Väter und Töchter (eBook)

Ein Beziehungsbuch
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2021 | 1. Auflage
304 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12095-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Väter und Töchter -  Susann Sitzler
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Wie Väter ihre Töchter prägen - und umgekehrt Ob nur Erzeuger, Versorger oder emotionale Hauptperson: Das Buch misst die Möglichkeiten und auch die Leerstellen von Väter-Töchter-Beziehungen aus. Und es handelt davon, wie Väter heute versuchen, einen von der traditionellen Vaterrolle unabhängigen Weg mit ihren Töchtern zu gestalten. Jede Frau ist Tochter eines Vaters. Der Blick dieses Mannes, seine Werte und Botschaften haben Prägekraft - manchmal ein Leben lang. Sogar, wenn er nur als Erzeuger in Erscheinung getreten, von der Familie getrennt oder ganz abwesend ist. Susann Sitzler lotet in diesem Buch nicht nur die enorme Spannbreite dessen aus, was ein Vater für seine Tochter sein kann - Verbündeter, empathischer Förderer, Sparringspartner. Sie gibt auch den Erfahrungen von Männern mit Töchtern Raum. Persönliche Reflexionen und Erfahrungen aus mehreren Generationen werden verbunden mit Erkenntnissen aus Psychologie und Väterforschung. Immer öfter nehmen Väter die Chance einer bewussteren und aktiveren Beziehungsgestaltung wahr: Die allmähliche Auflösung der Geschlechterrollen öffnet neue Möglichkeiten. Im großen Kaleidoskop der Väter-und-Töchter-Erzählungen können Leserinnen und Leser ihre eigene Geschichte reflektieren.

Susann Sitzler wurde 1970 in Basel geboren und lebt als Journalistin und Buchautorin in Berlin; sie verfasste Reportagen, Porträts und Rundfunkfeatures etwa für Die Zeit, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Merian und Deutschlandradio Kultur; zahlreiche Buchveröffentlichungen, zuletzt bei Klett-Cotta erschienen: »Freundinnen. Was Frauen einander bedeuten« und »Geschwister. Die längste Beziehung des Lebens«.

Susann Sitzler wurde 1970 in Basel geboren und lebt als Journalistin und Buchautorin in Berlin; sie verfasste Reportagen, Porträts und Rundfunkfeatures etwa für Die Zeit, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Merian und Deutschlandradio Kultur; zahlreiche Buchveröffentlichungen, zuletzt bei Klett-Cotta erschienen: »Freundinnen. Was Frauen einander bedeuten« und »Geschwister. Die längste Beziehung des Lebens«.

Happy Girl

2 Der erste Mann


Es war ein entzückender Anblick. Der joggende Mann im Park. Er lief in zügigem Schritt und mit entschlossenem Atem, die Turnschuhe kannten den Weg. An seiner Seite ein kleines Mädchen, das ihm so ähnlich sah, dass sie seine Tochter sein musste. Sie war vielleicht fünf Jahre alt. In bunten Gummischlappen trabte sie neben ihm her und hielt ohne Mühe sein Tempo. Im Laufen strahlte sie ihn an. »Schau mal«, schien ihr stolzer Blick zu sagen, »ich kann genauso schnell rennen wie du!« Er nickte nur kurz, auf den Lauf und seinen Atem konzentriert. Immer weiter rannten die beiden, der in sich gekehrte Vater und das kleine Mädchen in den grellbunten Schlappen mit der enormen, kindlichen Energie, die aus dem Lauf mühelos ein Spiel machte. Ich sah ihnen zu, bis ihr Weg hinter eine weit entfernte Baumgruppe abbog. Der Anblick war so bezaubernd. Und er machte mich so wütend und so traurig.

