Ich, Ariadne (eBook)

Roman | Ein ungewöhnlicher Blick auf die griechische Sagenwelt
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2021 | 1. Auflage
416 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2594-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ich, Ariadne -  JENNIFER SAINT
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***Griechische Mythologie modern und fesselnd erzählt.*** Ariadne, Tochter von König Minos und Schwester des Minotaurus, ist so ganz anders als ihre Geschwister. Aufgewachsen mit den griechischen Heldensagen, schwört sie sich, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und es nicht den Göttern zu überlassen. Jedes Jahr beobachtet sie, wie das unterworfene Athen als Tribut 14 Jugendliche nach Kreta schickt, um den Hunger des Minotaurus zu stillen. Sie lehnt sich vergeblich gegen diese Grausamkeit auf. Bis sie sich in einen der Todgeweihten verliebt. Theseus verspricht ihr, sie mit nach Athen zu nehmen, wenn sie ihm hilft, das Ungeheuer zu töten. Ariadne verrät den Zugang zum Labyrinth und schenkt Theseus einen roten Wollfaden, sodass er den Weg zurück zu ihr findet. Gemeinsam segeln sie los, doch Theseus lässt sie auf der Insel Naxos zurück. Damit beginnt Ariadnes eigene Geschichte ... »Jennifer Saints hervorragend erzähltes Debüt ist ebenbürtig mit Madeline Millers Romanen.« Waterstones.com »Die Prinzessin von Kreta bekommt endlich ihre eigene Stimme. Relevant und aufschlussreich.« Stylist Magazine, beste Romane im Jahr 2021

Jennifer Saint begeisterte sich schon als Kind für die griechische Mythologie, und während ihres Studiums der Altphilologie am King's College in London hat sie ihre Liebe zu den antiken Sagen vertieft. Als Englischlehrerin versucht sie die Faszination für Geschichten aller Art und die reiche Erzähltradition seit Homer zu vermitteln. Jeder Erzähler hat die antiken Stoffe für sich neu interpretiert. Jennifer Saint stellt die weibliche Heldin in den Mittelpunkt.

Jennifer Saint begeisterte sich schon als Kind für die griechischen Mythologie, und während ihres Studiums der Altphilologie am King's College in London hat sie ihre Liebe zu den antiken Sagen vertieft. Als Englischlehrerin versucht sie die Faszination für Geschichten aller Art und die reiche Erzähltradition seit Homer zu vermitteln. Jeder Erzähler hat die antiken Stoffe für sich neu interpretiert. Jennifer Saint stellt die weibliche Heldin in den Mittelpunkt.

1


Ich bin Ariadne, Prinzessin von Kreta, obwohl meine eigene Geschichte mich weit von der felsigen Küste meiner Heimat fortführen wird. Mein Vater Minos erzählte mir gern und oft davon, wie seine untadelige Moral ihm zum Sieg über Megara, zur Herrschaft über Athen und zu der Gelegenheit verhalf, mit seinem unfehlbaren Urteilsvermögen ein leuchtendes Vorbild zu geben.

In manchen Versionen ihrer Geschichte heißt es, Skylla sei im Augenblick ihres Todes in einen Seevogel verwandelt worden. Doch statt dadurch ihrem grausamen Schicksal zu entkommen, musste sie sofort vor einem Adler mit einem purpurnen Streifen fliehen, der sie bis in alle Ewigkeit verfolgt. Ich bin durchaus geneigt, das zu glauben, denn die Götter haben bekanntlich ihre Freude an Spektakeln von unendlich in die Länge gezogenen Qualen.

Aber wenn ich mir Skylla vorstellte, dann als törichtes, allzu menschliches Mädchen, das inmitten der schäumenden Wellen im Kielwasser des Schiffs meines Vaters nach Luft rang. Ich sah sie vor mir, wie sie im tosenden Wasser nicht nur von den schweren eisernen Ketten, mit denen man sie gefesselt hatte, in die Tiefe gezogen wurde, sondern auch von der Last der Wahrheit, dass sie alles, was sie gekannt hatte, für eine Liebe geopfert hatte, die so trügerisch war wie die in der Gischt schimmernden Regenbögen.

Nach Skylla und Nisos war das blutige Werk meines Vaters jedoch noch nicht vollbracht. Von Athen verlangte er einen schrecklichen Preis für den Frieden. Zeus, der allmächtige Herrscher der Götter, schätzte Macht bei Sterblichen über alles, und so gewährte er seinem Favoriten Minos die Gnade einer schrecklichen Seuche, die er wie eine Sturmflut aus Krankheit, Leid und Tod über Athen hereinbrechen ließ. Ein großes Geschrei erhob sich in der Stadt, als Mütter mit ansehen mussten, wie ihre Kinder vor ihren Augen dahinsiechten und starben, als Soldaten auf dem Schlachtfeld zusammenbrachen und als die stolze Stadt – die erkennen musste, dass sie wie alle Städte nur aus schwachem, menschlichem Fleisch bestand – unter der Last der Leichenberge zu ersticken drohte und kapitulieren musste. Athen blieb keine andere Wahl, als all seine Forderungen zu erfüllen.

