Schriften zur Geschichtstheorie (eBook)

Humboldt, Wilhelm von - theoretische Überlegungen zur Bedeutung der Geschichtsforschung - 14167
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
151 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-961887-6 (ISBN)

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Schriften zur Geschichtstheorie -  Wilhelm Von Humboldt
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Wilhelm von Humboldt spielte eine zentrale Rolle in der Formationsphase der Geschichtswissenschaft, der sogenannten 'Sattelzeit' um 1800. Er entwickelte die Vorstellung von der Geschichtsschreibung als 'Darstellung des Strebens einer Idee, Dasein in der Wirklichkeit zu gewinnen'. Seine theoretischen Überlegungen präsentierte er nicht systematisch, sondern in verstreuten Essays. Die wichtigsten Texte sind in diesem E-Book versammelt. Jörn Rüsens Nachwort bietet eine Einführung in Humboldts Geschichtsdenken und dessen Bedeutung bis heute. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

Prof. Dr. Dr. h.c. Jörn Rüsen, Senior Fellow, Kulturwissenschaftliches Institut in Essen, Professor em. für Allgemeine Geschichte und Geschichtskultur an der Universität Witten/Herdecke. Zuvor Professuren an der FU Berlin, Bochum und Bielefeld.

Prof. Dr. Dr. h.c. Jörn Rüsen, Senior Fellow, Kulturwissenschaftliches Institut in Essen, Professor em. für Allgemeine Geschichte und Geschichtskultur an der Universität Witten/Herdecke. Zuvor Professuren an der FU Berlin, Bochum und Bielefeld.

Über die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte
Über den Geist der Menschheit
Betrachtungen über die Weltgeschichte
Betrachtungen über die bewegenden Ursachen in der Weltgeschichte
Über die Aufgabe des Geschichtschreibers
Über das Studium des Altertums, und des griechischen insbesondre
Über den Charakter der Griechen, die idealische und historische Ansicht desselben