Eines der ersten Bilder, das mir in den Sinn kommt, wenn ich an meinen Vater und mich denke, stammt aus meiner mittleren Kindheit. Er und ich sitzen auf einem niedrigen Mäuerchen vor einer Blumenrabatte. Wir sind dicht nebeneinander, berühren uns aber nicht. Der Oberkörper meines Vaters in dem kurzärmligen, bügelfreien Hemd ist ein wenig nach rechts gedreht, mir zugewandt. Mit einem breiten Lächeln, fast einem Grinsen, sieht er mich an. Ich bin ein Mädchen mit langen feinen Haaren und einer großen Brille. Auch ich sitze ihm zugewandt, die Beine etwas sperrig überschlagen. Der obere Fuß ist schon etwas zu breit für die feine Riemchensandale, von der ich noch weiß, wie gut mir das dunkelrot glänzende Leder gefiel. Auch mein Lächeln ist breit und reicht von Wange zu Wange, es ähnelt seinem. Kein Grinsen wie bei ihm. Aber doch ziemlich großräumig für das glatte Gesicht eines zehnjährigen Mädchens, das neuerdings einen Hang zur Damenhaftigkeit kultivierte und gelegentlich einen Stich ins Altkluge zeigte. Dabei sind ihre Augen noch die eines ganz jungen Wesens. In der Art, wie ich auf diesem Foto meinen Vater anstrahle, sieht man mein ganzes kindliches Herz.

Außer diesem Strahlen ist alles an dem Bild gestellt. Ganz genau hatte mein Vater mir gesagt, wo und wie ich mich hinsetzen soll. Fluchend hatte er an dem Selbstauslöser herumgedrückt und war dann zu dem Mäuerchen gerannt, auf das er sich ächzend fallen ließ. Kaum hatte er mir den Kopf zugedreht und seine Wangen zum Grinsen auseinandergezogen, verschoss die Kamera ihren Blitz. Ich kann mich an meine Sorge erinnern, im falschen Moment zu blinzeln und damit das Bild zu ruinieren. Was ich vergessen habe, ist die Freude, die man auf dem Bild in meinen Augen sieht. Das Strahlen muss ein reflexhaftes Spiegelbild seines Gesichtsausdrucks gewesen sein. Es zeigte sich scheinbar von ganz alleine auf meinem Gesicht. Und es sagt die ganze Wahrheit. Ich liebte und bewunderte meinen Vater und hätte alles getan, damit er mir so zugewandt blieb, wie es auf diesem Foto aussieht.

Wenn ich an meinen Vater denke, werde ich immer noch meistens traurig. Das ist schon mein ganzes Leben lang so. Die Art der Trauer hat sich allerdings gewandelt. Als ganz kleines Mädchen war ich traurig, wenn er mit mir schimpfte oder wenn er morgens zur Arbeit ging und ich ihn den ganzen Tag nicht sah. Als Jugendliche überlagerte sich die Trauer mit Wut. Über sein Unverständnis, das er zeigte, als ich meine eigenen Wege zu suchen begann. Über den Spott, mit dem er meine Frisurenexperimente ebenso aushebelte wie meine Schwärmereien für Musikgruppen und Filmschauspieler, meine erwachende Lust am Diskutieren über Geschmack und den Sinn des Lebens. Und auch meine Begründungen, warum ich manchmal schlechte Schulnoten hatte. Obwohl ich doch scheinbar so klug war. Das hatte er extra testen lassen, in einem Institut in einer anderen Stadt, zu dem wir einen weiten Weg auf der Autobahn gefahren waren. Alles, was er sagte, weckte damals in mir Zorn und auch Verzweiflung. Warum hörte er mir nicht zu? Warum zählten meine Worte für ihn nicht? Warum verstand er so wenig von mir?

»Du hast immer ein Zimmer bei mir«, das betonte er wieder und wieder mit Nachdruck. Und so war es. In jeder der Wohnungen, in denen er lebte, nachdem er bei uns ausgezogen war, gab es einen Raum für mich. Als wütender Teenager wohnte ich ein paar Monate bei ihm an einer grauen Hauptstraße. »Zweck-WG« trifft die Lebensform am besten. Wir kommunizierten, wenn überhaupt, mit Zetteln. Das heißt, er schrieb mir Zettel, wenn er der Meinung war, dass ich die Küche nicht sauber genug hinterlassen oder die Waschmaschine mit meiner Wäsche nicht zeitig genug geleert hätte. Hin und wieder kochte ich etwas für uns beide. Doch er schlang das Essen immer wortlos hinunter und ich ging davon aus, dass es ihm nicht schmeckte. Trotzdem spürte ich in all den Jahren meines Lebens nie eine so umfassende Ruhe und Geborgenheit wie an dem Abend, als ich als 16-Jährige bei ihm eingezogen war und in dem für mich eingerichteten Zimmer in dem Bett lag, das er extra für mich gekauft und mit neuer Bettwäsche bezogen haben musste. Nebst einem neuen Plüsch-Pinguin, den er wohl in dieser Zeit ebenfalls für mich angeschafft hatte und der auf diesem Bett nun immer auf mich wartete. Der Pinguin spielte auf den Kosenamen an, den er seit meiner Geburt für mich hatte, und der auch in den Jahren des Streits und des Schweigens gültig blieb.

