Die Kunst zu leben (eBook)

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2021 | 1. Auflage
160 Seiten
Anaconda Verlag
978-3-641-27899-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Kunst zu leben -  Jean-Jacques Rousseau
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Jean-Jacques Rousseau, der große Philosoph der französischen Aufklärung, ist den meisten heute als Denker des »Gesellschaftsvertrags« bekannt. Doch stellte er sich zeitlebens auch die scheinbar alltägliche Frage, was es heißt, gut zu leben. Als von der Gesellschaft Verstoßener bewegte sich Rousseau jenseits der bürgerlichen Vorstellungen vom guten Leben; daher beschäftigte er sich gerade in seinem Spätwerk intensiv mit dieser Frage. Die ausgewählten und kommentierten Passagen schaffen Einblicke in seine »Kunst zu leben« und machen dabei die Grundsteine Rousseau'schen Denkens zugänglich.

Über den Menschen und das Leben im Allgemeinen


Alle Tiere besitzen genau die Fähigkeiten, die zu ihrer Erhaltung notwendig sind; nur der Mensch hat welche, die eigentlich überflüssig sind. Ist es nicht sehr sonderbar, dass gerade diese überflüssigen Kräfte die Ursache seines Unglücks sind? In jedem Land vermögen die Arme eines Menschen durch Arbeit mehr hervorzubringen als seine Mittel zur Subsistenz*. Wenn er weise genug wäre, diesen Überschuss als nichts zu erachten, hätte er immer das Notwendige, denn er hätte nie etwas zu viel. Die großen Bedürfnisse, sagte schon Favorinus**, entständen aus großen Besitztümern, und oft sei das beste Mittel, die Dinge zu bekommen, die wir nicht haben, aber sehnlichst wünschen, dass man diejenigen wieder weggibt, die man hat. Dadurch dass wir uns abplagen, um unser Glück zu steigern, verwandeln wir es selbst in Unglück. Jeder Mensch, der nur zu leben wünscht, würde glücklich leben, folglich wäre er auch gut; denn welchen Vorteil hätte er davon, schlecht zu sein?

Wenn wir unsterblich wären, wären wir höchst unglückliche Wesen. Es ist zweifellos hart, zu sterben, aber angenehm ist die Hoffnung, dass wir nicht ewig leben und dass ein besseres Leben der Mühsal und den Leiden hienieden ein Ende bringen wird. Wer würde denn wohl, wenn man ihm die Unsterblichkeit auf Erden anbieten würde, dieses trostlose Geschenk annehmen? Welche Hilfsmittel, welche Hoffnung, welcher Trost würden uns dann noch gegen die bitteren Schläge des Schicksals und gegen die Ungerechtigkeiten der Menschen bleiben? Der Unwissende, der über keine Voraussicht verfügt, spürt den Wert des Lebens wenig und hat auch wenig Angst, es zu verlieren. Der aufgeklärte Mensch kennt wertvollere Güter, welche er dem vorzieht. Nur das Halbwissen und eine falsche Sicht der Weisheit lenken unseren Blick allein bis zum Tod und nicht darüber hinaus und machen dann aus ihm das schlimmste aller Übel. Die Notwendigkeit, sterben zu müssen, ist für einen weisen Menschen nur ein Grund, die Leiden des Lebens zu ertragen. Wenn man nicht sicher wäre, es eines Tages zu verlieren, würde man es zu teuer erkaufen.

Unsere moralischen Übel beruhen alle auf Einbildung, mit Ausnahme des Lasters, und dieses hängt von uns ab. Unsere körperlichen Übel zerstören sich selbst oder sie zerstören uns. Die Zeit oder der Tod sind unsere Heilmittel. Aber wir leiden umso mehr, je weniger wir zu leiden verstehen. Und wir verursachen uns mehr Qualen damit, unsere Krankheiten zu heilen, als wir welche hätten, wenn wir sie bloß aushielten. Lebe nach der Natur, sei geduldig und jage die Ärzte weg. Dadurch wirst du nicht den Tod verhindern, aber du wirst ihn nur einmal spüren, während die Ärzte ihn dir jeden Tag in deine gestörte Einbildungskraft bringen. Und ihre lügenhafte Kunst nimmt dir jede Freude am Leben, statt es zu verlängern …

