Resonanz und Mitgefühl: Wie Trost gelingt (Leben Lernen, Bd. 322) (eBook)
248 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12124-7 (ISBN)
Dr. Frank-M. Staemmler, Diplom-Psychologe, ist Psychologischer Psychotherapeut, Gestalttherapeut und Supervisor; er ist in der Ausbildung von PsychotherapeutInnen tätig, Autor zahlreicher Bücher und Herausgeber internationaler Fachzeitschriften Weitere Informationen zu Frank Staemmler finden Sie auf seiner >> Website.
Dr. Frank-M. Staemmler, Diplom-Psychologe, ist Psychologischer Psychotherapeut, Gestalttherapeut und Supervisor; er ist in der Ausbildung von PsychotherapeutInnen tätig, Autor zahlreicher Bücher und Herausgeber internationaler Fachzeitschriften Weitere Informationen zu Frank Staemmler finden Sie auf seiner >> Website.
Einleitung
Wovon dieses Buch handelt
Stellen Sie sich bitte einmal die folgende Situation vor:
Der zweijährige Jonas spielt mit seiner Freundin Miri im Sandkasten. Miri backt mit ihren Förmchen einen ›Kuchen‹, während Jonas versucht, ein tiefes Loch zu graben. Jonas’ Vater Tim sitzt in der Nähe, liest eine Zeitschrift und schaut immer wieder nach den beiden. Dann stolpert Jonas über ein Eimerchen und stößt sich den Kopf an der Umrandung des Sandkastens. Tim springt auf und nimmt seinen weinenden Sohn auf den Schoß. Miri schaut ganz erschrocken.
Tim streichelt Jonas über den Rücken und fragt: »Hast du dir arg wehgetan?«
Jonas weint und schluchzt.
Tim: »Soll der Papa pusten oder das Aua streicheln?«
Jonas: »Eile . . . eile . . . puste.«
Tim versteht, dass er »Heile, heile Gänschen« singen soll und pustet danach ganz zart auf die kleine Beule auf Jonas’ Stirn. »Wird es schon besser, Jonas?«
Jonas: »Mmh.« Jonas’ Tränenfluss stoppt.
Tim: »Soll der Papa nochmal pusten?«
Jonas schüttelt den Kopf.
Tim: »So ein blöder Eimer auch!«
Jonas: »Eimer doof!«
Tim: »Wir nehmen ihn gleich aus dem Sandkasten. – Geht es jetzt wieder, mein Schatz?«
Jonas: »Mmh, Papa.« Jonas krabbelt von Tims Schoß und geht zurück zum Sandkasten.
Tim nimmt den Eimer raus: »Den doofen Eimer stelle ich jetzt hierher zu mir.«
Miri kommt langsam auf Jonas zu, streichelt ihn und sagt dazu: »Eia, eia.«
Jonas lächelt sie an.
Von außen betrachtet ist Jonas’ Situation nicht weiter tragisch; als Erwachsener weiß man: Der Schmerz wird bald vergehen, die kleine Prellung an der Stirn wird schnell verheilen, und das ganze Ereignis wird in wenigen Stunden vergessen sein. Aber es geht hier nicht um die Perspektive des Beobachters, sondern um das Empfinden von Jonas selbst, der den Schmerz am eigenen Leib spürt und der nur über die seinem aktuellen Entwicklungsstand entsprechenden Fähigkeiten verfügen kann, die eigenen Emotionen zu bewältigen.
Kleine Kinder, deren Kompetenz zur Regulation von Emotionen noch stark von der Unterstützung durch ihre Bezugspersonen abhängig ist, brauchen schon bei Ereignissen Trost, die bei Erwachsenen meistens noch lange keine intensiven Gefühle1 und auch keinen Wunsch auslösen, getröstet zu werden. Aber gleichgültig, wo genau die situationsabhängig und individuell recht unterschiedliche Schwelle liegt, ab der Menschen Trost brauchen, entsteht das Bedürfnis danach immer dann, wenn die jeweils eigenen, bisher entwickelten Kompetenzen, eine Situation emotional und/oder kognitiv zu bewältigen, an ihre Grenzen stoßen. Das führt zur Erfahrung einer Krise, d. h. »einem Missverhältnis zwischen der Schwierigkeit und Wichtigkeit des Problems und den unmittelbar verfügbaren Ressourcen, damit umzugehen« (Caplan 1964, 39).2 Daraus ergibt sich – aus der subjektiven Perspektive der Betroffenen gesehen – für Kinder und für Erwachsene eine prinzipiell sehr ähnliche Ausgangslage:
Die Person, die des Trostes bedarf und tröstende Zuwendung hervorruft, hat etwas Schmerzliches erlebt, das sie mehr oder weniger fassungslos macht; sie ist mit ihren – zum gegebenen Zeitpunkt – verfügbaren Fähigkeiten zur Bewältigung problematischer Erfahrungen überfordert. Sie ist schockiert, erschüttert oder bestürzt und befindet sich in einem psychischen Ausnahmezustand, der durch ein sehr hohes Erregungsniveau und eine stark negative Erlebnisqualität (auch negative »Valenz« genannt) charakterisiert ist. Häufig ergibt sich die Fassungslosigkeit jedoch nicht allein daraus, dass etwas sehr Schlimmes passiert ist, sondern auch daraus, dass das schreckliche Ereignis für die betroffene Person unerwartet oder überraschend in ihr Leben eintrat und ihr gar keine oder viel zu wenig Zeit ließ, sich darauf einzustellen. Das führt dann zu der Krise.
