Ästhetisierung (eBook)

Kunst und Politik in der Zwischenkriegszeit

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
383 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-44977-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ästhetisierung -  Verena Wirtz
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Anders als weithin angenommen, bildeten Politik und Kunst in der Zwischenkriegszeit keine Gegensätze. Dass die Politik künstlerisch und die Kunst politisch werden müsse, war ein unterhalb aller weltanschaulichen Konflikte tief ins Selbstverständnis der deutschen Zwischenkriegszeit eingebetteter Konsens. Er wurde von beiden Seiten artikuliert, programmatisch verankert und entwickelte eine Reihe von Varianten, von denen sich die nationalsozialistische Ausprägung im Laufe der 1930er Jahre mit Gewalt durchsetzte. Auf welche Weisen sich diese Ansprüche einer Ästhetisierung der Politik und einer Politisierung der Kunst entwickelten, rekonstruiert dieses Buch anhand zahlreicher Beispiele im Längsschnitt durch die 1920er und 1930er Jahre.

Verena Wirtz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für Neuere und Neueste Geschichte der Universität der Bundeswehr in München.

Verena Wirtz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für Neuere und Neueste Geschichte der Universität der Bundeswehr in München.

2.›Ästhetisierung der Politik‹: Zur Genese einer Prozessvorstellung


2.1Prolog: Vom Ästhetizismus zur ›Ästhetisierung‹


Im deutschen Sprachraum der Jahrhundertwende war von ›Ästhetisierung‹ noch keine Rede. Als Gegenbegriff zur ›Rationalisierung‹ bildete sie sich erst aus einer anderen, für das 19. Jahrhundert typischen Endung des Wortstammes heraus: dem Ästhetizismus. Zunächst Dogma einer künstlerischen Weltanschauung, kam diese Ideologie solange ohne ein extraästhetisches Gestaltungsobjekt aus, bis ihr bekanntester Vorreiter, Friedrich Nietzsche, aus dem l’art pour l’art-Prinzip der europäischen fin de siècle-Kunst eine Weltanschauung machte, der zufolge die Kunst nicht mehr um ihrer selbst, sondern um des Lebens willen betrieben werden sollte:

»L’art pour l’art heißt: ›der Teufel hole die Moral!‹ – Aber selbst noch diese Feindschaft verrät die Übergewalt des Vorurteils. Wenn man den Zweck des Moralpredigens und Menschen-Verbesserns von der Kunst ausgeschlossen hat, so folgt daraus noch lange nicht, daß die Kunst überhaupt zwecklos, ziellos, sinnlos, kurz l’art pour l’art – ein Wurm, der sich in den Schwanz beißt – ist. […]. Die Kunst ist das große Stimulans zum Leben: Wie könnte man sie als zwecklos, als ziellos, als l’art pour l’art verstehen?«51

In dem Moment, da das Leben als Kunst definiert wurde, kam auch die Ästhetik ihrer extraästhetischen Bestimmung immer näher. Vielen Künstlern und Philosophen der Jahrhundertwende ging es nicht mehr um die vielzitierte Flucht aus einer dekadent empfundenen Welt, sondern um ihre Rückeroberung mit ästhetischen Mitteln. Dass ›Ästhetik‹ in diesem Zusammenhang nicht mit Schönheit oder Harmonie gleichzusetzen ist, wie es im heutigen Alltagsgebrauch üblich ist, zeigt ein Einblick in die Philosophie- und Bedeutungsgeschichte des Wortes. Nietzsche hatte seiner oben zitierten Stellungnahme zum l’art pour l’art bereits hinzugefügt, dass »auch die Kunst vieles Häßliche, Harte, Fragwürdige des Lebens zur Erscheinung bringt.«52 Jenseits der ethischen Implikationen aber, die man der Lehre vom Schönen seit der Antike zugesprochen hatte, setzte sich um 1900 eine ganz andere Bedeutung von Ästhetik durch, deren Qualität, statt von einer Eigenschaft bestimmt, aus ihrer Funktionsweise abgeleitet wurde.

Schon Mitte des 18. Jahrhunderts hatte Alexander Gottlieb Baumgarten die Doppelbedeutung der Aesthetica als »Lehre vom Schönen« und als »Lehre vom Sinnlichen« wieder in die Philosophie integriert. Immanuel Kants Erkenntnistheorie und Moralphilosophie war zwar primär am »Wohlgefallen« des ästhetischen Objekts und weniger an den Empfindungen seines Betrachters interessiert.53 Doch durch Baumgartens Rehabilitierung der sinnlich vermittelten Seite der Wahrnehmung gewann der Ästhetik-Begriff in seiner ursprünglichen griechischen Bedeutung von aisthēsis wieder an Relevanz. Vor allem die Kritik der ›Romantiker‹ und ›Idealisten‹ am aufklärerischen Vernunftdenken und einer rein rationalen Herleitung des Schönen hatte die rezeptionsästhetische Seite sinnlicher Erfahrung wieder in den Fokus der Philosophie gerückt. So sah Friedrich Schiller im Unterschied zu Kant keinen Widerspruch zwischen einer vernünftigen und sinnlichen Sinnstiftung. Seine Syntheseleistung bestand darin, die erkenntnistheoretische Bestimmung des Schönen so an die Moral zu knüpfen, dass durch die Sinnlichkeit der Wahrnehmung auch die Vollendung der Sittlichkeit erreicht werden könnte.54

