Die Weggesperrten (eBook)

Umerziehung in der DDR - Schicksale von Kindern und Jugendlichen
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
304 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2582-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Weggesperrten -  Grit Poppe,  Niklas Poppe
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Unerzogen, aufsässig, unverbesserlich - wer sich in der DDR nicht zur staatskonformen Persönlichkeit formen lassen wollte, erhielt solche Attribute und wurde oft in Umerziehungsheimen, Spezialkinderheimen, Jugendwerkhöfen weggesperrt. Denn Angepasstheit und das Funktionieren im Kollektiv galten der SED als unverzichtbar für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft. In das Leben renitenter Kinder und Jugendlicher wurde massiv eingegriffen, ihre Menschenrechte trat man mit Füßen. Viele von ihnen sind bis heute traumatisiert von den psychischen und physischen Misshandlungen. Grit und Niklas Poppe erklären anhand berührender Schicksale dieses wenig beachtete brachiale Umerziehungssystem und betrachten auch den Umgang mit 'Schwererziehbaren' zur NS-Zeit, das Schicksal der 'Verdingkinder' in der Schweiz sowie fragwürdige Methoden in der Bundesrepublik und in Heimen der Gegenwart.

Grit Poppe, geboren 1964 in Boltenhagen, studierte am Literaturinstitut in Leipzig und arbeitet als freiberufliche Autorin. Ihr Jugendroman Weggesperrt wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis für Kinder- und Jugendbücher. Für den Jugendroman Verraten erhielt sie den Deutsch-Französischen Jugendliteraturpreis. Zuletzt erschienen sind das Sachbuch Die Weggesperrten. Umerziehung in der DDR - Schicksale von Kindern und Jugendlichen, zusammen mit Niklas Poppe, sowie der Kriminalroman Rabenkinder. Die Akte Torgau. Sie lebt in Potsdam. https://www.grit-poppe.de/

Grit Poppe, geboren 1964 in Boltenhagen, studierte am Literaturinstitut in Leipzig und arbeitet als freiberufliche Autorin. Sie schreibt für Kinder, Jugendliche und Erwachsene Bücher. Ihr Jugendroman "Weggesperrt" wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis für Kinder- und Jugendbücher. Zuletzt erschienen sind der Roman "Angstfresser" (Mitteldeutscher Verlag, 2020), die Jugendromane "Alice Littlebird" (Peter Hammer Verlag, 2020) und "Verraten" (Dressler Verlag, Herbst 2020). Sie lebt in Potsdam. https://www.grit-poppe.de/

Vorwort


Während im Sommer 1989 Tausende DDR-Bürger über die Botschaften in Prag, Warschau und Budapest in den Westen flohen und im Herbst der friedlichen Revolution in Leipzig, Berlin, Plauen und anderen Städten der DDR immer mehr Menschen auf die Straße gingen, herrschte im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau noch der alltägliche, seit der Gründung 1964 nahezu unveränderte Wahnsinn. Jugendliche ab einem Alter von 14, die als »schwererziehbar« galten, sollten durch eiserne Disziplin, harte Arbeit, Zwangssport bis zur völligen Erschöpfung oder Strafen wie Einzelarrest, Essensentzug und andere Schikanen zu »sozialistischen Persönlichkeiten« umerzogen werden. Schon in den ersten drei Tagen des Aufenthalts versuchte man systematisch, den Willen der Jungen oder Mädchen zu brechen. Dazu gehörten oft ein »Empfang« mit körperlicher Gewalt durch einen Erzieher oder eine Erzieherin, außerdem eine Leibesvisitation, die alle Schamgrenzen überschritt, das Abschneiden der Haare, die Desinfektion und die völlige Isolation in einer Zelle, in der es außer einer Pritsche, einem Hocker und einem Eimer für die Notdurft nichts gab.

Auch wenn die Betroffenen zu unterschiedlichen Zeiten in der Disziplinareinrichtung waren, erlebten alle von ihnen den Schock der drastischen Umerziehungsmaßnahmen – und bis heute ist ihr Leben von diesen Erlebnissen geprägt. Die Lebensgeschichten, die sich in Torgau und anderen Umerziehungseinrichtungen abspielten, sind der Öffentlichkeit allerdings kaum bekannt. Zwar gingen einzelne Ereignisse gelegentlich durch die Medien, wirbelten zuweilen ein wenig Staub auf, doch das Schicksal der Zeitzeugen – die erniedrigenden Prozeduren, aber auch Selbstverletzungen, die menschenverachtenden Strafen und vor allem die lebenslänglichen Folgen dieser Erziehung – wurde außerhalb geschichts- und sozialwissenschaftlicher Arbeiten1 nur wenig beleuchtet.

