Auf Abstand (eBook)
222 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-44834-3 (ISBN)
Malte Thießen leitet das LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte in Münster und ist apl. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Oldenburg.
Malte Thießen leitet das LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte in Münster und lehrt als außerplanmäßiger Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Oldenburg.
Geschichte in Echtzeit schreiben
Es ist ein herrlicher Sommertag. Vom Rhein weht ein Luftzug Gitarrenklänge, Gesprächsfetzen und Grillgeruch durch den Park. Man könnte die Pandemie glatt vergessen. Nichts scheint diesem Sommeridyll ferner als der unsichtbare Tod. Dabei ist die Bedrohung sehr sichtbar. Auf dem Rasen markieren 190 weiße Kreise das Abstandsgebot. Die Distanz zwischen den Kreisen beträgt drei Meter, so dass Spazierengehende in gebotener Entfernung durch den Rheinpark flanieren können. Auf ihren kreisförmigen Inseln kommen Menschen zu zweit oder in kleinen Gruppen zusammen und halten Abstand. So sitzen sie kontaktlos in der neuen Normalität.
Wie an diesem schönen Julitag 2020 in Düsseldorf ordneten Menschen auf der ganzen Welt ihren Nahbereich neu. »Auf Abstand« avancierte zum Leitmotiv, das für gut eineinhalb Jahre alles und jeden bestimmte – die große Politik ebenso wie den kleinen Alltag, unsere Freizeit genauso wie unsere Arbeit, unsere Kommunikation und unseren Konsum. »Auf Abstand« blieb selbst Monate später das Leitmotiv, als Impfprogramme eine effektive Eindämmung der Pandemie erlaubten. Noch in einer anderen Hinsicht avancierte der Abstand zum Leitmotiv. Er verweist auf gesellschaftliche Spannungen, die während der Pandemie sichtbar wurden. Maßnahmen zur Eindämmung verschärften Gegensätze – zwischen Arm und Reich, zwischen Frauen und Männern, zwischen uns und »den Anderen« – sowie Konflikte zwischen gesellschaftlichen Gruppen und Parteien. In der Familie und im Freundeskreis gingen Menschen auf Distanz zueinander. Unterschiedliche Ansichten zur Pandemie mitsamt ihren Ursachen und Folgen richteten das Miteinander neu aus. Und nicht zuletzt steht der Abstand für ein neues Zeitgefühl. Der Lockdown riss uns aus dem gewohnten Leben und markierte den Beginn einer neuen Zeitrechnung: der Zeit vor und nach Corona.
Dieses Buch erzählt die Geschichten dieser Distanzierungen. Es macht sich auf eine Spurensuche durch die deutsche Gesellschaft und fragt nach Voraussetzungen, Wandlungen und Folgen der Pandemie. Nichts und niemand blieb zwischen Frühjahr 2020 und Sommer 2021 von Corona unberührt. Auf allen gesellschaftlichen Ebenen und Feldern richtete sich das soziale Koordinatensystem neu aus. Die Pandemie betraf selbst jene, die ihre Existenz leugneten. Denn auch die »Coronaleugner« und »Querdenker« waren eine Folge des Virus.
»Auf Abstand« ist keine Coronageschichte im engeren Sinne. Dieses Buch erzählt keine Geschichte virologischer Forschungen, sondern eine Gesellschaftsgeschichte der Pandemie in Deutschland. Selbstverständlich ließe sich die Geschichte einer weltweiten Bedrohung ebenso gut als Globalgeschichte schreiben.1 Allerdings verliert eine globale Perspektive schnell an gesellschaftlicher Tiefenschärfe, um die es in diesem Buch gehen soll. Denn in der Auseinandersetzung mit Corona ging es nie nur um Gesundheit und Krankheit, um Leben und Tod. Es ging ebenso um die Fundamente unserer Demokratie und um die Frage, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben wollen. Deshalb erzähle ich die Pandemie nicht von der Medizin, sondern von den Menschen her. Meine Gesellschaftsgeschichte fragt nach sozialen Kontexten, Konflikten und Krisen, die sich während der Pandemie wie in einem Brennglas bündelten. So stritten Presse und Parlamente nicht nur über den Infektionsschutz, wenn das »Infektionsschutzgesetz« oder die »Nationale Impfstrategie« auf der Tagesordnung standen. Darüber hinaus kreisten solche Debatten um das Verhältnis zwischen Bund und Ländern, zwischen Exekutive und Legislative, ja um die Chancen und Schwächen der Parlamente im Angesicht einer Pandemie.
Die gesellschaftliche Dimension der Pandemie liegt also auf der Hand. Etwas komplizierter ist es mit der geschichtlichen Dimension. Denn wie soll das eigentlich gehen, eine Geschichte der Coronapandemie? Sind die Ereignisse nicht viel zu frisch für Geschichte? Lässt sich Geschichte in Echtzeit schreiben? Tatsächlich leiden Historiker:innen unter einem Gegenwartssyndrom. Je näher Ereignisse an unserer Gegenwart liegen, desto schwerer sind sie einzuordnen. Im Falle der Coronapandemie ist das Problem sogar noch größer. Denn wir reden über ein Ereignis, dessen Ende zurzeit nicht absehbar ist. Obgleich sich beim Abschluss des Buchmanuskripts Ende Juni 2021 zumindest ein vorläufiges »Happy End« der Pandemie abzeichnete, falls man das bei mehr als 90.000 Toten allein in Deutschland überhaupt sagen möchte, ist diese Geschichte noch lange nicht vorbei. Selbst wenn weitere Erkrankungswellen ausbleiben, werden uns die Nachwirkungen der Pandemie noch lange beschäftigen.
