Gottes Schatten (eBook)

Sultan Selim und die Geburt der modernen Welt

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
508 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-76410-3 (ISBN)

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Gottes Schatten - Alan Mikhail
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Das Osmanische Reich war um 1500 das mächtigste Reich der Welt, dessen Herrschaftsgebiet sich unter Sultan Selim nahezu verdreifachte. Der preisgekrönte amerikanische HistorikerAlan Mikhail betrachtet in seinem meisterhaft erzählten Buch den Beginn der Neuzeit konsequent von diesem Reich und diesem Herrscher aus. Auf der Grundlage bisher vernachlässigter Quellen zeichnet er so ein ganz neues Bild von dieser Schlüsselepoche: Ohne die Osmanen hätten die Europäer nicht Amerika erobert, hätte es keine Reformation gegeben und keine Moderne.

Selim I. 'der Gestrenge' (1470 - 1520), osmanischer Sultan und Kalif aller Gläubigen, lebte in einer Welt im Umbruch. Mit der Eroberung Amerikas durch die Spanier begann nach landläufiger Meinung der 'Aufstieg des Westens', mit der Reformation wurden mittelalterliche Denkweisen überwunden. Doch die eigentlich treibende Kraft dieser Veränderungen wurde bisher ausgeblendet: Erst das Vordringen des Osmanischen Reiches nach Westen zwang die Europäer ihrerseits weiter nach Westen in eine Neue Welt, wo sie ihren alten Kreuzzug gegen den Islam fortsetzten. Nicht zufällig kam es in Europa zur Glaubensspaltung, als Sultan Selim den sunnitischen Islam reformierte und sich der Graben zwischen Sunniten und Schiiten vertiefte. Alan Mikhail zeigt auf faszinierende Weise, wie sehr die Geschichte Europas und Amerikas mit der der islamischen Welt verflochten ist. Ob wir es wollen oder nicht, die Welt, in der wir leben, ist eine sehr osmanische. Und diese Geschichte kann uns nur Sultan Selim erzählen.

Alan Mikhail Professor für Geschichte an der Yale University, ist mit preisgekrönten Büchern zur Umweltgeschichte insbesondere des Osmanischen Reichs und Ägyptens international bekannt geworden. 2018 wurde er mit dem Anneliese-Maier-Forschungspreis der Alexander von Humboldt Stiftung ausgezeichnet.

EINLEITUNG


Selim

An der Grenze zwischen Texas und Mexiko, genau an der Stelle, wo der Rio Grande in den Golf von Mexiko mündet, liegt eine schläfrige Stadt mit dem unwahrscheinlichen Namen Matamoros. «Mata» ist von dem spanischen Verb matar, töten, abgeleitet, und moros ist das spanische Äquivalent für das deutsche Wort «Mauren», den pejorativen Begriff, mit dem die spanischen Christen die Muslime bezeichneten. Ein Matamoros ist also ein Maurentöter, ein Titel, der offenbar keinen Bezug zur amerikanischen Geschichte oder Gegenwart hat. Warum sollte eine sonnige Grenzstadt im Nordosten Mexikos «Maurentöter» heißen? Galten Muslime in Mexiko oder Texas je als existenzielle Feinde, die es zu töten galt?

Das Wort «Matamoros» wurde von den katholischen Spaniern geprägt. Für sie war jeder christliche Soldat dazu verpflichtet, ein Maurentöter zu sein. Ein großer Teil Spaniens hatte von 711 bis 1492 unter muslimischer Herrschaft gestanden. Das Jahr 1492 kann in zweifacher Hinsicht als geopolitisch schicksalhaft gelten: Nicht nur eroberten (oder rückeroberten, wie sie lieber sagten) die Spanier die letzte muslimische Festung auf der Iberischen Halbinsel, sondern ein ganz bestimmter Maurentöter mit dem bekannten Namen Christoph Kolumbus eröffnete in jenem Jahr auch eine neue Front im spanischen Krieg gegen den Islam. Er hatte Isabella und Ferdinand bei der Eroberung Granadas als Soldat gedient und war zweifellos ein religiöser Mann. Sein Leben lang hatte er in zahlreichen Schlachten gegen Muslime gekämpft, oder genauer gesagt, gegen das Osmanische Reich, den wichtigsten Rivalen Spaniens im Mittelmeerraum. Dabei hatte er seinen Geschmack für muslimisches Blut verfeinert und mit Leib und Seele die Last des Heiligen Krieges auf sich genommen. Als er auf dem Atlantik nach Westen fuhr, war er deshalb weder von einer weltlichen Begeisterung für Entdeckungen noch von einer wohlkalkulierten Geschäftsidee erfüllt. Vielmehr segelte er mit dem leidenschaftlichen Bedürfnis, auch in Amerika den Krieg der Christenheit gegen deren größten Feind zu führen: den Islam.

