Historisch Vergleichen (eBook)

Eine Einführung
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
204 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-44815-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Historisch Vergleichen -  Hartmut Kaelble
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Der internationale Vergleich ist Bestandteil der politischen Öffentlichkeit, aber auch ein etabliertes Forschungsinstrument in den Geschichts- und Sozialwissenschaften. In dieser Einführung, einer vollständigen Überarbeitung seines Standardwerks »Der historische Vergleich« (1999), gibt Hartmut Kaelble einen Überblick über die Definitionen des historischen Vergleichs, über die Intentionen und lebhaften Debatten, über die enge Verbindung von Vergleich und transnationaler Transferuntersuchung sowie über die neuen thematischen Richtungen in der geschichtswissenschaftlichen Vergleichsforschung. Anhand zahlreicher Beispiele zum 19. und 20. Jahrhundert gibt das Studienbuch Empfehlungen dafür, was man im historischen Vergleichen bei der Fragestellung, der Fallauswahl, der Quellen und des historischen Kontexts bedenken sollte. Nicht zuletzt zeigt es, wie man mit historischem Vergleichen andere Gesellschaften besser verstehen kann.

Hartmut Kaelble ist emeritierter Professor für Sozialgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Hartmut Kaelble ist emeritierter Professor für Sozialgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin.

1.Einleitung


Der Vergleich und dabei auch die Untersuchung von transnationalen Beziehungen sind heute etablierte Forschungsinstrumente in den Geschichtswissenschaften genauso so wie in anderen Geistes- und Sozialwissenschaften. Sie gehören zwar nicht zum Arbeitsalltag jedes Historikers, aber mehr Historiker als vor einem halben Jahrhundert machen von diesen Methoden Gebrauch. Dahinter stehen teils Veränderungen unseres Alltags, teils neue Entwicklungen in der Politik, teilweise aber auch Veränderungen in der Geschichtswissenschaft in den letzten Jahrzehnten.

1.1 Veränderungen des Alltags


Vergleichen ist allerdings weit älter. Europa ist schon in der Antike aus dem Vergleich mit anderen Kulturen entworfen worden. Internationale oder interkulturelle Vergleiche verstärkten sich seit dem 18. Jahrhundert mit der Zunahme des Reisens und der Reiseberichte und im 19. Jahrhundert weiter mit dem Aufbau von Statistiken, allmählich auch im internationalen Zuschnitt. Vergleichen stieß zwar immer auch auf strikte Ablehnung, auf das Festhalten an unvergleichbaren Besonderheiten von Orten, Ländern oder Zivilisationen. Diese Ablehnung gibt es bis heute. Das Vergleichen wurde aber gleichzeitig von der Zunahme des Wettbewerbs in einer Reihe von Lebensbereichen, nicht nur in der Wirtschaft, vorangetrieben. Es ist deshalb eigentlich erstaunlich, dass sich die Geschichtswissenschaft erst in den letzten Jahrzehnten intensiver mit dem historischen Vergleich beschäftigte. Aber ohne die lange Einübung des Vergleichens gäbe es heute keinen historischen Vergleich und auch nicht dieses Buch (aufschlussreich für die Geschichte der Praxis des Vergleichens: Steinmetz 2019; Epple/Erhart 2015; zu Europa vgl. zuletzt Kocka 2021).

In den vergangenen Jahrzehnten sind vor allem zwei weitere Anstöße für den Vergleich hinzugekommen. Die geographische Ausweitung der persönlichen Erlebnisräume ist eine erste solche Veränderung, die sich auch seit dem Erscheinen der ersten Auflage dieses Buches im späten 20. Jahrhundert weiter verstärkte. Im Alltag machen wir heute weit mehr Erfahrungen mit anderen Ländern als in der Mitte des 20. Jahrhunderts, vor allem durch Auslandsreisen, durch Ausbildung und Berufstätigkeit im Ausland, durch familiäre Verbindungen mit Menschen aus dem Ausland, auch durch ausländische Waren, Dienstleistungen und Medien im eigenen Land. Über große Entfernungen gereist wurde schon seit der Steinzeit, aber zu einer Normalerfahrung der großen Mehrheit der Bevölkerung wurden das Reisen und damit das erlebte Vergleichen erst in den letzten Jahrzehnten. Noch in den 1950er Jahren hatte nur rund ein Viertel der Bevölkerung der Bundesrepublik ein anderes Land durch Reisen und Auslandsaufenthalte unabhängig vom Krieg kennengelernt. Unter den jungen Europäern von heute kennt umgekehrt nur noch eine Minderheit andere Länder überhaupt nicht. Angesichts dieser breiten Erfahrung anderer Länder bleiben der internationale Vergleich und die damit verbundenen Beziehungen in der Geschichtswissenschaft nicht mehr eine exklusive Sichtweise von gelehrten Experten. Sie ist eine Alltagsperspektive geworden, mit der man sich entweder im Wettbewerb mit anderen Ländern im Sport, in der Wirtschaft, in der Bildung oder in der Gesundheit sieht oder andere Länder besser zu verstehen sucht.

Darüber hinaus hat sich der Vergleich auch jenseits der internationalen Dimension im Alltag in den vergangenen Jahrzehnten erheblich verstärkt. Das fortwährende Vergleichen von Konsumgütern und Dienstleistungen wurde ebenso zu einer Alltagsprozedur wie das Ranking von Städten, von Schulen und Universitäten, von Büchern und Autoren, von Unternehmen und öffentlichen Verwaltungen, von Krankenhäusern und Ärzten. Die Digitalisierung hat dieses Vordringen des Vergleichens im Alltag noch weiter beschleunigt.

