Silverview (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
256 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2635-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Silverview -  John le Carré
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Zum 90. Geburtstag des großen Schriftstellers und Bestsellerautors John le Carré Julian Lawndsley hat seinen Überflieger-Job in London drangegeben für ein einfacheres Leben als Buchhändler in einem kleinen englischen Küstenort. Kaum ist er ein paar Monate dort, stört ein abendlicher Besucher seine Ruhe. Edward, ein polnischer Emigrant, der auf Silverview lebt, dem großen Anwesen am Ortsrand, scheint viel über Julians Familie zu wissen und zeigt großes Interesse an den Details seines neuen kleinen Unternehmens.  Gleichzeitig erhält in London ein Agentenführer des britischen Geheimdienstes einen Brief, der ihn vor einer undichten Stelle im Dienst warnt, und die Ermittlungen führen ihn in einen kleinen Ort an der englischen Küste ...  Silverview ist die faszinierende Geschichte einer Begegnung, Erfahrung trifft auf Unschuld, Integrität auf Loyalität. John le Carré, einer der großen Chronisten unserer Zeit, konfrontiert uns mit der Frage, was wir den Menschen, die wir lieben, wirklich schuldig sind.  In Silverview betrachtet John le Carré sein Lebensthema wie unter einem Brennglas - die Welt der Geheimdienste. Große TV-Doku 'Der Taubentunnel' ab 20. Oktober 2023 auf Apple TV+

John le Carré wurde 1931 in Poole, Dorset geboren. Nach einer kurzen Zeit als Lehrkraft in Eton schloss er sich dem britischen Geheimdienst an. 1963 veröffentlichte er Der Spion, der aus der Kälte kam. Der Roman wurde ein Welterfolg und legte den Grundstein für sein Leben als Schriftsteller. Die Veröffentlichung von Tinker, Tailor, Soldier, Spy markiert den nächsten Höhepunkt seiner Karriere. Seine Figur des Gentleman-Spions George Smiley ist legendär. Nach Ende des Kalten Krieges schrieb John le Carré über große internationale Themen wie Waffenhandel, die Machenschaften der Pharmaindustrie und den Kampf gegen den Terror. Der in Deutschland hochgeschätzte Autor wurde mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet. John le Carré verstarb am 12. Dezember 2020. johnlecarre.com

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1


An einem regengepeitschten Vormittag gegen zehn Uhr im Londoner West End trat eine junge Frau mit um den Kopf gewickeltem Tuch und in einem weiten Anorak entschlossen in den Sturm, der über die South Audley Street fegte. Sie hieß Lily und befand sich in einem Zustand innerer Unruhe, der dann und wann in ein Gefühl der Empörung umschlug. Mit einer behandschuhten Hand beschirmte sie ihre Augen vor dem Regen, während sie mit finsterer Miene die Hausnummern studierte. Mit der anderen Hand schob sie einen mit einer Plastikhaube geschützten Buggy vor sich her, in dem ihr zweijähriger Sohn Sam saß. Manche Häuser waren so stattlich, dass sie gar keine Hausnummern hatten. Andere wiederum trugen zwar Hausnummern, gehörten aber zur falschen Straße.

Sie kam an einen protzigen Hauseingang, bei dem die ungewöhnlich gut erkennbare Hausnummer auf eine der Säulen gemalt war, stieg rückwärts die Stufen hinauf, den Buggy hinter sich herzerrend, blickte mürrisch auf das Namensschild neben den Klingeln und streckte den Finger nach dem untersten Knopf aus.

»Einfach fest drücken, meine Liebe«, erklärte eine freundliche Frauenstimme aus der Gegensprechanlage.

»Ich muss mit Proctor reden. Mit Proctor oder mit niemandem«, sagte Lily ohne Umschweife.

»Stewart ist schon auf dem Weg zu Ihnen, meine Liebe«, verkündete die freundliche Stimme; Sekunden später öffnete sich die Haustür, und ein schlaksiger Mann Mitte fünfzig mit Brille stand leicht nach links geneigt da und legte den langgezogenen Kopf mit der Höckernase halb scherzhaft fragend zur Seite. Neben ihm erschien eine matronenhafte weißhaarige Dame in Strickjacke.

»Ich bin Proctor. Kann ich Ihnen damit behilflich sein?«, fragte er mit einem Blick in den Buggy.

»Und woher weiß ich, dass Sie das sind?«, entgegnete Lily.

»Nun, weil Ihre verehrte Frau Mutter mich gestern Abend auf meinem Privattelefon angerufen und mich eindringlich darum gebeten hat, hier zu sein.«

»Allein, sagte sie«, wandte Lily ein und blickte die matronenhafte Frau düster an.

