Über den Menschen (eBook)
200 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76802-0 (ISBN)
Kaum ein Forschungsgebiet hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten so stürmisch entwickelt wie die Neurowissenschaften. Sie sind aber auch zum Gegenstand heftiger interdisziplinärer Debatten geworden, die sich vor allem um eine Frage drehen: Zwingen uns die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse zu einer Revision unseres etablierten Menschenbildes? Entschieden verneint wird das vor allem von Philosophen, die den Neurowissenschaften mitunter sogar die Berechtigung absprechen, Aussagen über die geistig-kulturelle Welt des Menschen zu treffen. Sinnhaftes Verstehen, Geschichtlichkeit, Lebensweltlichkeit, Willensfreiheit sowie Sprache als Grundlage von Soziabilität können, so ihr Argument, prinzipiell nicht mit naturwissenschaftlichem Besteck untersucht werden.
Gerhard Roth zeigt in seinem neuen Buch, dass diese Auffassung den neurowissenschaftlichen Einsichten über die Beziehung zwischen Gehirn und Geist, Anlage und Umwelt sowie über die Bedingungen von Entscheiden und Handeln nicht gerecht wird. In Anknüpfung an seinen Bestseller Aus Sicht des Gehirns entwirft er auf zugängliche und elegante Weise ein Bild des Menschen als geistig-soziales, auf Erfassung des Sinnes seiner selbst und seiner Lebenswelt ausgerichtetes Wesen. Der Mensch in seiner Komplexität, so sein Fazit, ist weder allein von den Neurowissenschaften noch allein von den Geistes- und Sozialwissenschaften erfassbar - und fügt sich dennoch ein in die Einheit der Natur.
<p>Gerhard Roth, geboren 1942, war promovierter Philosoph und promovierter Biologe. Seit 1976 war er Professor für Verhaltensphysiologie und Entwicklungsneurobiologie am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen, seit 2016 leitete er zudem das Roth Institut in Bremen. Von 1997 bis 2008 war er Rektor des Hanse-Wissenschaftskollegs, von 2003 bis 2011 Präsident der Studienstiftung des Deutschen Volkes, außerdem war er Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt den Life Achievement Award. Er galt als einer der bedeutendsten Neurowissenschaftler im deutschsprachigen Raum, seine Bücher erreichten regelmäßig Bestsellerstatus. Gerhard Roth ist am 25. April 2023 verstorben.</p>
13Einleitung: Ein neues Menschenbild?
Seit rund zwei Jahrzehnten wird teils sachlich, teils polemisch die Frage diskutiert, ob die Erkenntnisse der Neurowissenschaften beziehungsweise der Hirnforschung zu einer Revision des in unserer Kultur vorherrschenden Menschenbildes zwingen. Diese Diskussion leidet allerdings unter der Tatsache, dass es in unserer Gesellschaft und Kultur gar kein allgemein akzeptiertes Menschenbild gibt, das durch die Neurowissenschaften »bedroht« sein könnte. Ich will mich daher an das Menschenbild halten, das die geistes- und sozialwissenschaftlichen Kritiker der Neurowissenschaften vertreten und das zumindest im akademischen Bereich immer noch das am weitesten verbreitete ist. Dieses Menschenbild geht von einem fundamentalen Gegensatz von Naturgesetzlichkeit und geschichtlicher Individualität, von Erklären und Verstehen, Gründen und Ursachen, Determinismus und Freiheit sowie von Objektivität und Subjektivität aus. Freilich gibt es auch nicht »das« Menschenbild der Neurowissenschaften. Die meisten Neurowissenschaftler befassen sich gar nicht mit dieser Frage, oder sie hüten sich davor, Stellung zu beziehen. Nur vergleichsweise wenige von ihnen tun dies, wie wir sehen werden, und sie vertreten dabei oft deutlich voneinander abweichende Meinungen.