Als junge Frau sah ich meinen Vater nur sporadisch. Unsere Begegnungen waren meist kurz, und die Gespräche beschränkten sich auf Floskeln. Dann kamen die Jahre, in denen ich ihm als Erwachsene gegenübertrat. Ich tat es, indem ich ihm einen Ehemann präsentierte und später noch einen. Es waren Jahre, in denen ich mich in Sicherheit wog. Vor seinem Spott. Vor allem aber, das weiß ich heute, vor meiner Trauer. Sie war auch dann nie ganz aus unserem Verhältnis verschwunden, als ganz andere Menschen in meinem Leben wichtig waren. Darunter auch Männer, die mir freundlich und interessiert begegneten und die im Gegensatz zu ihm offenbar auch meine Qualitäten erkennen konnten, nicht nur die Mängel. Ich weiß nicht, warum mein Vater und ich uns nie verstanden haben. Warum zwischen uns stets so viel Schweigen war. Es hat nie Gewalt zwischen uns gegeben und auch keine unredlichen Übergriffe. Er war ein anspruchsvoller Mensch mit vielen Schatten, aber er war kein Bösewicht und er hat sich nie von mir abgewandt. Auch nicht, als ich es tat. Er hat sich mir bloß nie genügend zugewandt.

Und so ist diese merkwürdige Lücke entstanden zwischen ihm und mir, die sich ein Leben lang nicht überbrücken ließ. Er war der erste Mann, den ich kannte. Damit hat er, unweigerlich, einen Maßstab gesetzt. Von ihm habe ich gelernt, was Männer überhaupt sind. Dass sie sich von Mädchen, von Frauen unterscheiden. Dass sie anders aussehen, anders sprechen, anders riechen, andere Dinge tun. Sogar andere Dinge essen. Dass sie Wesen sind, die einen erschrecken können und bei denen man doch eine ganz bestimmte Art von Schutz und Geborgensein empfinden kann, das es von anderen Seiten nicht ohne weiteres gibt.

In der Psychologie wurde die Bedeutung des Vaters für die Entwicklung eines Kindes – und erst recht einer Tochter – sehr lange gering bewertet. Das Augenmerk der frühen Einflüsse lag auf der Mutter als notwendigster und erster Bezugsperson. Doch in den Erzählungen unserer Welt ist die Figur des Vaters und seine Bedeutung seit jeher allgegenwärtig. Die innere Ausrichtung einer Familie in Richtung des Vaters entspricht den Erfahrungen fast aller Generationen, die heute leben. Auf jeden Fall in der Theorie. Im Alltag verliert ein Vater, den die Kinder nur selten sehen, leicht seine konkrete Wichtigkeit. Aber seine Bedeutung als Mann im Haus bleibt. »Das Bild des pater familias der römischen Antike hat sehr stark bis in die frühe Neuzeit hineingewirkt«, schreibt der Heidelberger Erziehungswissenschaftler und Soziologe Michael Matzner auf dem vom Bayerischen Institut für Frühpädagogik betriebenen Online-Portal familienhandbuch.de. »Der pater familias war als Familienoberhaupt die oberste Autorität der Familie bzw. des Hauses und vertrat die Familie nach außen. Er besaß rechtliche, wirtschaftliche, politische und soziale Vorrechte.« Das vom pater familias geführte – also »patriarchalische« – Haus »bildete das Fundament der Gesellschaft«, wie es in dem Überblicksartikel weiter heißt. »Für alle frühen und späteren Hochkulturen können wir von einem solchen Vorrang des Vaters ausgehen.«

Für meine Mutter war das Bewusstsein, dass ihr Mann das Oberhaupt ist, so selbstverständlich wie unumstößlich. Sie organisierte den Alltag und betreute die Kinder. Doch er verdiente unseren Lebensunterhalt. Wir alle trugen seinen...

Erscheint lt. Verlag 17.4.2021
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie
Schlagworte Generationen • Geschlechterrollen • Vaterrolle • Vater-Tochter-Beziehung • Vorbild
ISBN-10 3-608-12095-5 / 3608120955
ISBN-13 978-3-608-12095-0 / 9783608120950
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