Anhang
Zu dieser Ausgabe
Literaturhinweise
Nachwort

[5]Über die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte


Bruchstück

Unter allen Bildern, welche die Geschichte darbietet, zieht wohl keines eine allgemeinere und regere Aufmerksamkeit an sich, als das Bild des Menschen in der Verschiedenheit seiner Lebensweise nach der verschiedenen Beschaffenheit der leblosen und lebendigen Natur um ihn her, unter deren unaufhörlichem Einwirken er lebt. Gefesselt von dem Interesse, das den Menschen jedes Erdstrichs und jedes Jahrhunderts an den Menschen knüpft, stellt der betrachtende Forscher ferne, längst hingeschwundene Geschlechter neben sich und seine Zeitgenossen, vergleicht mit prüfendem Blick ihr inneres Dasein, ihre Empfänglichkeit für äußere Eindrücke, ihre Fähigkeit den empfangenen Stoff in ihr Eigentum zu verwandeln, und mit bereicherter Ideenfülle, und verstärkter Empfindungskraft eigene Schöpfungen hervorzubringen, ihre äußere Lage, die Welt, die sie umgibt, und die Gestalt, zu der sie sie umbilden, den Genuss, den sie aus den Gaben des Schicksals und aus den Früchten ihrer Tätigkeit ziehen. Bald sieht er aus seiner Lage, mit seinen Gesichtspunkten auf die Vorzeit hin, bald versetzt ihn seine Phantasie selbst in dieselbe, und eignet ihm den Gesichtspunkt, den ehmals ihre Wirklichkeit gab, und so wägt er unrichtiger oder richtiger das Gute und Beglückende jedes Jahrhunderts, genießt jetzt des frohen Bewusstseins des eigenen Vorzugs, und jetzt wieder des wehmütigeren und dennoch süßen Gefühls, dass eine Trefflichkeit hoher beseligender Schönheit einmal blühte und nun nicht mehr [6]ist! Wenn er auf diese Weise die Schicksale der Nationen von Epoche zu Epoche verfolgt, so kann ihm der Zusammenhang nicht entgehen, der, bald wirklich, bald scheinbar, jede Begebenheit mit allen folgenden verbindet. Schon der eigentümlichen Natur des menschlichen Geistes nach, der unaufhörlich das Allgemeine sucht, und das Einzelne in ein Ganzes zusammenzufassen strebt, wird er alle zerstreuten Züge in Ein Gemälde sammlen, und der wechselnde Gang aller Schicksale der Erde und ihrer Bewohner wird in seinen Augen zu Einer großen, unzertrennbaren Einheit werden. Wenngleich freilich kein einzelnes Geschöpf die Umwandlungen dieses Ganzen in ihrer Folge erfährt, wenn selbst die leblose Natur, die ihr Schauplatz ist, nicht unverändert bleibt, der Boden, der den Enkel nährt, nicht mehr derselbe ist, den der Ahnherr betrat, und selbst die innerste Felsmasse unsrer Erdkugel vielleicht dem unaufhörlichen Flusse alles Endlichen folgt; so schlingt sich doch mitten durch allen diesen Wechsel hindurch, einer ununterbrochenen Kette gleich, die Reihe der aufeinander folgenden Menschengeschlechter, so erhält sich doch das, was, allein ewig und unvergänglich, den hinfälligen Stoff seines Urhebers überlebt, der Vorrat von Ideen, den die Vorwelt auf die Nachwelt vererbt. An diesen Fäden verfolgt der philosophische Geschichtsforscher oft die Revolutionen des Menschengeschlechts, füllt mit Hypothesen die Lücken, welche die Überlieferung lässt, sieht aus der Vergangenheit die Gegenwart entspringen, ahndet aus dieser die nun neu sich entwickelnde Zukunft, sucht das Ziel zu bestimmen, dem dies ewig rege wirksame Ganze nachstrebt, und erklärt den gleichen abgemessenen Fortschritt desselben entweder aus der Leitung einer weisen Macht, oder aus der nach ewigen [7]Gesetzen ihrer Natur wirkenden Selbsttätigkeit der einzelnen Kräfte. Unverkennbar ist es nun, dass dies Ganze nicht in seiner Phantasie, oder in der Vernunft allein existiert, die ihre Gebilde so oft der Wirklichkeit andichtet. Die wechselseitige Verschränkung aller Begebenheiten des Menschengeschlechts ist klar, und jede folgende Generation tritt in keine andere Lage der Dinge, als in die, welche die vorhergehenden bereiteten, empfängt keine andren Ideen als die, welche diese erfanden oder modifizierten. Mehr Schwierigkeit aber führt die Frage mit sich: ob nun diese Verkettung von Begebenheiten Einem Ziele entgegeneilt, oder das Ziel, das erreicht werden soll, mit jedem einzelnen Menschen von dieser Erde scheidet, ob die längere Dauer derselben eine erhöhetere Vollkommenheit, oder noch dasselbe Maß von Kräften, denselben Grad des Genusses, nur in ewig wechselnden, unendlich mannigfaltigen Gestalten zeigen wird? Dennoch führt nicht leicht eine andere Frage, welche das Leben und Wirken des Menschen betrifft, ein höheres Interesse mit sich, weil die Entscheidung derselben zugleich eine genaue Würdigung alles dessen enthalten müsste, was wir unter den Menschen groß, und gut, und wichtig nennen, und weil sie den mancherlei Führern, Verbesserern und Regierern der Menschen zeigte, wie das Vorbild – dem ihre ohnmächtige Kraft nur nachzuahmen strebt – das allwaltende Schicksal sie leitet. Selbst wenn die Entscheidung nicht diesen Nutzen gewährte, bliebe dennoch immer die Untersuchung in mehr als Einer Rücksicht wichtig. Denn sie muss – wenn sie auf Tiefe und Genauigkeit mit Recht Anspruch machen will – versuchen, alle einzelne Kräfte auseinanderzusetzen, welche den Menschen groß und glücklich machen, so wie alles in und außer ihm, [8]wodurch diese Kräfte Nahrung und Stärkung erhalten, und was sie schwächt und vernichtet; sie muss ferner sogar die ewigen Gesetze zu entdecken suchen, nach welchen der Mensch durch den natürlichen Fortschritt seiner inneren Kraft, verbunden mit den, bei einer ewig wechselnden, und doch im Ganzen immer sich selbst gleichen Natur, ewig neuen und doch immer wiederkehrenden Begebenheiten, bald von dieser, bald von jener Seite entwickelt, bald von dieser, bald von jener beglückt wird.