Dieser Disput wurde ideengeschichtlich lange vorbereitet durch die Auseinandersetzung der kontinentaleuropäischen Philosophie mit der stürmischen Entwicklung der Technik und der Naturwissenschaften seit dem Ende des 18. Jahrhunderts sowie der nicht mehr überhörbaren Forderung von 14Philosophen wie Auguste Comte (1798-1857), Wissenschaft müsse sich immer an empirischen Evidenzen ausrichten, also daran, wie die Dinge als solche und an und für sich sind. Einem solchen »Positivismus« versuchten Philosophen wie Edmund Husserl und Wilhelm Dilthey eine Philosophie als Wissenschaft entgegenzusetzen, die sich mit der Welt, wie sie »für uns Menschen« ist, befasst. Davon wird im nächsten Kapitel ausführlicher die Rede sein. Dies hat dann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Ausformung der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften und ihrer Abgrenzung von den Natur- und Biowissenschaften geführt.
Die universitären Natur- und Biowissenschaften auf der einen Seite und die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften auf der anderen Seite haben sich über lange Zeit mit dieser Trennung abgefunden, die ja das Gute hatte, einen »Streit der Fakultäten« um den Weg zu sicherer Erkenntnis zu unterbinden. Daran änderten die Revolutionen in der Physik in Form der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie oder der Quantenmechanik ebenso wenig wie das Aufkommen der Molekularbiologie und Genetik in den Biowissenschaften. Selbst die großen Fortschritte in den Neurowissenschaften, wie sie etwa in der Neuroanatomie oder der Neurophysiologie im Laufe des 20. Jahrhunderts erzielt wurden, fanden weder in der Philosophie noch in den Sozialwissenschaften größere Beachtung, weil diese Erkenntnisse mit dem aus ihrer Sicht eigentlich Menschlichen vermeintlich nichts zu tun hatten. Renommierte Philosophen, bei denen ich studierte, äußerten sich abfällig über die »kindischen Versuche« von Naturwissenschaftlern, darunter nicht wenige Nobelpreisträger, ihre Erkenntnisse und Methoden philosophisch zu hinterfragen, es sei denn, es handelte sich um Physiker und Neurophysiologen, die etwa in der Quantenphysik eine Bestätigung der Existenz eines immateriellen Geistes und des freien Willens sahen.
15Diese Situation änderte sich grundlegend, als es vor rund 30 Jahren durch neue neuroanatomische und neurophysiologische Erkenntnisse und insbesondere durch die Entwicklung von Methoden wie der Vielkanal-Elektroenzephalographie und der sogenannten bildgebenden Verfahren (etwa der Positronen-Emissions-Tomographie, PET, oder der funktionellen Magnetresonanz-Tomographie, fMRI) gelang, nicht nur an Patienten, sondern auch am »normalen« Menschen ohne Öffnen des Schädels geistig-kognitive und später auch emotionale Vorgänge und Leistungen zu untersuchen (siehe dazu den Exkurs am Ende des ersten Kapitels). Plötzlich schien es möglich zu sein, der Arbeit des menschlichen Geistes und dem Wirken von Gefühlen und Motiven im Gehirn buchstäblich zuzuschauen. Die ersten, noch sehr groben PET- oder fMRI-Bilder waren eine Sensation, und man glaubte, jetzt sehen zu können, was im Gehirn einer Person geschieht, wenn sie ihre Aufmerksamkeit beispielsweise auf einen bestimmten Gegenstand im linken Gesichtsfeld richtet oder den Worten der Lehrerin oder Professorin konzentriert lauscht. Von einem Gedankenlesen, das heißt der Erfüllung eines alten Menschheitstraums, war das noch weit entfernt. Aber schnell verfeinerten sich die Methoden, und insbesondere konnten immer mehr neurophysiologische und neurochemische Erkenntnisse darüber gesammelt werden, wie die mit den genannten bildgebenden Methoden erfassten neuronalen Prozesse im Detail ablaufen. Zu untersuchen, ob das Geschehen im Gehirn bei sensorischen, kognitiven, emotionalen und motorischen Prozessen lückenlos deterministisch abläuft, oder ob sich Anzeichen für die Einwirkung des »bewussten Geistes« auf die Gehirnprozesse entdecken lassen, wie manche Philosophen annahmen, war zur realen Forschungsmöglichkeit geworden. Journalistisch entstand eine wahre Euphorie der »bunten Gehirnbilder«, an der sich auch mancher seriöse Neurowissenschaftler beteiligte.