Trotz des großen Sieges auf der Iberischen Halbinsel verloren die Christen fast überall sonst Menschen, wirtschaftlichen Einfluss und Gebiete an die Osmanen. Der ideologische Wind, der die weißen Segel der drei Schiffe von Kolumbus füllte, war der wichtigste politische Kampf in der Welt des 15. Jahrhunderts: die Auseinandersetzung zwischen dem katholischen Europa und dem muslimischen Osmanischen Reich. Anders als in fast allen gängigen Versionen der Weltgeschichte behauptet, war nämlich das Osmanische Reich der Grund, warum die Europäer nach Amerika vordrangen.

Schon ein halbes Jahrhundert vor 1492 und Jahrhunderte danach galt das Osmanische Reich als der mächtigste Staat der Welt: das größte Reich im Mittelmeerraum seit dem alten Rom und das beständigste in der Geschichte des Islam. In den Jahrzehnten um 1500 herrschten die Osmanen über ein größeres Territorium und mehr Menschen als irgendeine andere Macht. Durch das osmanische Monopol auf die Handelswege zwischen Ost und West und die militärische Stärke zu Lande und zu Wasser wurden Spanier und Portugiesen im 15. Jahrhundert aus dem Mittelmeerraum verdrängt. Kaufleute und Seeleute sahen sich deshalb gezwungen, auf gefährlichen Entdeckungsreisen unbekannte Meere zu überqueren und Kontinente zu umschiffen, nur um den Osmanen auszuweichen.

Das Osmanische Reich prägte um die Wende zum 16. Jahrhundert die bekannte Welt von China bis Mexiko. Aufgrund seiner Hegemonie stand es in militärischer, ideologischer und wirtschaftlicher Konkurrenz zu den spanischen und den italienischen Staaten, zu Russland, Indien und China und zu anderen muslimischen Mächten. Auf die eine oder andere Art beeinflussten die Osmanen jedes wichtige Ereignis jener Jahre, mit Folgen bis in unsere Zeit. Dutzende bekannter Gestalten wie Kolumbus, Vasco da Gama, Montezuma, der Reformator Luther, der Kriegsherr Timur, Generationen von Päpsten und Millionen größerer und kleinerer historischer Persönlichkeiten orientierten sich, was ihre Aktionen und ihre Existenz betraf, an der Reichweite und Größe der osmanischen Macht.

Die Herausforderung durch die osmanische Spielart des Islam, als sich das Reich im Westen nach Europa ausdehnte, war ein wichtiger Antrieb für die protestantische Reformation Luthers. An der Ostgrenze des Reiches verstärkten die Kriege mit dem safawidischen Iran die Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten, die der muslimischen Welt heute noch zu schaffen macht. Den militärischen Eroberungen und wirtschaftlichen Fähigkeiten der Osmanen war die erste wirklich globale Ware, der Kaffee, zu verdanken, und durch die Erfindung des Kaffeehauses heizten sie das kapitalistische Konsumverhalten an.

