Die Sanduhr (eBook)
300 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7526-9753-7 (ISBN)
Augusto Guzzo, 1894 in Neapel geboren, 1986 in Turin verstorben, hat in Neapel Literatur, Orientalistik und Philosophie studiert und sich 1915 bei Sebastiano Maturi mit einer Tesi di Laurea über den «Vorkritischen Immanuel Kant» abgeschlossen. Zunächst lehre er am Gymnasium von Stabio, bevor er 1924 den Lehrstuhl für Philosophie und Philosophiegeschichte an der Facoltà di Magistero in Turin erhielt. 1929 begründete er die Zeitschrift «Erma», deren Schriftenleitung er bis 1932 innehatte. Nach einem Zwischenspiel in Pisa, wo er Moralphilosophie lehrte, kehrte er 1934 an die Universität von Turin zurück und hielt in der Nachfolge von Erminio Juvalta den Lehrstuhl für Moralphilosophie inne. Im Jahr 1939 wechselte er auf den Lehrstuhl von Annibale Pastore für Theoretische Philosophie, behielt aber die Lehrverpflichtung für Moralphilosophie bei. Im gleichen Jahr gründete er zusammen Nicola Abbagnano die Piemontesische Sektion des «Istituto di Studi filosofici», das seinen Sitz beim Institut für Philosophie hatte. Im Jahr 1950 trat er in die Herausgeberschaft der Zeitschrift «Filosofia» ein, der er seit 1959 ein Beiheft über die internationale Philosophie beifügte, das 1969 zu den «Studi internazionali di filosofia» verselbständigt wurde. Zu den zahlreichen philosophie-geschichtlichen Monographien und Abhandlungen hinzu, hat Guzzo verschiedene philosophie-theoretische Schriften veröffentlicht, worin der Idealismus kritisch überdacht wird. In den Jahren zwischen 1947 und 1980 hat er nach und nach ein philosophie-systematisches Gesamtwerk publiziert, das den Titel «L'uomo» trägt, und zu dem Bände über die Vernunft, über Ethik und Moral, über die Wissen-schaften, über die Künste, über die Religion und über die Philosophie gehören. Der philosophische Denkweg von Guzzo verläuft ausgehend von einem theistischen Idealismus, der stark vom Platonismus und von Aurelius Augustinus geprägt ist, und der das menschliche Individuum über alles stellt, die Werthaftigkeit der Normativität geltend macht und die absolute Transzendenz des Absoluten vertritt. Dabei setzt sich Guzzo polemisch mit dem Historismus auseinander, dem er die Bestrebung der Individualperson entgegenstellt, die allein die Spannung zwischen dem Weltlichen und Menschlichen auf der einen und dem Absoluten, Göttlichen auf der anderen Seite aktualisierend verwirklichen kann, indem sie sich in Richtung auf die Wahrheit vervollkommnet.
I. Im Vorfeld des Aktuellen
1.1 „Mein“ Sizilien
[15] Noch nach mehr als dreissig Jahren der fast vollständigen Abwesenheit tragen wir „unser“ Sizilien noch zuinnerst im Herzen, aber nicht die touristische, kitschige, herkömmliche „schöne Insel“, die „Sonnenstube Italiens“, wo ewig Frühling herrscht, nicht das altehrwürdige Land, welches von legendären Hirten, ehrenwerten Räubern und Messerstechern bewohnt wird, sondern vielmehr das wahrhaftige Sizilien. Das „andere“ Sizilien, das der Reklame machenden Ansichtskarten aus „piemontesischer“ Produktion, das gibt es nicht, das hat garnie existiert. Denn „unser“ Sizilien ist ein erbarmungsloses, ja grausames, massloses Land, wo auch die Indifferenz von alteingesessenen Familien, die würdevolle und still ertragene Armut, das regungslose Schweigen und der unbeirrbar blaue Himmel die Menschenseelen in Bestürzung und Abgründe versetzen und das Denken, den Geist und die Worte, die Sprache gleichsam aus den Angeln heben. Die karge Landschaft und der sonnige Himmel, das Himmelszelt über der „Montagna“,7 die fruchtbare Vegetation und die ausgedörrte Einöde, das alles bildet eine Anhäufung von Gegensätzen und Widersprüchen, von denen die unaufhörlichen Sequenzen des geistigen Passagenwerks in Schwingungen versetzt wird, unterbrochen von den Schlägen, den Unterbrechungen einer allzu dogmatischen und unnachgiebigen Dogmatik der entschiedenen Unmittelbarkeit. In diesem „dialektisch antithetischen“, ja antagonistischen Landstrich eines GORGIAS erweisen sich auch die noch so dürren Blätter als fleischig, und die noch so saftigen Früchte als trocken. Eine tausendjährige Misere, die keine zeitliche oder geschichtliche Dimension mehr kennt, hat sich in die eigensinnige Duldsamkeit der gepeinigten Bewohner Siziliens eingenistet, die nichtsdestotrotz fast unabhängig von diesen widrigen Umständen ihrer „niedergeschlagenen Gegend“ sind, welche sich als eine jahrhundertealte Folge ihrer Grundüberzeugung darstellt, dass das Gute und das Böse, das Wohl und die Widrigkeiten, wie sie seit ewigen Zeiten walten, gegeneinander ankämpfen, ohne sich viel um den Willen der Menschen zu kümmern; und dennoch gibt es in allen Menschen und in allen Dingen auf Sizilien, und so auch von einer noch so belastenden Verzweiflung [16] eines Vulkanausbruchs und von Lavaströmen, oder von einer wohl geordneten Entwicklung schlecht und recht verborgen, eine unentwegte und überschiessende Vitalität, sowie eine unersättliche Lebensfreude. Ein solches Leid, eine solche Misere verleihen den Bewohnern Sizilien ein Seelenleben von einer unterschwelligen Resignation und Betrübnis, und gleichzeitig rufen sie bei manchen Eingeborenen eine explosive Unrast und gequälte Bemühungen hervor, führen gleichsam zu einer „Aufdringlichkeit“, zu scheinbar fieberhaften Anstrengungen und zu im Grund verzweifelten Aktionen, wovon sie dazu geführt werden, das bereits Erlangte immer wieder von neuem zu dekonstruieren und zu rekonstruieren, getrieben von einer Art von Selbstaufgabe und Gleichgültigkeit, nur um sich neuerlich dem Enthusiasmus zu verschreiben, der sie dem immer gleichen Los anheimstellt. Der rapide Wechsel von einer Liebhaberei zur nächsten, wodurch etwas, das noch gestern das Gemüt erhoben und alles in Atem gehalten hat, ist schon am Tag darauf ohne Interesse oder gar vergessen ist, erweist sich nicht als eine Unbeständigkeit, sondern vielmehr als eine blosse Wechselhaftigkeit von den unerträglichen und unterschwelligen Qualen des Glaubens, dass menschliches Tun und Lassen nicht zu verändern, alle Auflehnung gegen das Unvermeidliche nichts auszurichten vermag, wobei diese Unausweichlichkeit das einzige ist, wogegen es die Mühe lohnt, einen fatalistischen Willensentschluss zu stellen. Viele der Charakterzüge, viele Gesichtszüge der Wesensart der Sizilianer, die zugleich impulsiv und träge, zugleich leidenschaftlich und indifferent sind, die gleichzeitig grosszügig und freigiebig sind, und die dennoch an ihrem Hab und Gut hängen, bis hin zur Familienfehde, lassen sich durchaus erklären und nachvollziehen, wenn man sich diese ihre grundlegende Seinsweise und Lebensart vor Augen hält.
Dazu tragen auch die Sonne, der sonnige Himmel ihren Teil bei. Aber die Sonne brennt auch an anderen Orten dieses Planeten unaufhaltsam, und so hat denn die Strahlung des erhabenen Sonnensterns immer mit Bezugnahme auf die Köpfe betrachtet und beurteilt zu werden, worauf die Sonne ihre Strahlen wirft, und die Köpfe, der Geist der Sizilianer ist nun schon von ihrer dreitausendjährigen Geschichte gezeichnet, in deren Verlauf sich Sikuler, Griechen, Karthager, Römer, Araber und Normannen abgelöst haben. Man muss also schon alles das zusammennehmen, und hat die Kultur mit dem sonnigen Wetter zu verbinden, den Geist in die karge Landschaft ohne viel Wasser einzubetten, neben die Lavaströme und die Erdbeben zu stellen, um sich bewusst zu machen, was die Köpfe und die Herzen der sizilianischen Insulaner geprägt hat. Zwischen den Orangenhainen bei Catania und denen bei Neapel liegen nicht nur mehrere hundert Kilometer Entfernung und die Meeresstrasse von Messina, sondern vielmehr gehören sie zwei verschiedenen Welten an, wobei der fruchtbarere Nährboden der kargen Wüstenlandschaft den Rücken stärkt, da nur ein Meter vom letzten blühend weissen Fruchtbaum entfernt die Lava zum Stillstand gekommen ist. Das