Anerkennung oder Unvernehmen? (eBook)

Eine Debatte
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2021 | 1. Auflage
174 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75446-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Anerkennung oder Unvernehmen? -  Axel Honneth,  Jacques Rancière
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Anerkennung steht im Zentrum von Axel Honneths einflussreicher Theorie des Sozialen; das Unvernehmen bildet die Grundlage von Jacques Rancières nicht minder wirkmächtiger Theorie der Politik. Für Honneth ist Rancières Konzeption des Politischen realitätsfern und zu stark auf Gleichheit fixiert; laut Rancière arbeitet Honneths Theorie der Anerkennung mit falschen Vorstellungen von Subjektivität und Identität. Gemeinsam überlegen sie, welche Gestalt eine kritische Theorie der Gesellschaft heute annehmen muss. Eine höchst produktive Debatte zwischen zwei gegensätzlichen Vertretern des europäischen postmarxistischen Denkens.



Axel Honneth, geboren 1949, ist Jack C. Weinstein Professor of the Humanities an der Columbia University in New York. 2015 wurde er mit dem Ernst-Bloch-Preis, 2016 f&uuml;r <em>Die Idee des Sozialismus</em> mit dem Bruno-Kreisky-Preis f&uuml;r das politische Buch ausgezeichnet. 2021 hielt er in Berlin seine vielbeachteten Benjamin-Lectures zum Thema des Buches <em>Der arbeitende Souver&auml;n</em>.

61Jacques Rancière

Kritische Fragen an die Anerkennungstheorie


Zu Beginn unserer Diskussion erscheint es mir wichtig, an einen Satz zu erinnern, der sich im Vorwort von Das Unvernehmen findet: »Damit die Einladung irgendeinen Effekt des Denkens produziert, muss die Begegnung ihren Punkt des Unvernehmens finden.«[1]  Deshalb werde ich versuchen, die Art von disagreement [die Diskussion zwischen Honneth und Rancière im Frankfurter Institut für Sozialforschung fand auf Englisch statt, Anm. d. Übers.], also Unstimmigkeit oder mésentente zwischen Anerkennung und Unvernehmen ausfindig zu machen, die unsere Diskussion fruchtbar machen könnte. Noch komplizierter wird das Problem dadurch, dass wir über übersetzte Begriffe diskutieren. Dis-agreement soll den unübersetzbaren Terminus »mésentente« wiedergeben, der mit der Doppelbedeutung von entendre im Sinne von Hören und entendre im Sinne von Verstehen spielt. Diese Doppelbedeutung des Sinns (nicht nur auf die Bedeutung, sondern auch auf die Wahrnehmung bezogen) von entendre geht durch den Terminus disagreement tendenziell verloren, der eher dem rechtlichen als dem ästhetischen Bereich entstammt und Beziehungen zwischen bereits gebildeten Persönlichkeiten in Bezug auf einen Gegenstand voraussetzt, über den Uneinigkeit besteht. Ich vermute, dass auch beim Terminus »Anerkennung« die Beziehung zwischen bereits bestehenden Entitäten im Vordergrund stehen könnte. Unsere gemeinsame Absicht, uns über unser Unvernehmen [mésentente] zu verständigen [entendre], ist also über drei Sprachen vermittelt: Deutsch, Französisch und Englisch. Meiner Meinung nach darf dieser Punkt nicht als nachrangig betrachtet werden. Wir müssen der Verzerrung Rechnung tragen, die jedem Kommunikationsprozess innewohnt. Ein Kommunikationsakt ist bereits ein Übersetzungsakt, der auf einem Gebiet angesiedelt ist, das wir nicht unter Kontrolle haben. Der Begriff mésentente schließt diese Verzerrung im Kern jedes Wortwechsels, im Kern der Form von Universalität ein, auf der ein Dialog beruht.

62Es ist wichtig, dieses Problem anzusprechen, um eine Frage auszuräumen, die in der Diskussion zwischen deutschen und französischen Philosophen oftmals aufgeworfen wird, nämlich die des »Relativismus«. Auf deutscher Seite wird häufig die Befürchtung geäußert, dass man, wenn man durch asymmetrische Positionen verzerrten Beziehungen Rechnung trägt, eine »relativistische« Position einnimmt und jedem Anspruch auf universelle Geltung die Gültigkeit abspricht. Ich dagegen glaube, dass in Wirklichkeit durchaus das Gegenteil zutreffen könnte. Wenn man einer solchen Art von Verzerrung und Asymmetrie Rechnung trägt, führt das zu einer anspruchsvolleren Form von Universalismus – zu einer Form von Universalismus, die sich nicht auf die Anwendung einer Spielregel beschränkt, sondern für einen unablässigen Kampf darum steht, die begrenzte Form des Universalismus, welche die Spielregel darstellt, zu erweitern und Verfahrensweisen zu erfinden, die bewirken, dass das bestehende Universelle mit seinen Beschränkungen konfrontiert wird und sie überwindet.