Mein Vater verlangte jedoch weder Macht noch Reichtum von Athen, sondern einen Tribut – sieben athenische Jünglinge und sieben athenische Jungfrauen mussten jedes Jahr auf einem Schiff nach Kreta entsandt werden, um den Hunger jenes Ungeheuers zu stillen, an dessen Existenz meine Familie fast zerbrochen wäre, die uns aber in den Status eines Mythos erhob. Jene Kreatur, deren Gebrüll die Gebäude unseres Palastes erzittern ließ, wenn die Zeit ihrer jährlichen Fütterung nahte, und die tief unter der Erde in einem so weitverzweigten, verworrenen Labyrinth hauste, dass niemand, der es betrat, je wieder zurück ans Tageslicht fand.

Ein Labyrinth, zu dem ich allein den Schlüssel besaß.

Ein Labyrinth, das jenes Wesen beherbergte, das Minos’ größte Demütigung und zugleich sein wertvollster Besitz war.

Meinen Bruder, den Minotaurus.

Als Kind übte der verwinkelte Palast von Knossos eine endlose Faszination auf mich aus. Ich streifte durch eine verwirrende Anzahl von Räumen und verwinkelten Gängen, strich über die glatten roten Mauern, fuhr mit den Fingerspitzen die Umrisse der Labrys nach – jener Doppelaxt, die viele Steine des Palastes zierte. Später erfuhr ich, dass die Labrys die Macht des Zeus symbolisiert, der damit den Donner herbeiruft – eine gewaltige Machtdemonstration. Für mich, die ich durch den Irrgarten meines Zuhauses streunte, sahen sie aus wie Schmetterlinge. Und es war auch der Schmetterling, an den ich dachte, wenn ich aus dem düsteren Kokon des Palastinneren in den offenen, lichtdurchfluteten Hof trat, in dessen Mitte ein poliertes rundes Objekt prangte, auf dem ich die glücklichsten Stunden meiner Kindheit verbrachte – eine große Tanzbühne. Oft wirbelte ich in schwindelerregenden Kreisen dahin, wob mit den Füßen ein unsichtbares Muster auf dieses Wunderwerk aus Holz, ein handwerklicher Triumph des legendären Erfinders Dädalus. Obwohl die Tanzbühne natürlich nicht als seine berühmteste Schöpfung in die Geschichte eingehen würde.

Ich hatte zugesehen, wie er sie gebaut hatte; ein übereifriges Mädchen, das sich voller Ungeduld hinter ihm herumdrückte und gespannt darauf wartete, dass sie endlich fertig wurde, ohne zu ahnen, dass es einem Erfinder bei der Arbeit zuschaute, dessen Ruhm sich in ganz Griechenland verbreitete. Vielleicht sogar auf der ganzen Welt, auch wenn ich darüber nicht allzu viel wusste. Genau genommen wusste ich so gut wie nichts über das, was außerhalb der Palastmauern lag. Obwohl seitdem viele Jahre vergangen sind, sehe ich Dädalus in meiner Erinnerung als jungen Mann vor mir, erfüllt von der Energie und dem Feuer seiner Kreativität. Während ich ihm bei der Arbeit zuschaute, erzählte er mir, wie er sein Handwerk erlernt hatte, indem er von Ort zu Ort zog, bis seine außergewöhnlichen Talente die Aufmerksamkeit meines Vaters erregten, der dafür sorgte, dass es sich für ihn lohnte, an einem Ort zu bleiben. Dädalus war, wie mir schien, schon überall auf der Welt gewesen, und ich hing an seinen Lippen, wenn er die sengenden Sandwüsten Ägyptens und scheinbar unendlich weit entfernte Königreiche wie Illyrien oder Nubien beschrieb. Ich sah Schiffe, deren Masten und Segel unter Dädalus’ kundiger Anleitung konstruiert worden waren, in See stechen und malte mir aus, wie es sein würde, in einem davon über das Meer zu fahren, zu spüren, wie die Bretter unter den Füßen knarzten, während die Wellen gegen den Schiffsrumpf brandeten.