»Marie kümmert sich um das Haus. Sie hilft auch gern anderweitig, wenn nötig«, sagte Proctor.

Die ältere Frau trat vor, doch Lily wies sie mit einem Achselzucken ab, und Proctor schloss die Tür. In dem stillen Hausflur schob Lily die Plastikhaube hoch, sodass der Kopf des schlafenden Jungen auftauchte. Sein krauses Haar war schwarz, seine Gesichtszüge strahlten eine beneidenswerte Zufriedenheit aus.

»Er war die ganze Nacht wach«, sagte Lily und legte dem Kind eine Hand auf die Stirn.

»Ein hübscher Junge«, sagte Marie.

Lily schob den Buggy unter die Treppe, wo es am dunkelsten war, wühlte in dem Ablagefach unter dem Sitz herum, zog einen großen, unbeschrifteten weißen Umschlag hervor und baute sich vor Proctor auf. Sein angedeutetes Lächeln erinnerte sie an den ältlichen Priester, bei dem sie zu Internatszeiten ihre Sünden hatte beichten sollen. Sie konnte die Schule nicht leiden, sie konnte den Priester nicht leiden, und sie hatte jetzt nicht vor, Proctor leiden zu können.

»Ich soll warten, bis Sie das gelesen haben«, teilte sie ihm mit.

»Aber natürlich«, sagte Proctor freundlich und blickte durch die Brillengläser schräg auf sie herab. »Und darf ich noch sagen, wie leid mir das alles tut?«

»Wenn Sie eine Nachricht haben, dann soll ich sie mündlich überbringen«, sagte sie. »Sie wünscht keine Anrufe, keine Textnachrichten, keine E-Mails. Weder vom Dienst noch von sonst wem. Sie eingeschlossen.«

»Das ist auch alles sehr bedauerlich«, bemerkte Proctor nach einem kurzen Augenblick trüben Nachdenkens, dann drückte er prüfend mit den knochigen Fingern auf den Umschlag, als würde er ihn jetzt erst wahrnehmen: »Ein ziemliches Werk, das muss ich schon sagen. Wie viele Seiten sind das wohl?«

»Keine Ahnung.«

»Eigenes Briefpapier?«, noch immer tastete er den Umschlag ab, »das kann nicht sein. Niemand hat privates Briefpapier von diesem Format. Ganz normales Schreibmaschinenpapier, nehme ich an?«

»Ich habe nicht hineingeschaut. Hab ich doch schon gesagt.«

»Haben Sie, haben Sie. Nun«, fügte er mit einem komischen kleinen Lächeln an, das sie kurzzeitig entwaffnete, »an die Arbeit. Sieht so aus, als hätte ich da ganz schön was zu lesen vor mir. Entschuldigen Sie bitte, dass ich mich zurückziehe?«

In einem kargen Wohnzimmer am anderen Ende des Hausflurs saßen sich Lily und Marie auf klobigen, schottengemusterten Sesseln mit Armlehnen aus Holz gegenüber. Auf dem verkratzten Glastisch zwischen ihnen stand ein Blechtablett mit einer Thermoskanne Kaffee und Schokoladenkeksen. Lily hatte beides abgelehnt.

»Wie geht es ihr?«, fragte Marie.

»Den Umständen entsprechend, danke. Wenn man im Sterben liegt.«

»Ja, das ist natürlich sehr bedauerlich. Ist es ja immer. Aber wie ist ihre geistige Verfassung?«

»Sie hat noch alle Murmeln beisammen, falls Sie das meinen. Nimmt kein Morphin, davon hält sie nichts. Kommt zum Essen nach unten, wenn sie sich in der Lage fühlt.«

»Und sie hat ihren Appetit behalten, hoffe ich?«

Lily hatte genug, ging hinaus in den Flur und beschäftigte sich mit Sam, bis Proctor wieder auftauchte. Sein Zimmer war kleiner und dunkler als das Wohnzimmer, mit schmuddligen, sehr dicken Netzgardinen vor dem Fenster. Proctor, der darauf bedacht war, einen respektvollen Abstand einzuhalten, positionierte sich an der hinteren Wand neben dem Heizkörper. Lily gefiel sein Gesichtsausdruck überhaupt nicht. »Sie sind der Onkologe im Ipswich Hospital, und was Sie zu sagen haben, ist nur für die engste Familie bestimmt. Sie werden mir mitteilen, dass sie sterben wird, aber das weiß ich schon, und was gibt es noch?«