Damit komme ich zum wichtigsten Punkt: Wie vertragen sich Anerkennung und Kampf um Anerkennung mit dieser Vorstellung von Universalität? Axel Honneths Verwendungsweise des Begriffs Anerkennung, reconnaissance, lässt eine leichte Distanzierung gegenüber der gängigen Bedeutung des Begriffs erkennen. Mit »reconnaissance« sind nämlich gewöhnlich zwei Dinge gemeint: zunächst einmal die Übereinstimmung einer aktuellen Wahrnehmung mit etwas, das wir bereits kennen, wenn man etwa einen Ort, eine Person, eine Situation oder ein Argument wiedererkennt [reconnaissons]; und moralisch gesehen ist mit »reconnaissance« zweitens unsere Reaktion auf den Anspruch der anderen Individuen gemeint, als autonome Entitäten bzw. gleichwertige Personen behandelt zu werden. Beide Bedeutungen beruhen auf der Vorstellung substanzieller Identität. Insofern ist vor allem das »re-« in reconnaissance entscheidend. Reconnaisance, Anerkennung, ist ein Akt der Bestätigung. Der philosophische Anerkennungsbegriff konzentriert sich nun aber auf die Bedingungen, die solch einer Bestätigung zugrunde liegen; er bezieht sich im Wesentlichen auf die Konfiguration des Feldes, auf dem Dinge, Personen, Situationen und Argumente sich identifizieren lassen. Dabei handelt es sich nicht um die Bestätigung von etwas, das bereits existiert, sondern um die Konstruktion einer gemeinsamen Welt, in der das Existierende in Erscheinung 63tritt und Geltung besitzt. In diesem Fall ist Anerkennung der erste Schritt: Sie erlaubt uns, von Anfang an jedes Ding zu erkennen, einzuordnen und zu identifizieren. Im gängigen Wortsinn bedeutet Anerkennung: Ich identifiziere diese Stimme, ich verstehe, was sie mir sagt, ich stimme mit dem überein, was sie äußert. Doch im begrifflichen Sinne betrifft Anerkennung etwas Grundsätzlicheres: Was genau geschieht durch die Laute, die aus diesem Munde kommen, in meiner Wahrnehmungswelt und mit meiner Fähigkeit zur Sinnstiftung? Wie kommt es, dass ich das Vorgebrachte als Argument über etwas verstehe, das wir teilen, über unsere gemeinsame Welt? Aristoteles’ Unterscheidung zwischen logos und phone stellt ein Anerkennungsverhältnis dar bzw., mit meinen eigenen Worten gesagt, eine Aufteilung des Sinnlichen. Dieses Verhältnis eröffnet ein Feld, auf dem gleichzeitig Identifizierungen und Konflikte über diese Identifizierungen stattfinden, da es stets fragwürdig ist, ob das Tier, das vor mir steht und diese Laute von sich gibt, etwas über die Gemeinschaft sagt, das ich teilen kann. Wenn man, wie Axel Honneth, von Anerkennung im Sinne eines Kampfes um Anerkennung spricht, knüpft das ohne Frage an solch eine polemische Auffassung von Anerkennung an. Ich möchte in diesem Zusammenhang folgende Frage stellen: Wie stark weicht die Vorstellung von Anerkennung als Gegenstand eines Kampfes von den zwei in der gängigen Wortbedeutung enthaltenen Voraussetzungen ab, nämlich von der Identifizierung bereits bestehender Entitäten und von dem Gedanken einer Reaktion auf eine Forderung? Inwiefern unterscheidet sie sich von einem identitären Subjektverständnis und von der Auffassung, dass soziale Beziehungen wechselseitige Beziehungen sind?

Es lohnt sich, diese Fragen zu stellen, weil sich im Zentrum von Axel Honneths Theoriegebäude die Vorstellung eines Subjekts findet, das als auf sich selbst bezogene Identität hohe Konsistenz besitzt, und außerdem ein starker Akzent auf die Gemeinschaft als den Punkt gelegt wird, an dem die zwischenmenschlichen Beziehungen, die auf einem Modell wechselseitiger Anerkennung beruhen, miteinander verbunden sind. Seine Anerkennungstheorie ist zwei Dinge auf einmal. Sie ist eine Theorie der Selbstkonstruktion, die zeigt, dass die drei Bedingungen dieser Konstruktion – Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstwertgefühl – durch die anderen vermittelt werden. Und sie ist eine Theorie der Gemeinschaft, die behauptet, dass die Existenz einer gemeinsamen Welt von inter64subjektiven Beziehungen abhängt: Eine Gemeinschaft ist keine utilitaristische Ansammlung von Individuen, die auf Kooperation mit anderen Individuen angewiesen sind, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen, und juristische Regelungen benötigen, damit sie nicht durch sie zu Schaden kommen. Sie besteht aus Menschen, die sich in dem Maße selbst erschaffen [construire], wie sie, und sei es durch Kämpfe, Vertrauens-, Respekt- und Wertschätzungsbeziehungen, zu anderen Personen aufbauen [construire]. Aus einem solchen Blickwinkel fällt hier eine antisolipsistische Sichtweise des Individuums mit einer antiutilitaristischen Sichtweise der Gemeinschaft zusammen. Die dreigliedrige Einteilung in Liebe, Recht und Solidarität stützt sich auf ein ähnliches Prinzip. Viele verschiedene Beziehungen – des Kindes zu seiner Mutter, der oder des Liebenden zum geliebten Wesen, des Rechtsubjekts, das Verträge schließt, des...

Erscheint lt. Verlag 20.6.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Bruno-Kreisky-Preis 2015 • Ernst-Bloch-Preis 2015 • Kritische Theorie • postmarxismus • Sozialtheorie • STW 2233 • STW2233 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2233
ISBN-10 3-518-75446-7 / 3518754467
ISBN-13 978-3-518-75446-7 / 9783518754467
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