Psychologische Forschungsmethoden in den Bildungswissenschaften (eBook)

|25|2  Grundlagen der psychologischen Forschungsmethoden

Margarete Imhof & Henrik Bellhäuser

2.1  Prinzipien quantitativer Forschung: Überblick

Wie arbeitet wissenschaftliche Forschung in der Psychologie und wie unterscheidet sich wissenschaftliche Erkenntnis von anderen Formen des Wissens und der Erkenntnis? Ist es nicht so, dass die Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeiten oft widersprüchliche Schlussfolgerungen zulassen und kaum eins zu eins in irgendeine Praxis übersetzt werden können, weil sie in sehr kontrollierten und realitätsfernen Kontexten produziert worden sind? In welchem Verhältnis stehen wissenschaftliche Erkenntnisse und persönliche Erfahrungen und Überzeugungen? Solche und weitere Fragen werden in diesem Kapitel besprochen.

Ein prägnantes Beispiel ist die Annahme von sog. Lerntypen: Manche Menschen sind aufgrund ihrer persönlichen Erfahrung fest davon überzeugt, besser lernen zu können, wenn sie Dinge hören und nicht lesen, und ordnen sich daher einem „akustischen Lerntyp“ zu. Andererseits finden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler keine belastbaren Befunde dafür, dass es solche „Lerntypen“ überhaupt gibt (Cuevas, 2015; Pashler, McDaniel, Rohrer & Bjork, 2009). Wie lassen sich diese beiden Beobachtungen miteinander vereinbaren?

|26|Oder ein anderes Beispiel: Ein Forschungsergebnis ist, dass Schülerinnen und Schüler in einer Unterrichtseinheit zum Experimentieren im naturwissenschaftlichen Unterricht mehr lernen, wenn eine Lehrperson ihnen zunächst theoretische Ideen präsentiert und die Schülerinnen und Schüler im Anschluss selbstständig experimentieren lässt (vgl. Wecker et al., 2014). Welche Relevanz hat dieser Befund im Vergleich zur Erfahrung einer Lehrperson, die „ihre“ Klasse kennt und aus der Alltagserfahrung weiß, dass Schülerexperimente dazu führen, dass einige Schülergruppen konzentriert arbeiten und andere in ungeordnetem Chaos versinken?

Die grundsätzlichen Fragen der Wissenschaftstheorie und der Theorie-Praxis-Beziehung sind komplex und werden von verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen unterschiedlich beantwortet. Dies spiegelt sich in den disziplinspezifischen Ausprägungen der Forschungsmethoden wider (vgl. Döring & Bortz, 2016; Selg, Klapprott & Kamenz, 1992; Westermann, 2017). Um die Bedeutung wissenschaftlicher Befunde aus der Psychologie kritisch einschätzen zu können, ist es daher wichtig, ein Grundverständnis von Gegenstand und Aufgaben sowie dem methodischen Vorgehen der wissenschaftlichen Psychologie zu besitzen.

2.1.1  Gegenstand der Psychologie

Die Psychologie versteht sich als Wissenschaft vom Verhalten, Erleben und Handeln des Menschen und der inneren und äußeren Bedingungen dafür (vgl. Hussy et al., 2013; Selg et al., 1992; Wirtz, 2013). Diese Definition ist möglicherweise eher dazu geeignet, weitere Fragen aufzuwerfen als Klarheit zu schaffen, da zunächst noch unscharf bleibt, was unter „Wissenschaft“, „Verhalten“, „Erleben“ und „Handeln“ zu verstehen ist (Selg & Dörner, 2005; Westermann, 2017). Entsprechend dieser Auffassung von Psychologie befasst sich psychologische Forschung mit dem direkt beobachtbaren Verhalten (z. B.: Wie beteiligen sich Jungen und Mädchen im naturwissenschaftlichen Unterricht?), mit dem subjektiven Erleben und den verdeckten Prozessen (z. B.: Welche Emotionen lösen Rückmeldungen über Erfolg und Misserfolg bei den Schülerinnen und Schülern aus?) und dem Handeln (z. B.: Wie verhalten sich die Aussagen der Schülerinnen und Schüler über die Nützlichkeit von Lernstrategien zu ihrem tatsächlichen Handeln in einer Lernsituation?).