Diese ›perfektionsästhetische Ethik‹ des Schillerschen Idealismus wich Ende des 19. Jahrhunderts einer selbstzweckmäßigen Überhöhung ästhetischen Seins und künstlerischen Schaffens. Nach ihrer politisch-moralischen Fremdbestimmung und Vereinnahmung während der sogenannten Befreiungskriege und Nationalstaatsgründung sollte die Kunst wieder um ihrer selbst willen produziert und rezipiert werden. Doch in der fin de siècle-Stimmung machten sich bald erste Dekadenz-Kritiker bemerkbar und es entstanden in ganz Europa Reformbewegungen, die Kunst und Leben neu miteinander zu versöhnen trachteten. Nietzsche brachte diese Symbiose zur Vollendung, indem er den l’art pour l’art-Ästhetizismus überwand und durch eine physio-ästhetische Lebensphilosophie ersetzte. Der als elitär und unzeitgemäß geltende, an den schönen und harmonischen Formen interessierte Teil der Ästhetik wurde sowohl aus der Philosophie wie aus der Kunst verbannt, während die aisthetische Seite der Lebensphilosophie alle Bereiche erfassen und mit sinnlichem Sinn erfüllen sollte.55

Für den Ästhetizismus, der »das Dasein der Welt nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt« sah, hatte die Entwicklung vom ideologischen Was zum weltanschaulichen Wie zur Folge, dass die Verwirklichung einer solchen Welt nur als eine Frage der Zeit und der künstlerischen Aneignung betrachtet wurde. Der Prozesscharakter der Reformbewegungen ist deshalb weniger dem Programm einer Ideologie denn einer aktivistischen Weltanschauungsweise geschuldet. Mit neuem gesellschaftspolitischem Sendungsbewusstsein ausgestattet, einte die Avantgardebewegungen vor dem Ersten Weltkrieg das Ziel, dem gesamten Leben eine sinnliche Seinsweise zugrunde zu legen.56

Die räumliche Expansion und soziale Antizipation dieser ästhetischen Weltanschauung brachte eine semantische Transformation sowohl des Kunst- als auch des Ästhetik-Begriffes mit sich. In Meyers Großem Konversationslexikon von 1907 zum Beispiel geriet nicht mehr der Künstler, sondern der Betrachter und dessen Wahrnehmung in den Blick einer nun auf Affekte ausgerichteten Ästhetik. Dezidiert gegen ein logozentristisches Weltbild gerichtet, sollte sie einen neuen Weg zur Erkenntnis offenbaren. Verstanden als »Empfindungslehre«, könne die Ästhetik nämlich »im Gegensatz zum Erkennen und Wissen, das richtig Erfaßte mit Leichtigkeit und Sicherheit in Handlungen […] betätigen.« »Hierin«, »daß sie neue ästhetische Werte von bleibender Bedeutung schafft«, liege »die Hauptaufgabe der Kunst«. Das beim Betrachter erzeugte Gefühl steigere die

»intellektuellen Funktionen zu ungewöhnlichen Leistungen, läßt Werte erfassen, die der Verstand nicht begreift, beschleunigt den Ablauf der Vorstellungen und führt zu Kombinationen, die abseits vom Wege liegen. […] So ist es zu begreifen, daß ihre entscheidende Wirkung auch wieder in Gefühlen besteht (s. Ästhetik).«57

Zur Erforschung des Einfühlungsvermögens und Vermessung der Reaktion auf äußerliche Reize diente unter anderem der sogenannte Ästhesiometer – ein Tasterzirkel »zur Prüfung des Raumsinns der Haut durch Bestimmung des geringsten Abstandes, in welchem zwei örtlich getrennte Reize noch deutlich als solche empfunden werden«, erklärte das Kleine Konversationslexikon des Brockhaus von 1911.58

Über die Ästhetik als empfindungsgesteuerte Erkenntnislehre hinaus wurde die Kunst als »zweite Natur« beschrieben, die als geschlossenes System funktioniere, weshalb es notwendig erscheine, »alle Künste unter einen gemeinsamen Gesichtspunkt zu rücken und Kunst als Gesamtbezeichnung für die Erzeugnisse schöpferischer Neubildung des ästhetisch geläuterten inneren Lebens aufzufassen, das nach außen (für Auge und Ohr) wahrnehmbar gemacht ist.«59

Vor dem Ersten Weltkrieg hatte sich somit die Vorstellung eines ästhetischen Prozesses sinnlicher Welt- und Selbstwahrnehmung semantisch niedergeschlagen. Die Weltanschauung des Ästhetizismus richtete sich, wie gezeigt, dezidiert gegen die ›Rationalisierung‹ aller Lebensbereiche, die den Menschen von seiner Innen- und Außenwelt entfremdet zu haben schien. Nach der Jahrhundertwende führte dieser Umwertungsprozess zur Entstehung der Reformbewegungen, die sich auf die Suche nach einer neuen Weltordnung begaben.

Des weiteren hatte die semantische und ideengeschichtliche Transformation des Ästhetik-Begriffes gravierende Auswirkungen auf das Kunstverständnis, wie die erste Auflage des Meyer nach dem Ersten Weltkrieg zeigt. War im Futurismus und Expressionismus noch von der Kunst als einer zweiten Natur innerer Sinneswandlung die Rede, wurde sie nun jenseits konkreter Stile und...

Erscheint lt. Verlag 15.9.2021
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Teilgebiete der Geschichte Kulturgeschichte
Schlagworte Ästhetisierung • Begriffsgeschichte • Historische Semantik • Kunstgeschichte • Kunst und Politik • Politikgeschichte • Politische Kunst • Propaganda • Weimarer Republik • Zwischenkriegszeit
ISBN-10 3-593-44977-3 / 3593449773
ISBN-13 978-3-593-44977-7 / 9783593449777
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