Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte (eBook)
352 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00086-5 (ISBN)
Oliver Sacks, geboren 1933 in London, war Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Columbia University. Er wurde durch die Publikation seiner Fallgeschichten weltberühmt. Nach seinen Büchern wurden mehrere Filme gedreht, darunter «Zeit des Erwachens» (1990) mit Robert de Niro und Robin Williams. Oliver Sacks starb am 30. August 2015 in New York City. Bei Rowohlt erschienen unter anderem seine Bücher «Awakenings - Zeit des Erwachens», «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte», «Der Tag, an dem mein Bein fortging», «Der einarmige Pianist» und «Drachen, Doppelgänger und Dämonen». 2015 veröffentlichte er seine Autobiographie «On the Move».
Oliver Sacks, geboren 1933 in London, war Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Columbia University. Er wurde durch die Publikation seiner Fallgeschichten weltberühmt. Nach seinen Büchern wurden mehrere Filme gedreht, darunter «Zeit des Erwachens» (1990) mit Robert de Niro und Robin Williams. Oliver Sacks starb am 30. August 2015 in New York City. Bei Rowohlt erschienen unter anderem seine Bücher «Awakenings – Zeit des Erwachens», «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte», «Der Tag, an dem mein Bein fortging», «Der einarmige Pianist» und «Drachen, Doppelgänger und Dämonen». 2015 veröffentlichte er seine Autobiographie «On the Move». Dirk van Gunsteren, 1953 geboren, übersetzte u.a. Jonathan Safran Foer, Colum McCann, Thomas Pynchon, Philip Roth, T.C. Boyle und Oliver Sacks. 2007 erhielt er den Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis. Hainer Kober, geboren 1942, lebt in Soltau. Er hat u.a. Werke von Stephen Hawking, Steven Pinker, Jonathan Littell, Georges Simenon und Oliver Sacks übersetzt.
Vorwort
«Das Letzte, was man findet, wenn man ein Werk schreibt, ist, dass man weiß, womit man beginnen soll», notiert Pascal. Nachdem ich diese merkwürdigen Geschichten geschrieben, zusammengestellt und geordnet, einen Titel gefunden und zwei Motti ausgesucht habe, muss ich mich nun mit der Frage beschäftigen, was ich getan habe – und warum.
Meine Entscheidung für zwei Motti, die Gegensätzliches zum Ausdruck bringen – ebenjene Gegensätzlichkeit, die für Ivy McKenzie zwischen dem Arzt und dem Naturwissenschaftler besteht –, entspricht den zwei Seelen in mir selbst: Ich fühle mich sowohl als Naturwissenschaftler wie auch als Arzt; ich interessiere mich gleichermaßen für Menschen wie für Krankheiten; und vielleicht machen sich diese zwei Seelen auch in der Tatsache bemerkbar, dass ich gleichermaßen, wenn auch nur unzulänglich, theoretisch und szenisch arbeite, mich gleichermaßen zum Wissenschaftlichen wie zum «Romantischen» hingezogen fühle, dass ich stets diese beiden Elemente im menschlichen Sein wiederfinde, nicht zuletzt im Kranksein, jenem wesentlichen Merkmal des Menschen. Auch Tiere werden krank, aber nur der Mensch kann Krankheit als solche erfahren.
Meine Arbeit, mein Leben gehört den Kranken – aber sie und ihre Krankheit bringen mich auf Gedanken, auf die ich sonst vielleicht nicht kommen würde. Das geht so weit, dass ich den Drang fühle, mich Nietzsche anzuschließen, der schreibt: «Und was die Krankheit angeht: würden wir nicht fast zu fragen versucht sein, ob sie uns überhaupt entbehrlich ist?», und die Fragen, die die Krankheit aufwirft, als grundsätzliche Fragen der Existenz anzusehen. Meine Patienten stellen mich ständig vor Fragen, und meine Fragen führen mich ständig zu neuen Patienten – so kommt es, dass es in diesen Geschichten oder Untersuchungen eine stete Bewegung vom einen zum anderen gibt.
