Das Geschenk (eBook)
320 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-26277-8 (ISBN)
Dr. Edith Eger, Holocaust-Überlebende, erfolgreiche Therapeutin und gefeierte internationale Bestsellerautorin, gibt uns mit ihrem neuen Buch DAS GESCHENK einen Leitfaden in die Hand, wie wir das Gefängnis unserer Gedanken und unser destruktives Verhalten überwinden können. In 12 Kapiteln zeigt sie uns anhand ihrer Lebensgeschichte, anhand von Beispielen aus ihrer therapeutischen Praxis und ganz konkret, wie wir lernen können, aus unseren dunkelsten und schwierigsten Momenten gestärkt hervorzugehen.
Dr. Edith Eva Eger ist Psychologin und Therapeutin mit einer Praxis in La Jolla, Kalifornien. Der Fokus ihrer Arbeit liegt auf posttraumatischen Belastungsstörungen. Eger unterrichtet an der University of California, San Diego und ist national und international eine gefragte Rednerin. Sie ist Mutter, Großmutter und Urgroßmutter und lebt in La Jolla.
Einführung
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UNSERE MENTALEN GEFÄNGNISSE AUFSCHLIESSEN
Ich habe gelernt, in einem Todeslager zu leben
Im Frühling 1944 war ich sechzehn Jahre alt und lebte mit meinen Eltern und zwei älteren Schwestern in Kassa, Ungarn. Um uns herum gab es überall Spuren von Krieg und Vorurteilen: die gelben Sterne, die wir an unsere Mäntel geheftet trugen. Die nyilas, die ungarischen Nazis, die sich unserer früheren Wohnung bemächtigt hatten. Die Zeitungsberichte über das Frontgeschehen und die deutsche Besatzung, die sich über ganz Europa ausbreitete. Die besorgten Blicke, die meine Eltern am Tisch austauschten. Der schreckliche Tag, an dem ich aus der olympischen Mannschaft der Kunstturner flog, weil ich Jüdin war. Aber meine Gedanken drehten sich vorwiegend um die üblichen Befindlichkeiten im Leben eines Teenagers. Ich war verliebt in Eric, meinen ersten Freund, den hochgewachsenen, intelligenten Jungen, den ich im Buchclub kennengelernt hatte. Immer wieder ließ ich unseren ersten Kuss Revue passieren und war hingerissen von meinem neuen blauen Seidenkleid, das mein Vater für mich geschneidert hatte. Ich registrierte meine Fortschritte im Ballett- und Gymnastikstudio und alberte mit Magda herum, meiner schönen ältesten Schwester, und mit Klara , die in einem Konservatorium in Budapest Geige studierte.
Und dann änderte sich alles.
An einem kalten Morgen im April wurden die Juden von Kassa zusammengetrieben und in einer alten Ziegelei am Stadtrand interniert. Ein paar Wochen später pferchte man Magda, meine Eltern und mich in einen Viehwaggon nach Auschwitz. Meine Eltern wurden am Tag unserer Ankunft in den Gaskammern ermordet.
In meiner ersten Nacht in Auschwitz wurde ich gezwungen, für SS-Obersturmführer Josef Mengele zu tanzen, den Todesengel, den Mann, der die Neuankömmlinge in der Selektionsschlange inspiziert hatte, durch die wir an jenem Tag geschleust worden waren, und der meine Mutter in den Tod schickte. »Tanz für mich!«, befahl er, und starr vor Angst stellte ich mich auf den kalten Betonfußboden der Baracke. Draußen begann das Lagerorchester einen Walzer zu spielen: »An der schönen blauen Donau.« Ich dachte an den Rat meiner Mutter – Niemand kann dir das wegnehmen, was du in deinen Kopf hineingetan hast –, schloss die Augen und zog mich in eine innere Welt zurück. Dort war ich nicht mehr in einem Todeslager eingesperrt, mir war nicht mehr kalt, ich war nicht mehr hungrig und von Verlust zerbrochen. Ich war auf der Bühne der Budapester Oper und tanzte die Rolle der Julia im Ballett von Tschaikowsky. Aus diesem persönlichen Zufluchtsort heraus zwang ich meine Arme, sich zu heben, und meine Beine, herumzuwirbeln. Ich bot meine ganze Kraft dafür auf, um mein Leben zu tanzen.