2.1.2  Teildisziplinen der Psychologie

Die psychologischen Themen werden zusätzlich aus verschiedenen Perspektiven behandelt. Man kann Verhalten, Erleben und Handeln betrachten, indem man auf deren relevante Veränderungen über den Lebenslauf hinweg schaut. So ist es |27|sowohl theoretisch interessant als auch praktisch relevant, wie Gedächtnisprozesse, das Aufnehmen, Abspeichern und Abrufen von Information, in verschiedenen Lebensphasen des Menschen unterschiedlich funktionieren. Diesen und ähnlichen Fragen widmet sich die Entwicklungspsychologie.

Dieselben Prozesse können auch daraufhin untersucht werden, inwieweit sich Menschen darin unterscheiden, wie viel Information sie aufnehmen, verarbeiten, behalten und wiederfinden können. Mit den Unterschieden im Verhalten, Erleben und Handeln der Menschen befasst sich die Differentielle Psychologie.

Die Untersuchung der über Personen hinweg geltenden Gesetzmäßigkeiten, die dem Verhalten, Erleben und Handeln von Menschen zugrunde liegen, fällt in das Gebiet der Allgemeinen Psychologie. Darunter fallen beispielsweise die allgemeinen Prinzipien, nach denen Menschen Information aufnehmen und das Gedächtnis organisieren, wie etwa die Frage, ob bildhafte Information anders bearbeitet und abgelegt wird als verbale Information.

Eine weitere Perspektive der psychologischen Untersuchung von Verhalten, Erleben und Handeln betrachtet, wie diese von der Anwesenheit anderer Menschen beeinflusst werden. Diese Fragen werden der Sozialpsychologie zugeordnet, die sich beispielsweise mit der Frage befasst, ob Informationen anders wahrgenommen und abgespeichert werden, wenn ein Mensch allein ist oder wenn andere Personen dabei sind. So hat man etwa das Phänomen beschrieben, dass Menschen umso weniger anderen helfen, je größer die Gruppe ist, in der man sich befindet.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erforschen Verhalten, Erleben und Handeln der Menschen zudem in spezifischen Kontexten. Die Vertreterinnen und Vertreter der so genannten Anwendungsfächer der Psychologie interessieren sich z. B. besonders dafür, wie menschliches Verhalten, Erleben und Handeln am Arbeitsplatz, in Unternehmen oder Organisationen beschrieben, erklärt, vorhergesagt, beeinflusst und evaluiert werden kann (Arbeits- und Organisationspsychologie).

Wieder andere befassen sich mit psychologischen Fragen im Kontext Lernen, Unterrichten und Erziehen in Familien, Schulen und anderen Institutionen (Pädagogische Psychologie).

Es haben sich auch eine Reihe von Anwendungsfeldern etabliert, von denen das bekannteste wahrscheinlich die Klinische Psychologie ist. Vertreterinnen und Vertreter der Klinischen Psychologie erforschen nicht nur psychische Störungen, sondern auch die Frage, wie Erkenntnisse aus der Psychologie genutzt werden können, um die Resilienz von Menschen im Umgang mit Belastungen und Herausforderung zu stärken bzw. denjenigen, die durch ihr Verhalten, Erleben und Handeln Belastungen erfahren, therapeutisch zu helfen.

|28|Psychologische Forschung nimmt sich auch Themen vor, bei denen es um Verhalten, Handeln und Erleben an der Schnittstelle von Mensch und Technik geht, z. B. wie Steuerungspanele in Kontrollsystemen oder in (selbstfahrenden) Autos gestaltet sein müssen, damit sie sicher bedienbar sind (Human-Factors-Psychologie).

Rechtspsychologie und Forensische Psychologie untersuchen Fragen der Begutachtung im juristischen Kontext, z. B. die Glaubwürdigkeit von Zeugen oder Gutachten beim Familiengericht, wenn etwa im Rahmen von Sorgerechtsfällen prognostische Einschätzungen abzugeben sind, in welcher Umgebung sich Kinder am günstigsten entwickeln.