Ehe aber auch nur ein Versuch über ein Problem gewagt wird, dessen vollständige und fehlerfreie Auflösung wohl niemand von menschlichen Kräften erwarten wird, erfordert zuvörderst die Möglichkeit der Auflösung überhaupt eine eigene Untersuchung. Denn wenn in dem Gange menschlicher Begebenheiten, ihrer wechselseitigen Verkettungen ungeachtet, keine Einheit, kein gleichförmiges Gesetz vorhanden ist, oder wenn dasselbe auf Dingen beruht, welche menschliche Einsicht nicht zu durchschauen vermag, so wird die Phantasie im eitlen Haschen nach dem, was nirgend existiert, Hypothesen an die Stelle der Wahrheit setzen, und der erträglichste Erfolg des Unternehmens wird die Überzeugung seiner Unausführbarkeit sein. Um nun aber hierüber erst zur Gewissheit zu gelangen, dürfen wir uns nicht reiner Vernunftsätze und Schlüsse bedienen. Gesetzt auch, wir besäßen irgendeine Vernunftwahrheit, die auf die Notwendigkeit eines gleichförmigen Gesetzes führte; so dürften wir dennoch dadurch über die Natur und die Beschaffenheit desselben keine Aufschlüsse erwarten. Nur die Betrachtung der wirkenden Kräfte und ihrer Wirkungen, nur also die Erfahrung, sei es die innere in unsrem eignen Bewusstsein, oder die äußre durch Beobachtung, [9]Überlieferung und Geschichte, kann hier Lehrmeisterin sein. Der menschliche Geist hat die Gesetze der Bewegung des Erdballs, und über seinen Wohnsitz hinaus die Stellung und verschiedene Laufbahn der Körper des Sonnensystems entdeckt, zu dem er gehört, und mit Genauigkeit und Zuverlässigkeit weissagt er alle Begebenheiten, die davon abhängen. Wunderbar ist es, dass er, vertraut mit den Revolutionen Millionen Meilen entfernter Sphären, ein Fremdling in den Veränderungen ist, die ihn umgeben, auf die er selbst so mächtig wirkt, und deren Rückwirkung er erfährt. Allein jene Gesetze beruhen, wie fast alles, worüber wir zuverlässige Theorien besitzen, auf allgemeinen Ideen von Größen und Verhältnissen des Raums und der Zeit, und auf Beobachtungen, die meistenteils auch nur darauf hinauslaufen; indes wir hier in einem Gebiete des Wissens sind, in dem alles von den wirklichen Kräften, und dem Wesen der Dinge abhängt, in dem nur die Kenntnis des Individuums der Wahrheit nähert, und jede allgemeine Idee immer gerade im Verhältnis der Menge der Individuen, von denen sie abgezogen ist, von derselben entfernt. Dieser Schwierigkeit und so vieler andren aber – unter welchen die einer in dem Grade extensiv ausgebreiteten, und intensiv eindringenden Beobachtung, als hier eigentlich erfordert würde, nicht vergessen werden muss – ungeachtet, ist dennoch so viel gewiss, dass jegliche Veränderung auf der Erde eine Wirkung entweder der menschlichen Kräfte, oder der übrigen lebendigen Geschöpfe, oder der leblosen Natur, oder vielmehr, da in keinem dieser Teile der Schöpfung etwas vorgeht, das nicht einen, wenngleich in den nächsten Folgen nicht bemerkbaren Einfluss auf die übrigen hätte, ein Resultat der Wirkungen und Rückwirkungen aller [10]dieser Kräfte zusammengenommen ist. Nun sind die Kräfte des Menschen im Ganzen genommen dieselben, die Notwendigkeit ihrer Erhaltung bringt dieselben Bedürfnisse hervor, und aus diesen, wie aus dem angenehmen Gefühl ihrer Befriedigung entspringen ohngefähr dieselben Neigungen, Begierden und Leidenschaften. Eben so hat auch die übrige Natur immer und überall im Ganzen einen gleichen Vorrat von Mitteln, den Bedürfnissen des Menschen zu genügen. Wie ihre Natur, so bleibt auch der gegenseitige Einfluss dieser Eigenschaften sich gleich. So lässt die Gleichförmigkeit der Kräfte, als der Ursachen, auf eine Gleichförmigkeit der Wirkungen, der Ereignisse des Menschengeschlechts, schließen. Eine andre Bestätigung dieses Schlusses ließe sich aus der Geschichte selbst hernehmen. Allein so wichtig und notwendig ihr Zeugnis bei dem ganzen Gegenstande bleibt, den ich behandle; so vermeide ich doch mit Fleiß, die eigentlichen Beweise in ihr zu suchen, vorzüglich hier bei der Prüfung der Ausführbarkeit meines Unternehmens, wo es am wichtigsten ist, nicht durch Irrtümer...