schwärzliche Grün der Blätter fällt dem Auge zur Last und trübt den Blick wie ein Schleier von Leid, und der Duft der Orangenblüten im Kontrast mit dem blendend hellen Licht hebt das alles auf, sodass alles gleichzeitig sinnenfreudig und leichenblass ist, alles eine einzige Mischung von Leben und Tod, [17] wie dies bei allen schweren und scharfen Parfums der Fall ist. Rebberge klettern an den terrassierten Abhängen der schattenlosen Hügel hinauf, ohne alles Plätschern eines Rinnsals oder Rauschen eines Bächleins, erstickt vom Gezirpe der Zikaden, alle Gewässer straubtrocken vom kochenden Sinnenlicht, und während der Traubenernte hängt der schwere Geruch von Traubenmost über dem Landstrich und berauscht mehr als das gleissende Licht von Sonne und Sternen, sodass selbst die Blätter der Mandelbäume rostrot erscheinen. Alles gezeichnet von brennender Glut und dürrer Trockenheit weit und breit, ausser selten strömendem Regenfall, der die Erde und die Vegetation mit reissender Strömung mit sich reisst, wobei die Wasserläufe nach nur zwei Tagen jedoch wieder ebenso ausgehöhlt und ausgetrocknet ihre Steine und Wurzeln zeigen, wie schon immer; durch die Luft schneit es Orangenblüten, die gleich Dornen vom Brombeerstrauch stechen können. In der vom Sonnenlicht durchbohrten und selten in Schatten getauchten Stille, umgeben vom unwiderstehlichen Duft von Alkoven, welcher an die Agrumen der Orangen und an beissendes Heu erinnern, befinden sich vereinsamte Wünsche und unsägliche Hoffnungen aufgehoben, immerzu eilfertig zu diensten, darauf bedacht und dazu bereit, ihre Zähnen in die Kehle zu schlagen. Ein unverhülltes Gefühl von Erdenschwere verbindet dabei Seele und Körper der Menschen, bindet Geistiges und Menschliches unauflöslich aneinander, und macht aus der Körperlichkeit eine Flamme, die den menschlichen Körper selber verzehrt, aufzehrt bis zur Selbstverleugnung und Selbstaufgabe, bis zum Verlust alles materiell lastenden Gewichts; die „Sinnlichkeit“, die „Sinnenfreuden“ werden denn auch entweder in der kontemplativen Betrachtung sublimiert oder von der sinnlichen Wahrnehmung selber annulliert, nicht sicher, ob sich die Menschenseele damit nun zum Göttlichen erhebt, oder aber in die Eingeweide des Irdischen hinablässt.
Die Landschaft auf Sizilien ist nie gemässigt, niemals einengend oder ausladend, und es fehlt an Orten für die Gemeinschaft und an Oasen für die Erquickung; die Insel Sizilien ist mit einer Natur dotiert, die keine Vergebung kennt, und die Inselbewohner, die Sizilianer, die sich in diese Gewaltsamkeit schicken und davon abgehärtet sind, können ihr das nicht recht verzeihen, nach einem selbstironischen Sprichwort. Von daher rührt denn auch die Trägheit der Einwohner Siziliens, davon kommt aber auch das diametrale Gegenteil, deren Übertreibungen, die Anwandlung, des Guten zu viel zu tun; einmal handelt es sich dabei um ein Hinnehmen, einmal um das lautere Gegenteil, ein Auflehnen, um ein Resignieren und um das reine Gegenteil, ein Revoltieren. Der Sinn für das Leben, für alles Lebendige fällt zugleich erbarmungslos und misstrauisch aus, kennt in jedem Fall immer nur die Extreme, die aufeinander treffen und einander gegenseitig aufheben.
Da fällt es dem Sizilianer nicht leicht, „vernünftig“ zu sein, „vernunftgemäss“ zu leben, und auch wenn sie in einem solchen Ambiente, aus lauter Extremen durchaus verständig und gemässigt handeln können, Umständen ausgesetzt, denen das Sonnenlicht alle Erdenschwere nimmt und alle Schattierungen entledigt, denn wo es an Gewicht fehlt, kann es immer nur „Leichtgewichte“ geben und wo es keine Nuancierungen gibt, treten...
Erscheint lt. Verlag | 6.7.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Geschichte der Philosophie |
ISBN-10 | 3-7526-9753-9 / 3752697539 |
ISBN-13 | 978-3-7526-9753-7 / 9783752697537 |
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Größe: 493 KB
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