»Ich gehe davon aus, dass Sie wissen, was in dem Brief Ihrer Mutter steht«, sagte Proctor kurzerhand und klang nun gar nicht mehr wie der Priester, bei dem sie nicht hatte beichten wollen, sondern wie eine erheblich realere Person. Als er bemerkte, dass sie widersprechen wollte, ergänzte er: »Zumindest im Groben, wenn schon nicht im Wortlaut.«

»Ich hab doch schon gesagt«, entgegnete Lily schroff, »nicht im Groben und sonst auch nicht. Mum hat mir nichts gesagt, und ich habe nicht gefragt.«

Das Spiel, das wir im Schlafsaal gespielt haben: Wie lange kann man das andere Mädchen anstarren, ohne zu blinzeln oder zu lachen?

»Also gut, Lily, betrachten wir das doch mal von der anderen Seite«, schlug Proctor mit provozierender Nachsicht vor. »Sie wissen nicht, was in dem Brief steht. Sie wissen nicht, worum es geht. Aber Sie haben dieser oder jener Freundin erzählt, dass Sie mal eben nach London wollen, um ihn abzugeben. Wem haben Sie davon erzählt? Das müssen wir unbedingt wissen.«

»Ich habe niemandem auch nur ein einziges verdammtes Wörtchen erzählt«, sagte Lily ganz bewusst direkt in das ausdruckslose Gesicht auf der anderen Seite des Zimmers. »Mum hat gesagt, das soll ich nicht, also hab ich es auch nicht getan.«

»Lily.«

»Was?«

»Ich weiß sehr wenig über Ihre persönlichen Lebensumstände. Zumindest weiß ich, dass Sie irgendeine Art von Partnerschaft haben müssen. Was haben Sie ihm gesagt? Oder ihr? Sie können doch nicht einfach für einen Tag aus Ihrem schicksalsgeplagten Haushalt verschwinden, ohne irgendeine Erklärung abzugeben. Ist doch mehr als menschlich, dass man ganz nebenbei seinem Partner, seiner Partnerin, einem Kumpel gegenüber sagt: ›Weißt du was. Ich fahr mal eben nach London und übergebe für meine Mutter persönlich einen supergeheimen Brief‹!«

»Das ist menschlich, sagen Sie? Für uns? So mit anderen zu reden? Mit einer flüchtigen Bekanntschaft? Was menschlich ist: Meine Mum hat mir gesagt, ich darf es keiner Seele sagen, also hab ich das auch nicht getan. Außerdem wurde ich geschult. Von Ihrem Haufen. Das habe ich unterschrieben. Vor drei Jahren hat man mir die Pistole an den Kopf gehalten und gesagt, ich sei erwachsen genug, um ein Geheimnis zu hüten. Außerdem habe ich keinen Partner. Und auch keine Mädelsclique, mit der ich herumquatsche.«

Eine neue Runde »Wer starrt am längsten?«.

»Und meinem Dad hab ich auch nichts erzählt, falls Sie das wissen wollen«, fügte sie in einem Ton hinzu, der nach Beichte klang.

»Hat Ihre Mutter von Ihnen verlangt, dass Sie ihm nichts erzählen?«, fragte Proctor recht streng.

»Sie hat nicht gesagt, dass ich es tun soll, also habe ich es auch nicht getan. So sind wir. So ist das bei uns zu Hause. Wir laufen auf rohen Eiern. Vielleicht ist das bei Ihnen zu Hause auch so.«

»Dann sagen Sie mir doch bitte«, fuhr Proctor fort, ohne darauf einzugehen, wie man es bei ihm zu Hause mit so etwas hielt oder nicht hielt. »Nur aus Interesse. Welchen Grund haben Sie vorgeschoben, warum Sie heute nach London mussten?«

»Sie meinen, wie meine Legende lautet?«

Das hagere Gesicht auf der anderen Seite des Zimmers hellte sich auf.

»Ja, schätze, das meine ich«,...

Erscheint lt. Verlag 18.10.2021
Übersetzer Peter Torberg
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Literatur Romane / Erzählungen
Geisteswissenschaften
Schlagworte 11. September • Agenten • Agenten-Thriller • britische Küste • Buchhändler • CIA • Demokratie • East Anglia • Ehe • England • Friedrich Nietzsche • Geheimdienst • Geheimdienste • George Smiley • Internationales • Jugoslawienkrieg • Kriegsverbrechen • London • MI5 • MI6 • Nietzsche • Spione • Taubentunnel • Verbrechen • Verrat
ISBN-10 3-8437-2635-3 / 3843726353
ISBN-13 978-3-8437-2635-1 / 9783843726351
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