Erscheint lt. Verlag 16.7.2021
Reihe/Serie Reclams Universal-Bibliothek
Reclams Universal-Bibliothek
Nachwort Jörn Rüsen
Verlagsort Ditzingen
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte Neuzeit (bis 1918)
Schlagworte Analyse • Basiswissen • Buch Aufgabe des Geschichtsschreibers • Buch Formationsphase der Geisteswissenschaften • Buch Geisteswissenschaft • Buch Geschichtsdenken • Buch Geschichtsphilosophie • Buch Geschichtswissenschaft • Buch Hermeneutik • Buch historische Sinnbildung • Buch Historismus • Buch Humanismus • Buch Idealismus • Buch Sattelzeit • Einführung • Erläuterungen • Geisteswissenschaft • gelb • gelbe bücher • Geschichte • Geschichtsbuch Aufgabe des Geschichtsschreibers • Geschichtsbuch Formationsphase der Geisteswissenschaften • Geschichtsbuch Geisteswissenschaft • Geschichtsbuch Geschichtsdenken • Geschichtsbuch Geschichtsphilosophie • Geschichtsbuch Geschichtswissenschaft • Geschichtsbuch Hermeneutik • Geschichtsbuch historische Sinnbildung • Geschichtsbuch Historismus • Geschichtsbuch Humanismus • Geschichtsbuch Idealismus • Geschichtsbuch Sattelzeit • Geschichtsunterricht • Geschichtswissenschaft • Grundlagen • historisch • Humboldt Aufklärung • Humboldt Bildungsideal • Humboldt Essays • Humboldt Geschichtsbild • Humboldt Geschichtstheorie • Humboldt Humanismus • Humboldt Neuhumanismus • Humboldt Prinzip • Humboldt Texte • Humboldt Textsammlung • Lektüre • Literatur Aufklärung • Literatur Epoche Aufklärung • Reclam Hefte • Reclams Universal Bibliothek • Sachbuch Aufgabe des Geschichtsschreibers • Sachbuch Formationsphase der Geisteswissenschaften • Sachbuch Geisteswissenschaft • Sachbuch Geschichtsdenken • Sachbuch Geschichtsphilosophie • Sachbuch Geschichtswissenschaft • Sachbuch Hermeneutik • Sachbuch historische Sinnbildung • Sachbuch Historismus • Sachbuch Humanismus • Sachbuch Idealismus • Sachbuch Sattelzeit • Studenten • Studentinnen • Studierende • universalbibliothek • Universität • Vergangenheit • Vorlesungen • Wilhelm von Humboldt Aufgabe des Geschichtsschreibers • Wilhelm von Humboldt Aufklärung • Wilhelm von Humboldt Bildungsideal • Wilhelm von Humboldt Buch • Wilhelm von Humboldt Dokument • Wilhelm von Humboldt Essays • Wilhelm von Humboldt Formationsphase der Geisteswissenschaften • Wilhelm von Humboldt Geisteswissenschaft • Wilhelm von Humboldt Geschichtsbild • Wilhelm von Humboldt Geschichtsdenken • Wilhelm von Humboldt Geschichtsphilosophie • Wilhelm von Humboldt Geschichtstheorie • Wilhelm von Humboldt Geschichtswissenschaft • Wilhelm von Humboldt Hermeneutik • Wilhelm von Humboldt historische Sinnbildung • Wilhelm von Humboldt Historismus • Wilhelm von Humboldt Humanismus • Wilhelm von Humboldt Idealismus • Wilhelm von Humboldt Neuhumanismus • Wilhelm von Humboldt Originaltext • Wilhelm von Humboldt Prinzip • Wilhelm von Humboldt Sattelzeit • Wilhelm von Humboldt Text • Wilhelm von Humboldt Textausgabe • Wilhelm von Humboldt Texte • Wissen • Wissenschaft • Wissenschaftliche Abhandlung
ISBN-10 3-15-961887-0 / 3159618870
ISBN-13 978-3-15-961887-6 / 9783159618876
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