16Ein wahrer Paukenschlag waren die 1983 veröffentlichten Untersuchungen des US-amerikanischen Neurobiologen Benjamin Libet (1916-2007) und seiner Mitarbeiter zum Zusammenhang zwischen der sogenannten freien Willensentscheidung zu einer bestimmten Handlung einerseits und diversen neuronalen Prozessen wie dem schon länger bekannten »Bereitschaftspotenzial« andererseits. Dabei handelt es sich um ein aus dem EEG gefiltertes neuronales Signal der Großhirnrinde, das willentlichen Bewegungen vorhergeht. Als gläubiger Katholik wollte Libet eigentlich die Existenz einer rein geistigen Willensfreiheit neurophysiologisch beweisen. Was er jedoch fand, war die irritierende Tatsache, dass bei sehr einfachen Bewegungen das damit zusammenhängende Bereitschaftspotenzial eindeutig dem entsprechenden subjektiven Willensentschluss nicht folgte, sondern ihm vorausging. Er meinte herausgefunden zu haben, dass der Mensch »rein geistig« motorische Reaktionen, wenn schon nicht auslösen, so doch in letzter Sekunde verhindern konnte, was sich allerdings später als Irrtum herausstellte, denn auch diesem »Veto« geht ein Bereitschaftspotenzial voraus.
Heerscharen von Philosophen und geisteswissenschaftlich orientierten Psychologen fielen über den persönlich bescheidenen Professor Benjamin Libet her und behaupteten, das Ganze sei experimenteller Murks, zudem handele es sich ja nicht um echte Willensentscheidungen, sondern um eine einfache und stereotype Bewegung. Aber auch seriöse Psychologen und Neurobiologen äußerten Kritik am methodischen Vorgehen Libets, und zwar ganz unabhängig von dessen philosophischen Schlussfolgerungen. Methodische Verbesserungen wurden daher vorgenommen, komplexere Entscheidungssituationen wurden benutzt, aber im Prinzip wurden Libets Befunde eher bestätigt als widerlegt.
Diese und ähnliche Experimente, gefolgt von solchen zu anderen geistig-kognitiven und emotionalen Prozessen ein17schließlich der Sprache, des Denkens, des Bewusstseins, der Empathie und der Fairness, wurden und werden von zahlreichen Theologen, Philosophen und geisteswissenschaftlich orientierten Psychiatern vornehmlich in der Nachfolge von Karl Jaspers als Angriff auf die ihnen traditionell zustehende Deutungshoheit über den Menschen und seine psychisch-geistige Wesenheit gewertet. Verstärkt wurde dieser Eindruck eines »Neuro-Imperialismus« (sic!) durch Bücher aus der Feder von Neurowissenschaftlern, welche die Meinung vertraten, man wisse jetzt so viel vom Menschen und seinem Geist, dass man die Neurowissenschaften einfach an die Stelle des traditionell geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Menschenbildes setzen könne.
Zu diesen in den vergangenen Jahrzehnten erschienenen Büchern gehören unter anderem L'homme neuronal (dt.: Der neuronale Mensch) des französischen Neurobiologen Jean-Pierre Changeux, The Astonishing Hypothesis. The Scientific Search for the Soul (dt.: Was die Seele wirklich ist) des britischen Physikers und Molekularbiologen Francis...
Erscheint lt. Verlag | 18.4.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | Gehirn • Geist • Naturwissenschaft • Neurowissenschaft |
ISBN-10 | 3-518-76802-6 / 3518768026 |
ISBN-13 | 978-3-518-76802-0 / 9783518768020 |
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