Mehr als 30 Jahre nach dem Ende der DDR ist es höchste Zeit, die Geschichten der Betroffenen und ihre Perspektive in die Öffentlichkeit zu bringen. Wir sind mit einigen dieser Geschichten und mit den Menschen, die mit ihnen verknüpft sind, seit Jahren vertraut, wenngleich wir aus gänzlich unterschiedlichen Positionen mit den Erlebnissen der ehemaligen Heimkinder konfrontiert wurden: Während die eine verschiedene Betroffene durch Zeitzeugengespräche für ihren Jugendroman Weggesperrt kennenlernte und sich nach Erscheinen des Romans mit einigen von ihnen auf Lesereisen begab, begegnete der andere jenen Menschen just in dem Alter, in dem sie Jahrzehnte zuvor durch die DDR-Jugendhilfe weggesperrt worden waren. Die Last, die infolge der Zeit hinter Gittern auf diesen Menschen lag, erschien uns beiden – trotz aller Unterschiede der Einrichtungen – stets schwer. Die konkreten Erlebnisse, aber auch der Umgang damit waren dagegen individuell verschieden. Wie es sich anfühlte, im Umerziehungssystem der DDR gefangen zu sein, können nur jene berichten, die es erlebt haben. Deshalb bietet dieses Buch Raum für persönliche Erzählungen – vorsichtig und immer mit Zustimmung der Betroffenen in Form gebracht oder unmittelbar durch Auszüge aus bereits bestehenden biografischen Zeugnissen.

Der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau mag die bekannteste und härteste dieser Einrichtungen gewesen sein. Viele der damals Minderjährigen waren aber auch in anderen Einrichtungen, die ihr späteres Leben prägten: in Spezialkinderheimen, Durchgangsheimen und »normalen« Jugendwerkhöfen. Im Durchgangsheim Bad Freienwalde beispielsweise, in dem sie wie in Torgau in einem Gefängnis eingesperrt wurden, im Kombinat der Sonderheime, in dem Kinder mit Psychopharmaka ruhiggestellt wurden, oder im Jugendarbeitslager Rüdersdorf, wo die Jugendlichen unter scharfer Bewachung Zwangsarbeit verrichten mussten. Überall wurden Menschenrechte mit Füßen getreten.

Doch die Idee, Minderjährige zu angepasstem Verhalten umzuerziehen, war keine Erfindung der DDR: Die schwarze Pädagogik, verstanden als »eine Erziehung, die darauf ausgerichtet ist, den Willen des Kindes zu brechen, es mit Hilfe der offenen oder verborgenen Machtausübung, Manipulation und Erpressung zum gehorsamen Untertan zu machen«,2 erscheint als kontinuierliche Erziehungsform innerhalb staatlicher und kirchlicher Einrichtungen; sie ist im Kern stets autoritär, mit dem Wunsch nach absolutem Gehorsam und völliger Unterordnung des zu Erziehenden, und stattet den Erzieher mit Mitteln aus, den renitenten »Zögling« zu maßregeln, stumm zu schalten, zu brechen.

Innerhalb der Heimerziehung ist eine solch strikt autoritäre Erziehung anfangs vor allem durch die Kirche gefördert worden. Das »Böse« im Kind sollte durch möglichst frühe Impulskontrolle in die Schranken gewiesen werden, um das Sittliche – Ordnung, Sauberkeit, Disziplin, Gehorsam – zu fördern. Erzogen werden sollte man zu einem Menschen, der Gott und die Obrigkeit fürchtete. Die Bibel diente als Legitimationsgrundlage der Züchtigung mit Rute oder Rohrstock, mit Sprüchen wie: »Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn bald.« (Salomon 13, 24)

Auch wenn die frühe Reformpädagogik die Gehorsamkeitserziehung infrage und die Weichen für eine andere Sicht aufs Kind stellte, in den meisten Fürsorgeerziehungsheimen mündeten zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Vorstellungen von »richtig« und »falsch«, von Moral, Sexualität, Gehorsam, Gottesfürchtigkeit, Sauberkeit und Disziplin oft in gewaltsame Erziehungsmaßnahmen. Ein zentraler Schlüsselbegriff für die Einweisung zur Zwangserziehung war dabei stets die »Verwahrlosung«. Ein Begriff, der unscharf genug war, dass nonkonformistisches und unangepasstes Verhalten ausreichen konnte, um weggesperrt zu werden – ohne Verurteilung und oftmals zeitlich unbefristet. Die allseits bestimmende Hierarchisierung zwischen Erzieher und »Zögling« offenbarte dabei vor allem die Hilflosigkeit der Verantwortlichen, denn der Versuch einer Erklärung für das Scheitern eines Erziehungsversuchs richtete sich stets gegen den »Zögling«.