In den menschlichen Einrichtungen ist alles nur Torheit und Widerspruch. Je mehr Wert unser Leben verliert, desto größere Sorgen machen wir uns um es. Die alten Leute hängen mehr an ihm als die jungen. Sie wollen all die Aufwendungen, die sie getroffen haben, um es zu genießen, nicht verlieren; mit sechzig Jahren ist es sehr grausam zu sterben, wenn man eigentlich noch nicht zu leben begonnen hat. Man ist der Meinung, dass der Mensch einen lebhaften Selbsterhaltungstrieb hat, und das stimmt ja. Aber man erkennt dabei nicht, dass dieser Trieb, so wie wir ihn fühlen, größtenteils das Werk der Menschen ist. Von seiner Natur her ist der Mensch nur so weit bestrebt, sich selbst zu erhalten, wie er die Mittel hat, die ihm dazu zur Verfügung stehen. Sobald ihm diese ausgehen, ergibt er sich seinem Schicksal und stirbt, ohne sich noch weiter sinnlos zu quälen. Die Natur lehrt uns das erste Gesetz, sich dem Schicksal zu ergeben. Ebenso wie die Tiere sträuben sich auch die Wilden recht wenig gegen den Tod und erdulden ihn fast ohne zu klagen. Ist dieses Naturgesetz umgestoßen, bildet sich daraus ein anderes, das aus der Vernunft her resultiert; aber wenige nur verstehen es, daraus den richtigen Schluss zu ziehen, und deshalb ist diese künstliche Resignation nie genauso klar und vollständig wie die erste natürliche.

Die Vorsorge! Die Vorsorge, die uns unablässig über uns selbst hinausträgt und uns oft an eine Stelle bringt, die wir nie erreichen werden – hierin liegt die eigentliche Quelle all unserer Leiden. Welche Sucht hat doch ein derart vergängliches Wesen wie der Mensch, immer weit voraus in eine Zukunft zu schauen, die in dieser seiner Sichtweise selten kommt, und dabei die Gegenwart zu vernachlässigen, deren er sicher ist! Diese Sucht ist umso unheilvoller, als sie mit dem Alter ständig zunimmt, und die alten Leute, misstrauisch, vorsorglich und geizig wie sie sind, versagen sich heute lieber das Notwendige, als dass ihnen in hundert Jahren etwas Überflüssiges fehlt. So halten wir an allem fest, klammern uns an alles. Die Zeit, die Orte, die Menschen, die Dinge, alles, was ist, und auch alles, was sein wird, ist für jeden von besonderer Wichtigkeit. Unser individuelles Selbst ist so nur noch der geringste Teil von uns. Jeder dehnt sich sozusagen auf der ganzen Erde aus und wird auf dieser ganzen großen Oberfläche spürbar. Kann es deshalb erstaunen, dass unsere Leiden sich an allen Punkten vervielfältigen, an denen man uns verletzen kann? Wie viele Fürsten sind todunglücklich über den Verlust eines Landes, das sie nie zu Gesicht bekommen haben! Wie viele Kaufleute genügt es in Indien anzurühren, dass sie in Paris ein großes Geschrei erheben!

Ist es die Natur, die die Menschen so weit von ihrem wirklichen Sein entfremdet? Ist es ihr Wille, dass jeder sein Schicksal von anderen erfährt, und manchmal sogar als Letzter, sodass der eine oder andere schon glücklich oder elend gestorben ist, ohne dass er je etwas davon gewusst hätte? Ich habe einen frischen, fröhlichen, kräftigen und gesunden Mann vor meinen Augen, seine Anwesenheit bereitet mir Freude; aus seinen Augen strahlen Zufriedenheit und Wohlsein, ein wahres Abbild von Glück. Da kommt auf einmal ein Brief mit der Post; unser glücklicher Mann schaut diesen an, er ist an seine Adresse gerichtet, er öffnet ihn, er liest ihn, und im selben Augenblick ändert sich seine Miene; er wird bleich und fällt in Ohnmacht. Als er wieder zu sich kommt, weint er, zittert, stöhnt, rauft sich die Haare, seine Schreie erfüllen die Luft, und er scheint von schrecklichen Zuckungen und Krämpfen befallen. Du Törichter! Welches Leid hat dir dieses Stück Papier denn angetan? Welches Körperglied hat es dir denn genommen? Zu welchem Verbrechen hat es dich angeregt? Was hat es schließlich in deinem Innern so verändert, dass du in den Zustand geraten bist, in dem ich dich jetzt sehe?