Selbstverständlich können auch manche in ihrer Relevanz begrenzten Begebenheiten wie ein alltägliches Missgeschick oder eine erlebte Enttäuschung bzw. Kränkung (vgl. Staemmler 2016) das Bedürfnis nach Tröstung hervorrufen, je nach Ausmaß der gegebenen Vulnerabilität der betroffenen Person. Das muss nicht unbedingt zu einer Krise führen. Aber natürlich ist es für sie schön, wenn sie auch dann auf Verständnis und anteilnehmende Zuwendung trifft, die es ihr erleichtern, das Erlebte zu verarbeiten. Das gilt auch, wenn es für sie vielleicht nicht so schlimm war, dass sie unbedingt auf Unterstützung angewiesen ist. In diesem Buch beschäftige ich mich jedoch vorwiegend mit den schwerer wiegenden Anlässen, weil ich denke, dass man, wenn man weiß, wie man auf die größeren Belastungen eingehen kann, die ein anderer Mensch erlebt, auch mit den kleineren Belastungen angemessen umgehen wird.
Die größeren werden in der Literatur »stressful life events« genannt. Der Stress ergibt sich dabei aber nicht allein aus dem äußeren Anlass, sondern ist relational zu verstehen: »Psychologischer Stress ist eine besondere Beziehung zwischen Person und Umwelt, die von der Person als Belastung oder Überschreitung ihrer Ressourcen und als Gefährdung ihres Wohlbefindens eingeschätzt wird« (Lazarus & Folkman 1984, 19 – H. d. V.3). Bei den Anlässen, die größeren Stress hervorrufen und den dringenden Bedarf an Trost wecken, handelt es sich somit um Vorfälle, die von der betroffenen Person – gemessen an ihren eigenen Fähigkeiten zur Bewältigung – als gravierend empfunden werden.
Umgekehrt: Sollte jemandem etwas passieren, bei dem er das Gefühl hat, für die notwendige Bewältigung ausreichende eigene Kräfte und Fähigkeiten sowie genug verfügbare Unterstützung durch relevante Bezugspersonen mobilisieren zu können, wird das für ihn nicht zu einem »stressful life event« ausarten, obwohl das für viele andere Menschen durchaus so sein könnte. Trotzdem kann man natürlich feststellen, dass bestimmte Ereignisse für die meisten Menschen zu einer starken Stressreaktion führen. Das sind in der Regel z. B. Ereignisse wie der Tod eines geliebten Menschen wie einem Ehepartner oder Kind, die ernsthafte Verletzung durch einen Unfall oder die Diagnose einer schweren Krankheit, die Erfahrung einer Gewalttat wie Beraubung oder Vergewaltigung, eine Trennung bzw. Scheidung nach langjähriger Ehe oder der Verlust eines Arbeitsplatzes (vgl. Dohrenwend & Dohrenwend 1981; Holmes & Rahe 1967, 216).
Solche Lebensereignisse passen in kein gewohntes Schema (vgl. Barlett 1932/1995). Sie stellen bislang Selbstverständliches radikal in Frage. Sie ziehen das, was zuvor als nahezu absolute Gewissheit galt, weitestgehend in Zweifel. Sie sprengen den Rahmen des bisher Denkbaren (vgl. Stolorow 1999). Sie haben keinen Platz in der bestehenden Vorstellungswelt der betroffenen Menschen (vgl. Parkes 1971). Sie übersteigen alles, was sie sich an emotionalen und kognitiven Bewältigungsstrategien in ihrem Leben angeeignet haben. Deshalb sind diese Menschen jetzt
mit einer doppelten Dosis von Angst konfrontiert. Die eine Angst ist mit der Erfahrung verbunden, dass das eigene [physische bzw. psychische] Überleben . . . in einer Welt, die erschreckend und unsicher ist, in Gefahr sein kann. Die andere Angst ist mit dem Überleben ihres konzeptuellen Systems verbunden, das in einen Zustand des Umbruchs und der Desintegration gerät: Genau jene Grundannahmen, die für psychologische Kohärenz und Stabilität in einer komplexen Welt gesorgt hatten, sind die Annahmen, die nun zerbrochen sind.
(Janoff-Bulman 1992, 64)
Dies alles kann das Verhältnis des Menschen zu seiner Welt (zumindest vorübergehend) ...
Erscheint lt. Verlag | 13.3.2021 |
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Reihe/Serie | Hilfe aus eigener Kraft |
Leben lernen | |
Leben Lernen | Leben Lernen |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | Beratung • Krisenintervention • Leid • Pandemie • Posttraumatische Belastungsstörung • Psychotherapie • Trauma |
ISBN-10 | 3-608-12124-2 / 3608121242 |
ISBN-13 | 978-3-608-12124-7 / 9783608121247 |
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