Untersuchungen, ja – aber warum Geschichten oder Fallstudien? Das historische Konzept von Krankheit, der Gedanke, dass eine Krankheit vom Auftreten der ersten Anzeichen über ihren Höhepunkt, ihre Krisis und weiter bis zu ihrem glücklichen oder letalen Ausgang einen bestimmten Verlauf nimmt, geht auf Hippokrates zurück. Er war es also, der die Krankengeschichte, das heißt die Beschreibung oder anschauliche Darstellung des Krankheitsverlaufs, eingeführt hat – exakt das also, was mit dem alten Wort «Pathographie» bezeichnet wird. Solche Krankengeschichten sind eine Art Naturgeschichte – sie verraten uns jedoch nichts über das Individuum und seine Geschichte; sie sagen nichts über die Person und ihre Erfahrungen im Kampf gegen die Krankheit aus. In einer knappen Krankengeschichte gibt es kein «Subjekt» – es wird in der modernen Anamnese nur mit einer oberflächlichen Beschreibung erfasst («ein trisomischer, weiblicher Albino von einundzwanzig Jahren»), die ebenso auf eine Ratte wie auf einen Menschen zutreffen könnte. Um die Person – den leidenden, kranken und gegen die Krankheit ankämpfenden Menschen – wieder in den Mittelpunkt zu stellen, müssen wir die Krankengeschichte zu einer wirklichen Geschichte ausweiten; nur dann haben wir sowohl ein «Wer» als auch ein «Was», eine wirkliche Person, einen Patienten, der in seiner Beziehung zur Krankheit, in seiner Beziehung zum Körperlichen fassbar wird.
Für die Psychologie und die Feinbereiche der Neurologie ist das Wesen des Patienten von großer Bedeutung, denn hier geht es ja in der Hauptsache um seine Persönlichkeit, und seine Krankheit und seine Identität können nicht unabhängig voneinander betrachtet werden. Solche Störungen, deren Studium und deren Beschreibung erfordern eine neue Disziplin, die man «Neurologie der Identität» nennen könnte, denn sie beschäftigt sich mit den neuralen Grundlagen des Selbst, der uralten Frage nach dem Zusammenhang zwischen Gehirn und Geist. Es mag sein, dass – notwendigerweise – eine kategorische Kluft zwischen dem Psychischen und dem Physischen besteht; Untersuchungen und Geschichten jedoch, die sich gleichzeitig und untrennbar auf beides beziehen – und diese sind es, die mich besonders faszinieren und die ich hier vorstellen will –, mögen dennoch dazu dienen, beide Bereiche einander anzunähern und uns in den Stand zu versetzen, den Schnittpunkt von Funktion und Leben, die Auswirkungen physiologischer Prozesse auf die Biographie zu erhellen.
Die Tradition höchst menschlicher Geschichten von Kranken erreichte ihren Höhepunkt im 19. Jahrhundert. Ihr Niedergang begann mit dem Aufstieg einer unpersönlichen neurologischen Wissenschaft. Der große russische Neuropsychologe Alexander R. Lurija schrieb: «Die Kunst, etwas zu beschreiben, jene Kunst, die die großen Psychiater und Neurologen des 19. Jahrhunderts beherrschten, ist heute fast ausgestorben … Sie muss wiederbelebt werden.» Seine eigenen Spätwerke, zum Beispiel ‹The Mind of a Mnemonist› und ‹The Man with a Shattered World›, sind Versuche, diese verlorengegangene Tradition wiederaufleben zu lassen. Die Krankengeschichten in diesem Buch knüpfen an diese alte Tradition an: an die des 19. Jahrhunderts, von der Lurija spricht, an die des ersten medizinischen Historikers Hippokrates und an die universelle und seit uralten Zeiten bestehende Tradition, nach der Patienten Ärzten ihre Geschichte erzählt haben.
Klassische Sagen und Legenden sind von archetypischen Figuren, von Helden, Opfern, Märtyrern und Kriegern bevölkert. Die Patienten eines Neurologen sind Verkörperungen dieser Figuren – und die, von denen in diesen sonderbaren Geschichten die Rede sein wird, sind sogar noch mehr als das. Wie sollen wir beispielsweise den «verlorenen Seemann» oder die anderen seltsamen Menschen, die in diesem Buch auftreten, in jene mythischen und metaphorischen Kategorien einordnen? Man könnte sagen, sie seien Reisende, unterwegs in unvorstellbare Länder – Länder, von deren Existenz wir sonst nichts wüssten. Dies ist der Grund, warum ihr Leben und ihre Reisen für mich etwas Märchenhaftes haben. Darum habe ich als erstes Motto den Satz von William Osler gewählt, und darum erscheint es mir angebracht, dieses Buch nicht nur als eine Sammlung von Fällen, sondern auch als eine Sammlung von Geschichten und Märchen zu bezeichnen. In diesem Bereich sehnt sich der Wissenschaftler danach, mit dem Romantiker zu verschmelzen – Lurija sprach in diesem Zusammenhang gern von der «romantischen Wissenschaft». Beide treffen sich im Schnittpunkt von Tatsache und Legende, jenem Schnittpunkt, der charakteristisch ist für das Leben der in diesem und in meinem früheren Buch ‹Awakenings› (‹Bewusstseinsdämmerungen›) beschriebenen Menschen.
