Grundbegriffe der antiken Philosophie (eBook)
283 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-961851-7 (ISBN)
Andreas Bächli ist Privatdozent für Philosophie an der Universität Bern. Andreas Graeser (1942-2014) war ordentlicher Professor der Philosophie an der Universität Bern.
Andreas Bächli ist Privatdozent für Philosophie an der Universität Bern. Andreas Graeser (1942–2014) war ordentlicher Professor der Philosophie an der Universität Bern.
[20]Allgemeines
Das lateinische Wort universale, ein auch in der heutigen Philosophie gebräuchlicher Terminus, bedeutet ›allgemein‹ oder ›das Allgemeine‹ und wird als Gegensatz zu Ausdrücken wie ›Besonderes‹, ›Einzelnes‹ oder ›Individuelles‹ verwendet. Als Universalien wurden im Mittelalter die sog. Prädikabilien bezeichnet, nämlich die fünf Arten von Prädikaten, die PORPHYRIOS in seiner Einführung in die Kategorienschrift des ARISTOTELES im Anschluss an das erste Buch von dessen Topik unterschieden hatte. Danach fällt alles, was von einem Einzelding aussagbar ist, unter eine der fünf Arten; wird z. B. von einem Menschen ausgesagt, dass er ein Lebewesen ist, wird die ›Gattung‹ angegeben, während »Mensch« die ›Art‹ angibt, »rational« die ›spezifische Differenz‹, »der Grammatik fähig« etwas dem Menschen Eigentümliches (›Proprium‹), »rationales Lebewesen« die ›Definition‹ und »weiß« eine zufällige Eigenschaft (›Akzidens‹). Die genannte Schrift des Porphyrios stellt wohl die erste systematische Behandlung der Universalien dar, während Aristoteles’ Ausführungen eher unsystematisch sind.
Im 7. Kapitel seiner Lehre über den Satz unterscheidet Aristoteles zwischen »Dingen im Allgemeinen« (tà kathólou) und »Dingen im Einzelnen« (tà kathʼ hékaston). Mensch ist ein Gegenstand »im Allgemeinen«, da »Mensch« von vielen Dingen aussagbar ist, d. h. von allen Menschen; Kallias hingegen ist ein Gegenstand »im Einzelnen«, denn »Kallias« ist als Eigenname nicht von mehreren Dingen aussagbar. Aristoteles’ Auffassung des Allgemeinen als das, was von mehreren Dingen aussagbar ist, eröffnete einen [21]neuen Zugang zum sogenannten Universalienproblem. Dabei geht es um folgende Fragen: 1. Was sind Universalien? 2. Existieren Universalien in der Wirklichkeit? 3. In welcher Beziehung stehen die Universalien zu den Einzeldingen? Die Diskussion des Universalienproblems beginnt bei PLATON. Im Dialog Parmenides wird folgende Problemstellung entwickelt: Wenn Universalien – Platon spricht von »Formen« bzw. »Ideen« – nicht existieren, wird Denken und Sprechen über die Welt verunmöglicht. Die Annahme der Existenz von Universalien ist aber so lange ungerechtfertigt, als sich keine kohärente Theorie formulieren lässt, die die Beziehung der Universalien zu den Einzeldingen erklärt. Danach lassen sich zwei Problembereiche unterscheiden: (a) Im Bereich der Epistemologie oder Erkenntnistheorie führt die Feststellung, dass wir in unserem Sprechen und Denken über die Welt allgemeine Termini (»Mensch«, »rot«, »Farbe«) und allgemeine Begriffe (Gattung, Art) verwenden, zu der Frage, ob die Annahme der Existenz von Universalien zur Erklärung unserer Erkenntnis der Welt notwendig sei. Platon bejahte diese Frage. (b) Im Bereich der Ontologie geht es um den Status der Universalien im Verhältnis zu den Einzeldingen. Im Parmenides kritisiert Platon seine eigene Auffassung, wonach die Einzeldinge an den Ideen »teilhaben« (s. Art. ›Idee‹). Das bekannteste Argument, das dann in Aristoteles’ Kritik der Ideenlehre Platons unter dem Titel Der dritte Mensch eine wichtige Rolle spielte, ist folgendes: Wenn die einzelnen Menschen an der Idee des Menschen – dem ›Menschen selbst‹ – teilhaben sollen und sich sowohl von den einzelnen Menschen als auch von der Idee des Menschen ›Mensch‹ prädizieren lässt, dann muss es einen [22]dritten Menschen geben, an dem sowohl die Idee als auch die einzelnen Menschen teilhaben. Diese Theorie führt also zu einem unendlichen Regress, was den Gedanken der Teilhabe destruiert.
Die erwähnte Unterscheidung des Aristoteles zwischen Universalem und Einzelnem wirft, für sich genommen, die mit der Annahme der wirklichen Existenz der Universalien verbundenen Probleme nicht auf, da sie für das Universale nur verlangt, von mehreren Dingen prädizierbar zu sein. Platons Ideenansatz hingegen wird mit diesen Problemen konfrontiert. Im 10. Buch des Staates (596a) heißt es: »Wir pflegen doch von all dem vielen Einzelnen, das wir mit demselben Namen bezeichnen, jeweils eine bestimmte Form (eîdos) anzusetzen.« Platons Position wird gewöhnlich insofern als ›realistisch‹ bezeichnet, als der Ansatz einer Form des Menschen oder des Schönen bedeutet, dass diese Universalien in der Wirklichkeit existieren; d. h.: Die Formen sind in vollkommener Weise, jenseits von Raum und Zeit, jeweils das, was ihre raum-zeitlichen Exemplifikationen in unvollkommener Weise sind. Die Formen selbst sind nicht sinnlich wahrnehmbar, während die wahrnehmbaren Dinge, die z. B. mit Bezug auf die Form des Schönen schön genannt werden, nicht ›eingestaltig‹ schön sind, da sie in einer Hinsicht schön, in anderer Hinsicht wiederum nicht schön sind. Gegen diese ontologische »Trennung« (chōrismós) der Universalien von den Einzeldingen ist Aristoteles’ Kritik an der platonischen Ideenlehre zur Hauptsache gerichtet (vgl. z. B. Metaphysik XIII 4, 1078b); sie bedeutet seiner Ansicht nach eine Verdoppelung der Welt, die für deren Erkenntnis keinen Erklärungswert habe.