Das Problem der Gegenwartsnähe und Endlosigkeit des Ereignisses machte sich schon an jenen Studien bemerkbar, die im Laufe des Jahres 2020 erste historische Einblicke in die Coronageschichte boten.2 Die Halbwertszeit dieser Darstellungen war zwangsläufig gering. Heute lesen sich viele dieser Studien als Quellen, die Einblicke in »damalige« Vorstellungen von der Pandemie eröffnen und so einmal mehr vom Problem der Gegenwartsnähe künden. Einige dieser Darstellungen bringen uns heute ins Grübeln, andere fast schon zum Schmunzeln. Wegen der Gegenwartsnähe geht dieses Buch einen anderen Weg als bisherige Darstellungen. Es erzählt keine Seuchengeschichte der Moderne, die dann im letzten Kapitel fast schon folgerichtig mit der Coronapandemie endet. Vielmehr stellt das Buch Ereignisse und Entwicklungen der Jahre 2020/21 in den Mittelpunkt, um diese anhand von Rückblicken ins 19., 20. und 21. Jahrhundert einzuordnen. Im Mittelpunkt dieses Buches steht somit die Coronapandemie mit ihren historischen Wurzeln und Bezügen zur Seuchengeschichte der Moderne.
»Auf Abstand« ist also auch eine Perspektive dieses Buchs. Ich erzähle die Coronapandemie in ihrer historischen Dimension, um Distanz zur Gegenwart zu gewinnen. Bei diesem Abstand geht es nicht um eineinhalb Meter, sondern um Jahrzehnte, mitunter Jahrhunderte. Einige Kapitel werfen Schlaglichter auf die Pest, Pocken und Cholera, andere auf die Diphtherie und Polio, auf zahlreiche Grippezüge oder Aids. Erst die historische Dimension gibt Antworten auf die Frage, was Corona eigentlich so besonders macht, was aber auch relativ typisch für den Umgang mit Seuchen ist. Die historische Einordnung bietet somit Gelegenheit, auf Abstand zur Gegenwart zu gehen, um unsere Erlebnisse aus der Distanz zu betrachten, um aktuelle Debatten zu versachlichen, vielleicht aber auch, um ein wenig demütig zu werden. Denn in historischer Perspektive klingen aktuelle Entwicklungen mitunter erstaunlich bekannt bzw. erschreckend vertraut.
Selbstverständlich wird auch dieses Buch früher oder später an der Gegenwart scheitern. Bis kurz vor Manuskriptabgabe veränderten sich unsere Erfahrungen mit der Pandemie und damit meine Schwerpunktsetzungen der Kapitel. Die historische Einbettung der Gegenwart erhöht gleichwohl die Wahrscheinlichkeit, dass Befunde dieser Gesellschaftsgeschichte für einige Zeit von Belang sein werden. Obwohl sich unsere Gegenwart – und damit unsere Perspektive auf die Seuchengeschichte – immer wieder ändert, können wir die Wurzeln und historischen Bezüge der Coronapandemie auch in Zukunft immer wieder neu für eine Betrachtung der Jahre 2020/21 heranziehen.
Es ist also an der Zeit für eine Bilanz. Denn die Gegenwartsnähe birgt ja nicht nur große Probleme, sondern ebenso große Potenziale. Eines der größten Potenziale hängt mit dem digitalen Wandel unserer Gesellschaft zusammen. Jahrhundertelang schrieben Historiker:innen ihre Seuchengeschichten aus Akten und Archiven. Gesetze und Gutachten, behördliche Anordnungen und wissenschaftliche Aufsätze, Briefe, Bilder und Karikaturen bilden die Basis für bisherige Darstellungen zur Seuchengeschichte.3 Während der Coronapandemie war die Überlieferungslage eine vollkommen andere. Zahlreiche Quellen der Jahre 2020/21 sind noch digital verfügbar. Das gilt nicht nur für Printmedien, Parlamentsprotokolle und Gutachten, die meist ja auch gedruckt vorliegen und daher langfristig überliefert werden. Wichtiger ist der Befund einer digitalen Überlieferungssituation für unzählige Quellen zur Coronapandemie, die ausschließlich online vorliegen. Zahlreiche Stellungnahmen auf Internetseiten, Tweets auf Nachrichtendiensten, Bilder und Blogs, Flyer und Broschüren, Fotos und Programme von Veranstaltungen und vieles mehr wurden nur online veröffentlicht. Digitale Quellen eröffnen einerseits neue Einblicke in eine Pandemie. Denn einfacher als je zuvor können wir eine Pandemie aus dem Blickwinkel unterschiedlicher Professionen, Parteien und einzelner Menschen betrachten. Andererseits sind ausgerechnet diese vielfältigen digitalen Einblicke in die Pandemie besonders bedroht. Seit...
Erscheint lt. Verlag | 15.9.2021 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► Zeitgeschichte |
Schlagworte | AIDS • asiatische grippe • Corona • Coronapandemie • Corona-Pandemie • Covid 19 • Covid-19 • Ebola • Freiheit • Geschichte • Gesellschaftsgeschichte • Gesundheit • HIV • Hongkong-Grippe • Impfen • Impfpflicht • Impfung • Krankheit • lockdown • Medizin • Medizingeschichte • Pandemie • Quarantäne • Querdenker • Schweinegrippe • Seuche • Seuchen • Sicherheit • Spanische Grippe • Tuberkulose • Zeitgeschichte |
ISBN-10 | 3-593-44834-3 / 3593448343 |
ISBN-13 | 978-3-593-44834-3 / 9783593448343 |
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