Unser Palast war voll von den Kreationen des Dädalus. Die Statuen, die er schuf, wirkten so lebensecht, dass sie mit Ketten an der Wand befestigt wurden, damit sie nicht davonmarschierten. Seine exquisiten langen Goldketten zierten den Hals und die Handgelenke meiner Mutter. Als er meine begehrlichen Blicke bemerkte, schenkte er mir meine eigene Kette mit einem kleinen Anhänger – zwei Bienen, die eine Honigwabe einrahmen. Er bestand ganz aus poliertem Gold und glänzte so prächtig in der Sonne, dass ich glaubte, die winzigen Honigtropfen würden in der Hitze schmelzen.

»Für dich, Ariadne.« Er sprach immer ernst mit mir, was mir gefiel.

In seiner Gegenwart kam ich mir nie vor wie ein lästiges Kind, eine Tochter, die nie eine Flotte befehligen oder ein Königreich erobern würde und deshalb für Minos von wenig Interesse war. Falls Dädalus mich nur bei Laune hielt, merkte ich es nicht, denn ich hatte immer das Gefühl, dass wir uns auf Augenhöhe begegneten.

Ehrfürchtig nahm ich den Anhänger entgegen, drehte ihn in den Händen und bestaunte seine Schönheit. »Warum Bienen?«, fragte ich ihn.

Er zuckte lächelnd die Schultern. »Warum nicht?«, fragte er zurück. »Die Götter lieben Bienen. Als Zeus noch ein Kleinkind war, fütterten ihn Bienen in seinem Höhlenversteck mit Honig, bis er stark genug war, um die mächtigen Titanen zu besiegen. Bienen stellen den Honig her, mit dem Dionysos seinen Wein mischt, damit er süß und unwiderstehlich wird. Es heißt, dass sogar der monströse Zerberus, der die Unterwelt bewacht, mithilfe von Honigkuchen bezähmt werden kann! Wenn du diese Kette um den Hals trägst, kannst du jeden Willen dem deinen sanft unterwerfen.«

Ich brauchte ihn nicht zu fragen, wessen Willen es zu besänftigen galt. Ganz Kreta zitterte vor Minos’ unerbittlichem Urteil. Ich wusste, es würde mehr als ein paar Bienen brauchen, um ihn zu beeinflussen, trotzdem war ich bezaubert von dem Geschenk und legte es nie ab. Ich trug es voller Stolz, als wir der Hochzeitsfeier des Dädalus beiwohnten. Mein Vater, der entzückt war, dass Dädalus sich mit einer Tochter Kretas vermählte, hielt ein üppiges Festmahl für ihn ab. Denn jedes weitere Band, das ihn mit diesem Ort verknüpfte, bedeutete, dass Minos weiterhin mit seinem brillanten Erfinder angeben konnte. Obwohl seine Frau bei der Geburt des gemeinsamen Kindes im Kindbett starb, als sie noch kein Jahr verheiratet waren, tröstete sich Dädalus mit seinem neugeborenen Sohn Ikarus, und ich liebte es, zuzusehen, wie er den Säugling in den Armen wiegte und ihm die Blumen, die Vögel und die vielen Wunder des Palastes zeigte. Meine jüngere Schwester Phädra tappte verzückt hinter ihnen her, und wenn ich es müde wurde, sie vor allen möglichen Gefahren zu beschützen, überließ ich sie der Obhut des Dädalus und schlich zurück zu meiner Tanzbühne.

Früher hatte auch meine Mutter Pasiphaë gern getanzt, und sie hatte es mir beigebracht. Sie hielt nichts von formellen Schrittfolgen, stattdessen vermachte sie mir ihre Gabe, freie Bewegungsabfolgen in fließende, geschmeidige Formen zu bringen. Ich sah zu, wie sie sich der Musik hingab, in eine Art anmutige Raserei verfiel, und folgte ihrem Vorbild. Sie machte für mich ein Spiel daraus, rief mir die Namen von Sternbildern zu, die ich mit den Füßen auf dem Boden nachzeichnen sollte; Konstellationen, aus denen sie sowohl Tänze als auch Geschichten spann. »Orion!«, sagte sie, und...

Erscheint lt. Verlag 29.11.2021
Übersetzer Simone Jakob
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Märchen / Sagen
Literatur Romane / Erzählungen
Geschichte Allgemeine Geschichte Altertum / Antike
Schlagworte Antike • Ariadnefaden • Booktok • Circe • Empowerment • Fantasy • Feminismus • Frauen erzählen • Frauenroman • Frauenstimme • Geheimnis • griechische Mythologie • Griechischer Mythos • Heldensagen • Historischer Roman • Kreta • Labyrinth • Liebesgeschichte • Literatur • Minotaurus • Naxos • Phaedra • schönes Buch • spannend • Theseus
ISBN-10 3-8437-2594-2 / 3843725942
ISBN-13 978-3-8437-2594-1 / 9783843725941
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