1.2 Politische Anstöße


Vergleiche werden darüber hinaus häufiger aus politischen Gründen gezogen: Der Eindruck der wachsenden internationalen Verflechtungen, aber auch der Abhängigkeiten und der Konfliktausgesetztheit des eigenen Landes, ob zutreffend oder nicht, motiviert zum internationalen Vergleich. Ein rein nationaler Blickwinkel lässt diese Außenverflechtungen und äußeren Konflikte in Politik, Wirtschaft und Kultur außer Acht.

Von der Politik wurde der Vergleich mit anderen Machtzentren und Staaten ebenfalls schon immer betrieben, gleichgültig ob es sich um die Größe von mittelalterlichen Kirchen und Burgen, um die Pracht frühneuzeitlicher Höfe, um das Ausmaß der Kolonialimperien oder um politische Reformen im 19. Jahrhundert ging. In den letzten Jahrzehnten waren es vor allem internationale Organisationen, die den Vergleich stärker betreiben. Sie stellen Länder als Modelle für Reformen oder abschreckende Beispiele des Reformunwillens einander gegenüber, setzen ebenfalls oft das Ranking ein und mobilisieren dadurch Öffentlichkeiten. Die OECD erzeugte mit der PISA-Studie besonders viel Furore und erregte in einigen Ländern die Öffentlichkeit mit den von ihr vergebenen schlechten Noten für das nationale Bildungssystem. Die Europäische Union nutzt das Instrument des internationalen Vergleichs intensiv für ihre Politik der offenen Methode der Koordinierung, mit der sie ihre Empfehlungen und Leitlinien durch den Vergleich mit den besten politischen Lösungen unter den Mitgliedsländern untermauert. Die WHO setzte dieses Instrument zuletzt in der Corona-Pandemie ein. Der fortwährende Vergleich soll die Regierungen zu einer Politik der Nachahmung bewegen. Vergleiche und Untersuchungen transnationalen Austauschs wurden dadurch nicht nur häufiger, sondern auch politisch aufgeladener.

Der historische Vergleich bietet für aktuelle Debatten über die Herausforderungen der globalen Politik und Wirtschaft oft ganz neue Perspektiven, unabhängig davon, ob es eher um internationale Rivalitäten, um einseitige internationale Abhängigkeiten oder um verstärkte Zusammenarbeit in gemeinsamen supranationalen Institutionen geht. Ein Beispiel zu internationalen Rivalitäten: Die heutigen Beziehungen zwischen China und Europa erscheinen ohne historischen Vergleich in einem ganz anderen Licht als mit historischem Vergleich. Ohne historischen Vergleich erscheint der dramatische Aufstieg Chinas vom armen, hinter Europa weit zurückliegenden Dritte-Welt-Land zur zweiten wirtschaftlichen und politischen Weltmacht einzigartig und ziemlich rätselhaft. Im historischen Vergleich erscheint der Auftritt Chinas dagegen eher als ein Wiederaufstieg, nachdem China bis in das 18. Jahrhundert wirtschaftlich und wissenschaftlich im Vergleich mit Europa gleichrangig oder häufig sogar überlegen war. Mit einem solchen historischen Vergleich versteht man auch die chinesischen Erwartungen besser.

Ein zweites Beispiel zu internationalen Abhängigkeiten: Die Transfers von den USA nach Europa gerieten seit dem Aufstieg der USA zur Supermacht nach dem Zweiten Weltkrieg in die Diskussion auch der Historiker. Sollen diese Transfers seit den späten 1940er Jahren als kulturelle Säule des amerikanischen Imperiums angesehen werden, mit dem die USA immer mehr den europäischen Konsum, die europäischen Lebensweisen und Werte in ihre Abhängigkeit brachten? Oder standen die Zeichen, wenn man amerikanischen und europäischen Konsum vergleicht, vor allem seit den 1970er Jahren eher auf einen wechselseitigen Austausch und auf eine Verdichtung der Beziehungen zwischen den USA und Europa, angesichts der wachsenden Präsenz von europäischen Waren und Lebensstilen, europäischen Autos und europäischen Flugzeugen, europäischem Essen und Trinken, europäischen Discountern und Möbelketten in die USA? Ist es ein Anzeichen des Rückgangs einer europäischen Abhängigkeit, dass bis in die 1980er Jahre viele Ängste vor einer amerikanischen kulturellen Übermacht und einer »Cocacolaisierung« Europas geäußert wurden, etwa Ängste vor den Burger-Restaurants, obwohl es zahlreiche europäische Erfindungen von Schnellimbissen wie Wurstbuden, Dönerbuden, Crêperien, Pizzerien gab – und dagegen heute von der Digitalisierung, nicht von einer Amerikanisierung der sozialen Medien gesprochen wird, obwohl die Übermacht amerikanischer Firmen im Vergleich weit größer ist als einst mit den Schnellrestaurants? Solche Fragen lassen sich nur durch eine vergleichende historische Untersuchung von europäisch-amerikanischen Transfers und den Einstellungen zu diesen...

Erscheint lt. Verlag 21.7.2021
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Geschichte Allgemeines / Lexika
Schlagworte 19. Jahrhundert • 20. Jahrhundert • Beziehungsgeschichte • Geschichte • Geschichtswissenschaft • historisch Vergleichen • Komparatistik • Politikwissenschaft • Praxis • Transnationale Geschichte • Vergleich • Vergleichen
ISBN-10 3-593-44815-7 / 3593448157
ISBN-13 978-3-593-44815-2 / 9783593448152
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