Aber mit welchen Tatsachen, welchen Legenden werden wir konfrontiert! Womit sollen wir sie vergleichen? Vielleicht gibt es dafür keine bestehenden Modelle, Metaphern oder Mythen. Ist vielleicht eine Zeit neuer Symbole, neuer Mythen angebrochen?
Acht der Kapitel in diesem Buch sind bereits vorher erschienen: «Der verlorene Seemann», «Hände», «Die Zwillinge» und «Der autistische Künstler» im New York Review of Books (1984 und 1985) und «Witty Ticcy Ray», «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte» und «Erinnerung» im London Review of Books (1981, 1983, 1984), wo eine gekürzte Fassung der letzten Geschichte den Titel «Musical Ears» trug. «Schräglage» erschien 1985 in The Sciences. Ein sehr früher Bericht eines meiner Patienten – die «Vorlage» für Rose R. in ‹Bewusstseinsdämmerungen› und für Deborah in ‹Eine Art Alaska› von Harold Pinter (der sich von jenem Buch inspirieren ließ) – findet sich in «Nostalgische Ausschweifungen» (es erschien ursprünglich im Frühjahr 1970 unter dem Titel «Incontinent Nostalgia Induced by L-Dopa» in Lancet). Die ersten beiden der vier «Phantome» wurden 1984 im British Medical Journal unter der Rubrik «Klinische Kuriosa» beschrieben. Zwei kurze Beiträge stammen aus früheren Büchern: «Der Mann, der aus dem Bett fiel» ist dem Buch ‹A Leg to Stand On› (‹Der Tag, an dem mein Bein fortging›) entnommen, und «Die Visionen der heiligen Hildegard» ist in ‹Migräne› enthalten.
Die übrigen zwölf Kapitel sind neu und bisher unveröffentlicht[*] und wurden im Herbst und Winter des Jahres 1984 verfasst.
Zu den Kollegen, denen ich besonderen Dank schulde, gehört der verstorbene James Purdon Martin, dem ich Videoaufnahmen von «Rebecca» und «Mr. MacGregor» gezeigt und mit dem ich diese Fälle ausführlich diskutiert habe – die Kapitel «Die körperlose Frau» und «Schräglage» sind auch Ausdruck meiner Dankbarkeit. Michael Kremer, der zu meiner Zeit in London mein «Chef» war, schilderte mir nach der Lektüre meines Buches ‹Der Tag, an dem mein Bein fortging› einen sehr ähnlichen Fall, den er selbst behandelt hat – beide Fälle sind nun in «Der Mann, der aus dem Bett fiel» zusammengefasst. Donald Macrae hat durch Zufall nur zwei Jahre nachdem ich «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte» geschrieben hatte, einen außergewöhnlichen und frappierend ähnlichen Fall von visueller Agnosie entdeckt, der verkürzt in der Nachschrift jenes Kapitels beschrieben wird. Ganz besonders möchte ich meiner Freundin und Kollegin Isabelle Rapin aus New York danken, mit der ich viele der hier beschriebenen Fälle erörtert habe; sie hat mich Christina (der «körperlosen Frau»)...
Erscheint lt. Verlag | 17.8.2021 |
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Übersetzer | Dirk van Gunsteren, Hainer Kober |
Zusatzinfo | Mit Abbildungen |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | Amnesie • Autismus • Fallgeschichten • Krankheit • Neurologie • Populärwissenschaftlich • Propriozeption • Prosopagnosie • Psychiatrie • Psychologie • Tourette-Syndrom |
ISBN-10 | 3-644-00086-7 / 3644000867 |
ISBN-13 | 978-3-644-00086-5 / 9783644000865 |
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