das schon Erscheinende in sich selbst. Dazu schafft sich im Fortgang der leere Außenhorizont, der mit der Erscheinung verflochten war, seine nächste Erfüllung, mindestens eine partielle. Der unerfüllt bleibende Teil des Horizonts geht über in den Horizont der neuen Erscheinung, und so geht es stetig weiter. Dabei verliert sich, was schon vom Gegenstand in die Erscheinung getreten war, partiell wieder im Fortgang aus der Erscheinungsgegebenheit, das Sichtige wird wieder unsichtig. Aber es ist nicht verloren. Es bleibt retentional bewusst und in der Form, dass der Leerhorizont der Erscheinung, die gerade aktuell ist, nun eine neue Vorzeichnung erhält, die bestimmt auf das schon früher gegeben Gewesene als Mitgegenwärtiges verweist. Habe ich die Rückseite gesehen und bin zur Vorderseite zurückgekehrt, so hat der Wahrnehmungsgegenstand für mich eine [18]Sinnesbestimmung erhalten, die auch im Leeren auf das vordem Gesehene verweist. Es bleibt dem Gegenstand zugeeignet. Der Prozess der Wahrnehmung ist ein Prozess beständiger Kenntnisnahme, der das in Kenntnis Genommene im Sinn festhält und so einen immer neu gewandelten und immer mehr bereicherten Sinn schafft. Dieser Sinn ist während des fortdauernden Wahrnehmungsprozesses zugeschlagen zu dem vermeintlich in Leibhaftigkeit erfassten Gegenstand selbst.

Es hängt nun von der Richtung des Wahrnehmungsprozesses ab, welche Linien aus dem System der unerfüllten Intentionen zur Erfüllung gebracht, also welche kontinuierlichen Reihen von möglichen Erscheinungen aus dem gesamten System möglicher Erscheinungen vom Gegenstand zur Verwirklichung gebracht werden. Im Fortgang in dieser Linie verwandeln sich die ent[13]sprechenden Leerintentionen in Erwartungen. Ist die Linie einmal eingeschlagen, so verläuft die Erscheinungsreihe im Sinne sich von der aktuellen Kinästhese her stetig erregender und stetig sich erfüllender Erwartungen, während die übrigen Leerhorizonte in toter Potentialität verbleiben. Schließlich ist noch zu erwähnen, dass die Zusammengehörigkeit in der Deckung der ineinander nach Intention und Erfüllung übergehenden Abschattungserscheinungen nicht nur die ganzen Erscheinungen betrifft, sondern alle ihre unterscheidbaren Momente und Teile. So entspricht jedem erfüllten Raumpunkt des Gegenstandes etwas Entsprechendes in der ganzen Linie kontinuierlich ineinander übergehender Erscheinungen, in welchen dieser Punkt sich als Moment der erscheinenden Raumgestalt darstellt.

Fragen wir endlich, was innerhalb jedes Zeitpunktes der [19]Momentanerscheinung Einheit gibt, Einheit als Gesamtaspekt, in dem sich die jeweilige Seite darstellt, so werden wir auch da auf wechselseitige Intentionen stoßen, die sich zugleich wechselseitig erfüllen. Im Übergang der Erscheinungen der Aufeinanderfolge sind sie alle in beweglicher Verschiebung, Bereicherung und Verarmung.

In diesen überaus komplizierten und wundersamen Systemen der Intention und Erfüllung, die die Erscheinungen machen, konstituiert sich der immer neu immer anders erscheinende Gegenstand als derselbe. Aber er ist nie fertig, nie fest abgeschlossen.

Wir müssen hier auf eine für die Objektivation des Wahrnehmungsgegenstandes wesentliche Seite der noematischen Konstitution hinweisen, auf die Seite der kinästhetischen Motivation. Nebenbei war immer wieder die Rede davon, dass die Erscheinungsabläufe mit inszenierenden Bewegungen des Leibes Hand in Hand gehen. Aber das darf nicht als ein zufälliges Nebenbei verbleiben. Der Leib fungiert beständig mit als Wahrnehmungsorgan und ist dabei in sich selbst wieder ein ganzes System aufeinander abgestimmter Wahrnehmungsorgane. Der Leib ist in sich charakterisiert als Wahrnehmungsleib. Wir betrachten ihn dabei rein als subjektiv beweglichen und sich im wahrnehmenden Tun subjektiv bewegenden Leib. In dieser Hinsicht kommt er nie in Betracht als wahrgenommenes Raumding, sondern hinsichtlich des Systems von sogenannten »Bewegungsempfindungen[14]«, die im Bewegen der Augen, des Kopfes usw. während der Wahrnehmung ablaufen, und sie sind nicht nur parallel mit den ablaufenden Erscheinungen da, sondern bewusstseinsmäßig sind die betreffenden kinästhetischen Reihen und die [20]Wahrnehmungserscheinungen aufeinander bezogen. Blicke ich auf einen Gegenstand, so habe ich ein Bewusstsein meiner Augenstellung und zugleich, in Form eines neuartigen systematischen Leerhorizonts, ein Bewusstsein des ganzen Systems möglicher, mir frei zu Gebote stehender Augenstellungen. Und nun ist das in der gegebenen Augenstellung Gesehene mit dem ganzen System verknüpft, dass ich evidenterweise sagen kann: Würde ich die Augen nach der und der Richtung bewegen, so würden demgemäß in bestimmter Ordnung die und die visuellen Erscheinungen ablaufen; würde ich die Augenbewegung nach der und der andern Richtung laufen lassen, so würden andere, und entsprechend zu erwartende Erscheinungsreihen verlaufen. Ebenso für...

Erscheint lt. Verlag 27.8.2021
Reihe/Serie Reclams Universal-Bibliothek
Reclams Universal-Bibliothek
Mitarbeit Anpassung von: Sebastian Luft
Verlagsort Ditzingen
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Analyse • Auszüge • Bücher Philosophie • Erläuterung • Ethik • Ethik-Unterricht • Geisteswissenschaft • gelb • Grundlagen • Husserl Analyse der Selbstwahrnehmung • Husserl Das Problem der Lebenswelt • Husserl Epistemologie • Husserl Erkenntnistheorie • Husserl Essays • Husserl Konstitution der Intersubjektivität • Husserl Phänomenologie • Husserl Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins • Husserl Philosophie • Husserl Texte • Husserl Textsammlung • Ideengeschichte • Lektüre • Philosophie • philosophie texte • Philosophie-Unterricht • philosophische Bücher • Reclam Hefte • Textanalyse • Textsammlung • Wissen • Wissenschaft • Wissenschaftstheorie
ISBN-10 3-15-961909-5 / 3159619095
ISBN-13 978-3-15-961909-5 / 9783159619095
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