[23]Für Platon stand die Transzendenz der Formen fest, Aristoteles dagegen behauptete ihre Immanenz; die Annahme einer Form z. B. des Menschen, die getrennt von den einzelnen Menschen existierte, erschien ihm nicht haltbar. Der Unterschied der platonischen von der aristotelischen Position wurde später terminologisch dahingehend fixiert, dass für Platon die Universalien den Dingen vorausliegen (universalia ante res), während sie für Aristoteles in den Dingen sind (universalia in rebus). Die Betrachtung des ›Trennungs‹-Problems allein im Lichte der Antithese Transzendenz – Immanenz verdeckt jedoch den Umstand, dass der »Chorismos« bei der Bildung des Universalien-Begriffs eine entscheidende Rolle spielte. Platon gibt im ersten Teil seines Dialogs Parmenides einige Hinweise zur Genese dieses Begriffs, indem er die Annahme von Formen in den Zusammenhang einer Auseinandersetzung mit dem Monismus des PARMENIDES VON ELEA stellt. Er lässt ZENON, den Schüler des Parmenides, die These vertreten, dass sich aus der Annahme, das Seiende sei nicht Eines, sondern Vieles, die absurde Konsequenz ergäbe, dass »das Ähnliche unähnlich und das Unähnliche ähnlich« wäre. Der Begriff der Ähnlichkeit im Zusammenhang von Zenons These ist aufschlussreich. Denn einerseits gibt er einen Hinweis auf das, worauf sich die Meinung, das Seiende sei Vieles, stützt, nämlich auf die erfahrbaren Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten der Dinge. Andererseits beruht Platons Annahme jeweils einer Form offenbar darauf, dass die wahrnehmbaren Dinge jeweils in Hinsicht auf eine bestimmte Eigenschaft einander ähnlich sind. Platon behauptet nun, dass Dinge aufgrund ihrer Teilhabe an der Form der Ähnlichkeit ähnlich sind und entsprechend [24]unähnlich durch Teilhabe an der Form der Unähnlichkeit. Es liegt also keine Absurdität in der Auffassung, dass die Dinge sowohl ähnlich als auch unähnlich sind. Die Form der Ähnlichkeit hingegen, die nicht wahrnehmbar, sondern nur im Nachdenken (logismós) erfassbar ist, kann nicht »unähnlich werden«, ebenso wenig wie die anderen Formen etwas anderes werden können als das, was sie sind. Vielmehr werden die Formen im Nachdenken als »getrennt« (chōrís) und »für sich bestehend« (kathʼ hautḗn) erkannt. Diese Erkenntnis ist das Resultat einer logischen Operation des Denkens, der »Trennung« bzw. »Teilung« (dihaíresis).
Daraus, dass die Formen im Nachdenken als voneinander getrennt und für sich bestehend erfasst werden, ergibt sich, dass sie auch von den an ihnen teilhabenden Dingen ›getrennt‹ erfassbar sind, denn die Dinge sind nie in vollkommener Weise das, was sie genannt werden, sondern nur jeweils in bestimmter Hinsicht z. B. schön, in anderer Hinsicht hässlich. Diese Trennung der Formen oder Ideen von den Dingen erachtete Platon im Parmenides als das wichtigste Problem seiner Ideenlehre. Denn damit stellt sich die Frage, ob die für sich bestehenden Formen für uns überhaupt erkennbar sind. Auf der anderen Seite hält Platon daran fest, dass Erkenntnis nur möglich ist, wenn es für sich bestehende Formen gibt (s. Art. ›Wissen(schaft)‹). Dieser Gedanke wurde von Aristoteles verworfen. Im Dialog Parmenides spiegelt sich wohl schon die beginnende Kontroverse: Der von Platon selbst problematisierte Begriff der ›Teilhabe‹ wurde später von Aristoteles als bloße Metapher beiseitegelegt. Während Platon den für sich bestehenden Formen substantielles Sein (ousía) zuerkannte, [25]den an ihnen teilhabenden Dingen jedoch nur ein Sein in abgeleitetem Sinne zugestand, sah Aristoteles das Verhältnis gerade umgekehrt (s. Art. ›Individuum‹, ›Kategorie‹, ›Substanz‹). Substanzen sind nach der Kategorienschrift die individuellen Dinge, das »Zugrundeliegende«, von dem etwas ausgesagt wird, das den Status des Allgemeinen hat, insofern es von mehreren Dingen aussagbar ist....
Erscheint lt. Verlag | 12.3.2021 |
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Reihe/Serie | Reclams Universal-Bibliothek | Reclams Universal-Bibliothek |
Verlagsort | Ditzingen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Geschichte der Philosophie |
Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie Altertum / Antike | |
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ISBN-10 | 3-15-961851-X / 315961851X |
ISBN-13 | 978-3-15-961851-7 / 9783159618517 |
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