Jeder Augenblick in Auschwitz war die Hölle auf Erden. Auschwitz war auch meine beste Schule. Verlust, Folter, Hunger und ständiger Todesgefahr ausgesetzt, entdeckte ich die Instrumente, die ich für mein Überleben und für die Freiheit brauchte und die ich auch jetzt noch Tag für Tag in meiner Tätigkeit als klinische Psychologin und in meinem eigenen Leben anwende.
Im Herbst 2019, als ich diese Einführung schreibe, bin ich zweiundneunzig Jahre alt. 1978 erlangte ich meinen Doktorgrad in klinischer Psychologie und behandle nun seit über zweiundvierzig Jahren Patienten in einem therapeutischen Umfeld. Ich habe mit Kriegsveteranen und Missbrauchsopfern gearbeitet, mit Studenten, Kommunalpolitikern und CEOs; mit Menschen, die gegen ihre Drogensucht kämpfen, und anderen, die sich mit Ängsten und Depressionen herumschlagen; mit Paaren, die gegen Ressentiments kämpfen, und anderen, die ihre einstige Nähe und Intimität wiederfinden wollen; mit Eltern und Kindern, die lernen, wie sie zusammenleben, und anderen, die gerade entdecken, wie sie getrennt leben können. Als Psychologin, als Mutter, Großmutter und Urgroßmutter, als Beobachterin meines eigenen Verhaltens und des Verhaltens anderer und als Auschwitz-Überlebende sage ich Ihnen hier und jetzt, dass das schlimmste Gefängnis nicht das ist, in das mich die Nazis geworfen haben. Das schlimmste Gefängnis ist das, welches ich für mich selbst gebaut habe.
Auch wenn Ihr Leben und das meine wahrscheinlich sehr unterschiedlich verlaufen sind, wissen Sie vielleicht, was ich meine. Viele von uns haben das Gefühl, im eigenen Kopf gefangen zu sein. Unsere Gedanken und Überzeugungen bestimmen und begrenzen oft, wie wir uns fühlen, was wir tun und was wir für möglich halten. Auch wenn unsere Überzeugungen, die uns gefangen halten, auf individuelle Weise auftreten und ablaufen, habe ich im Laufe meiner Arbeit entdeckt, dass es doch einige gemeinsame mentale Gefängnisse gibt, die zum Leid beitragen. Dieses Buch ist ein praktischer Leitfaden, der uns helfen soll, unsere mentalen Gefängnisse zu identifizieren und die notwendigen Instrumente zu entwickeln, uns daraus zu befreien.
Das Fundament der Freiheit ist die Fähigkeit, frei zu wählen. In den letzten Kriegsjahren hatte ich sehr wenige Wahlmöglichkeiten und keine Chance zu entkommen. Ungarische Juden waren in Europa unter den letzten, die in Todeslager deportiert wurden, und nach acht Monaten in Auschwitz, kurz bevor die russische Armee Deutschland besiegte, wurden meine Schwester und ich sowie hundert weitere Gefangene aus Auschwitz evakuiert und auf den langen Marsch von Polen über Deutschland nach Österreich gezwungen. Unterwegs verrichteten wir Sklavenarbeit in Fabriken und saßen auf den Dächern von Zügen, die deutsche Munition transportierten. Unsere Körper wurden als Schutzschilde benutzt, um die Ladung vor britischen Bomben zu schützen. (Die Briten bombardierten die Züge trotzdem.)
Als meine Schwester und ich im Mai 1945, knapp über ein Jahr nach unserer Gefangennahme, aus Gunskirchen – einem Konzentrationslager in Österreich – befreit wurden, waren meine Eltern und fast alle Menschen, die ich gekannt hatte, tot. Mein Rücken war von der ständigen körperlichen Misshandlung gebrochen. Ich war am Verhungern, von Wunden übersät und schaffte es kaum, mich von dem Leichenstapel herunterzubewegen, auf dem ich lag; von Menschen, die krank waren, die am Verhungern waren wie ich und deren Körper kapituliert hatten. Was man mir angetan hatte, konnte ich nicht ungeschehen machen. Ich konnte nicht beeinflussen, wie viele Menschen die Nazis in die Viehwaggons oder die Krematorien getrieben hatten, als sie versuchten, so viele Juden und »unerwünschte Elemente« wie möglich auszurotten, bevor der Krieg zu Ende war. Ich konnte die systematische Entmenschlichung und das Abschlachten der über sechs Millionen Unschuldigen, die in den Lagern starben, nicht ändern. Alles, was ich tun konnte, war, mich zu entscheiden, wie ich auf Terror und Hoffnungslosigkeit reagierte. Irgendwie entdeckte ich es in mir selbst, dass ich mich für Hoffnung entschied.