Wenn nun dieser Brief verloren gegangen wäre, wenn eine gutmeinende Hand ihn ins Feuer geworfen hätte, wäre das Schicksal dieses glücklichen und zugleich unglücklichen Menschen, wie es mir scheint, für uns ein eigentümliches Problem gewesen. Sein Unglück war real, werden Sie sagen. Sehr richtig, aber er merkt und fühlt es nicht. Wo wäre es denn aber gewesen? Sein Glück war nur ein eingebildetes. Das gebe ich zu. Die Gesundheit, die Heiterkeit, das Wohlbefinden, die innere Zufriedenheit sind also nur Träume und Hirngespinste. Wir existieren nicht mehr, wo wir sind; wir existieren nur, wo wir nicht sind. Ist es dann der Mühe wert, dass wir eine solch große Furcht vor dem Tod haben, wenn die Bedingung, in welcher und durch welche wir leben, dieselbe bleibt?

Oh Mensch, beschränke deine Existenz auf dein Inneres und du wirst nicht mehr länger unglücklich sein. Bleibe an der Stelle, die die Natur dir in der Kette der Wesen zugewiesen hat, dann wird nichts dich von dort verweisen können. Sträube dich nicht gegen das harte Gesetz der Notwendigkeit und erschöpfe deine Kräfte nicht dadurch, dass du dich ihr widersetzt. Denn der Himmel hat dir diese Kräfte nicht gegeben, um deine Existenz zu erweitern oder zu verlängern, sondern lediglich um sie zu erhalten, wie es ihm und solange es ihm gefällt. Deine Freiheit und deine Macht erstrecken sich nur so weit wie deine natürlichen Kräfte und nicht darüber hinaus. Alles Übrige ist nur Sklaverei, Illusion, Ruhmsucht. Sogar die Herrschaft ist sklavisch, wenn sie vermeintlich ist, denn du bist dann von den Vorurteilen derjenigen abhängig, über die du durch Vorurteile regierst. Um sie zu führen, wie es dir gefällt, musst du dich führen, wie es ihnen gefällt. Sie brauchen nur einmal ihre Denkweise zu ändern, und schon musst du gezwungenermaßen deine Handlungsweise ändern. Diejenigen, die in deiner Nähe leben, brauchen es nur fertigzubringen, die Meinungen des Volkes zu lenken, das du zu lenken vermeinst, oder der Günstlinge, die dich lenken, oder die deiner Familie oder deine eigenen. Wenn das der Fall ist, dann werden diese Wesire, diese Höflinge, diese Priester, diese Soldaten, diese Diener, diese Schwatzbasen und alle hinab bis zu den Kindern dich inmitten deiner Legionen wie ein Kind führen, und das selbst, wenn du an Geist dem Themistokles gleich wärest. Was du auch immer tust, deine wirkliche Macht kann sich nie über die Grenzen deiner wirklichen Fähigkeiten hinaus erstrecken. Sobald du gezwungen bist, mit den Augen anderer zu sehen, muss deren Willen dein eigener sein. Magst du auch mit Stolz verkünden: »Mein Volk, das sind meine Untertanen.« Zugegeben, aber was bist du? Der Untertan deiner Minister. Und deine Minister, was sind sie? Die Untertanen ihrer Beamten, ihrer Mätressen, die Diener ihrer Diener. Reißt alles an euch, raubt alles und gebt dann euer Geld mit vollen Händen aus; lasst Batterien von Kanonen auffahren, errichtet Galgen und...

Erscheint lt. Verlag 1.3.2021
Reihe/Serie Geschenkbuch Weisheit
Geschenkbuch Weisheit
Sprache deutsch
Original-Titel L'œuvre diverses
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Aufklärung • eBooks • Französische Literatur • französischer Philosoph • Geschenkbuch • Glück • Lebenskunst • Meditationen • Natur • Pädagogik • Philosophie • Politische Theorie • Träumereien • Weisheit • Zufriedenheit
ISBN-10 3-641-27899-6 / 3641278996
ISBN-13 978-3-641-27899-1 / 9783641278991
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