Bereits in der Weimarer Republik zeigten sich das erste Mal die Grenzen einer strikt autoritären, zur Züchtigung neigenden Heimerziehung. Schwere Missstände wurden publik, Prügelstrafen, Dunkelarreste und sexuelle Übergriffe medial angeprangert. Gewalt und Misshandlungen führten mitunter zu Prozessen gegen Erzieher und Anstaltsleiter und zu Aufständen der gequälten »Zöglinge«.3

Die schwierige Situation in den Heimen verschlimmerte sich ab 1933 nochmals drastisch. Nun standen die Heimkinder im Verdacht, nicht allein moralisch, sondern mitunter auch biologisch »minderwertig« zu sein, mit entsetzlichen Konsequenzen. Auch innerhalb der Zwangserziehung im Nationalsozialismus wurden von Kindern und Jugendlichen strengster Gehorsam und uneingeschränkte Disziplin verlangt. Anders als in anderen Abschnitten der jüngeren deutschen Geschichte liefen Renitenz und Unangepasstheit in den Erziehungsheimen jedoch oftmals auf die physische Vernichtung der Minderjährigen hinaus. Dieses System wird hier in einem Exkurs beleuchtet. Dass Minderjährige, die man für schwer- oder unerziehbar hielt, in den Jugend-KZs in Moringen und in der Uckermark inhaftiert und andere sogar im Rahmen der nationalsozialistischen »Euthanasie« getötet wurden, ist in der öffentlichen Wahrnehmung kaum präsent. So schien es uns auch hier wichtig, zumindest einzelne Schicksale ehemaliger Heimkinder aus jener Zeit zu beleuchten, die die schrecklichste in der deutschen Geschichte darstellt. Die in der NS-»Euthanasie« ermordeten Kinder und Jugendlichen konnten ihre Erlebnisse in den Erziehungsheimen und Psychiatrien selbstredend nicht mehr schildern. In diesen Fällen ist man allein auf die Auswertung des Tätermaterials angewiesen. Anders steht es um diejenigen, die in Jugendkonzentrationslagern inhaftiert waren. Viele von ihnen konnten später berichten, was ihnen angetan worden war. Die aufgeschriebenen oder gefilmten Erinnerungssequenzen wurden für dieses Buch zu einzelnen persönlichen Geschichten aufbereitet.

Dass eine systematische Umerziehung und schwarze Pädagogik aber nicht nur ein Thema von Diktaturen ist, soll in einem weiteren Exkurs gezeigt werden. Denn auch in Einrichtungen der Bundesrepublik kam es zu systematischen Misshandlungen an »Schutzbefohlenen«. Und in der Schweiz gab es Kinder und Jugendliche, die bis in die 1980er-Jahre hinein als »Verdingkinder« auf Bauernhöfen schuften mussten. Sie wurden als Leibeigene und oft wie Sklaven gehalten.

Bevor wir allerdings dem Trugschluss erliegen, die Geschichten in diesem Buch seien allesamt Relikte einer überwundenen Vergangenheit, zeigt das letzte Kapitel die mangelhafte Aufarbeitung der Umerziehungspraktiken (nicht nur) in der deutschen Geschichte. Es ist den zweifelhaften Erziehungsmethoden der Haasenburg-Heime im Land Brandenburg gewidmet, die erst Ende 2013 aufgelöst wurden, und belegt das fehlende Wissen über die Folgen dieses Umgangs mit den Jüngsten und Schutzbedürftigsten der Gesellschaft.

Unser Dank gilt den Betroffenen, die uns in langen Gesprächen von ihrem Schicksal erzählt und ihre...

Erscheint lt. Verlag 27.9.2021
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Zeitgeschichte ab 1945
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Familie / Erziehung
Geisteswissenschaften Geschichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Arrest • DDR • DDR-Opposition • Isolation • Jugendliche • Jugendwerkhof • Kinder • Kinderheim • Kommunismus • Missbrauch • Ostdeutschland • Pioniere • renitent • Schule • SED • Sozialismus • Stasi • Torgau • Ulrike Poppe • Umerziehung • Unrecht • weggesperrt • Wehrkunde
ISBN-10 3-8437-2582-9 / 3843725829
ISBN-13 978-3-8437-2582-8 / 9783843725828
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