Doch Auschwitz zu überleben war nur die erste Etappe meiner Reise in die Freiheit. Viele Jahrzehnte lang blieb ich eine Gefangene der Vergangenheit. Oberflächlich gesehen ging es mir gut, ich ließ mein Trauma hinter mir und schaute nach vorn. Ich heiratete Béla, den Sohn einer prominenten Familie aus Prešov, der im Krieg Partisan gewesen war und in den Bergwäldern der Slowakei gegen die Nazis gekämpft hatte. Ich wurde Mutter, floh vor den Kommunisten in der Tschechoslowakei, immigrierte nach Amerika, lebte von der Hand in den Mund, überwand die Armut, ging mit über vierzig aufs College, wurde Lehrerin an der Highschool und kehrte dann an die Uni zurück, um meinen Master in pädagogischer Psychologie und einen Doktortitel in klinischer Psychologie zu erlangen. Auch gegen Ende meiner Ausbildung, als ich mich der Aufgabe verschrieb, anderen auf ihrem Weg der Heilung zu helfen, und mir während meiner klinischen Praktika die kniffligsten Fälle anvertraut wurden, spielte ich noch immer Verstecken: Ich lief vor der Vergangenheit davon, verleugnete meine Trauer und mein Trauma, verstellte mich, bagatellisierte, wollte allen gefallen und alles perfekt erledigen, gab Béla die Schuld für meine chronische Verbitterung und Enttäuschung und jagte Erfolgen nach, als könnte ich damit alles wettmachen, was ich verloren hatte.
Eines Tages kam ich im William Beaumont Army Medical Center in Fort Bliss, Texas, an, wo ich ein anspruchsvolles klinisches Praktikum absolvierte, und schlüpfte in meinen weißen Mantel mit dem Namensschild: Dr. Eger, Abteilung für Psychiatrie. Doch einen Sekundenbruchteil lang verschwammen die Wörter, und ich meinte zu lesen: Dr. Eger, Hochstaplerin. Da wusste ich, dass ich andere erst dann bei ihrer Heilung würde unterstützen können, wenn ich mich selbst heilte.
Mein therapeutischer Ansatz ist umfassend und intuitiv, eine Mischung aus kognitiv orientierten Theorien und Techniken und auf Einsicht abzielenden Praktiken. Ich nenne das Auswahltherapie, da es bei Freiheit fundamental um Wahlmöglichkeit geht. Während Leid unausweichlich und universell ist, können wir immer wählen, wie wir reagieren, und ich trachte danach, die Wahlfreiheit meiner Patienten herauszustellen und es ihnen zu ermöglichen, diese zu nutzen, um eine positive Veränderung in ihrem Leben zu bewirken.
Meine Arbeit fußt auf vier psychologischen Kernprinzipien:
Erstens auf Martin Seligman und der positiven Psychologie, dem Konzept der »erlernten Hilflosigkeit«, dass wir am meisten leiden, wenn wir glauben, dass wir in unserem Leben keine Wirksamkeit haben, dass nichts von dem, was wir tun, das Ergebnis verbessern kann. Wir sind erfolgreich, wenn wir uns den »gelernten Optimismus« zunutze machen, die Stärke, die Belastbarkeit und die Fähigkeit, den...
Erscheint lt. Verlag | 1.11.2021 |
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Übersetzer | Liselotte Prugger |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Gift. 12 Lessons to Save Your Life |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | eBooks • Glücklich leben • Holocaust-Überlebende • Lebenshilfe • Psychologie • Psychotherapie • Resilienz • Traumatherapie |
ISBN-10 | 3-641-26277-1 / 3641262771 |
ISBN-13 | 978-3-641-26277-8 / 9783641262778 |
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Größe: 1,8 MB
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