Der erzwungene Abschied, oder besser gesagt die Vertreibung Europas aus dem Mittelmeerraum, trug zu der apokalyptischen Geisteshaltung bei, die im damaligen christlichen Europa herrschte. Christentum und Islam schienen um Körper und Seele der Schöpfung zu kämpfen. Nach ihrer Ankunft in der Neuen Welt setzten die selbsternannten Soldaten Christi ihren alten Krieg gegen die indigene Bevölkerung eines fremden Landes fort. Diese Maurentöter stützten sich auf ihre Erfahrungen mit dem Islam in der Alten Welt, um Nord- und Südamerika und seine Völker zu verstehen, und rechtfertigten damit sogar – mit dem spirituellen und juristischen Segen des Papstes – den Import westafrikanischer Sklaven nach Amerika. Weil die Geschichtsschreibung den Islam ignoriert hat, ist es nicht gelungen, Kolumbus und sein Zeitalter vollständig und richtig zu verstehen.

Der vorliegende Band untersucht den globalen Einfluss der osmanischen Macht und ermöglicht dadurch ein innovatives, ja revolutionäres Verständnis der Rolle des Islam und des Osmanischen Reichs bei der Gestaltung der Alten und der Neuen Welt. Der größte Teil dieser Geschichte ist in den letzten fünf Jahrhunderten sowohl von Berufshistorikern als auch von interessierten Laien ignoriert oder als unwichtig abgetan worden. Dennoch waren die Muslime integraler Bestandteil einer zwangsläufig gemeinsamen Geschichte. Es ist eine unausweichliche Tatsache und eine zugegebenermaßen bittere Pille für viele westliche Menschen, dass das Osmanische Reich unsere moderne Welt gemacht hat.

Warum ist dem so? Ein wichtiger Grund besteht darin, dass Muslime im Westen des 21. Jahrhunderts wie schon im Westen des 15. und 16. Jahrhunderts oft automatisch als Feinde und Terroristen betrachtet werden, die zu der Religion, die die Kultur des Westens bestimmt, und zu den politischen Systemen, die ihm heilig sind, in radikalem Gegensatz stehen. Von der Popkultur bis zur Weltpolitik ist der Islam, insbesondere in den Vereinigten Staaten, für Liberale wie Konservative «das große andere» – also ein Problem, das irgendwie gelöst werden muss. Die Muslime werden Opfer volkstümlicher wie amtlicher Schmähungen und oft sogar direkter physischer Gewalt.

Noch andere Fakten werden ausgeblendet, was den osmanischen Einfluss auf die Geschichte des Westens betrifft. Insbesondere definiert man im Westen die Geschichte des letzten halben Jahrtausends gerne als «den Aufstieg des Westens». (Dieser Anachronismus wird in der Türkei und im Nahen Osten genauso für richtig gehalten wie in Europa und Amerika.) Tatsächlich existierte der vielgepriesene Begriff «Westen» um 1500 noch gar nicht, und ein solcher hatte sich auch bis 1600 noch nicht herauskristallisiert. In der gesamten frühen Neuzeit bestand der europäische Kontinent aus einer fragilen Ansammlung verschiedener Königreiche und kleiner, schwacher Fürstentümer, die untereinander ständig in Kriege verstrickt waren. Die großen Landmächte Eurasiens waren die dominierender Reiche der Alten Welt, und außer ein paar kleiner europäischer Außenposten in der Karibik blieben die ausgedehnten Gebiete Nord- und Südamerikas immer noch im Besitz der dortigen indigenen Völker. Das Osmanische Reich beherrschte in Europa ein größeres Gebiet als die meisten rein europäischen Staaten. Hätte man um 1600 auf eine Macht setzen müssen, die die Weltherrschaft übernehmen würde, hätte man sein Geld auf das Osmanische Reich oder vielleicht auch auf China, aber keinesfalls auf einen europäischen Staat gesetzt.

Seit der industriellen Revolution und der europäischen Expansion im 19. Jahrhunderts wurde diese Geschichte umgeschrieben, um den europäischen Aufstieg so darzustellen, als hätte er schon mit Kolumbus begonnen. Das ist eine historische Absurdität, die nicht nur die tiefen Risse im frühneuzeitlichen Europa übertüncht, sondern auch die Tatsache verschleiert, dass das Osmanische Reich die Welt jahrhundertelang in Angst ...

Erscheint lt. Verlag 18.3.2021
Übersetzer Helmut Dierlamm, Heike Schlatterer
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Neuzeit bis 1918
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte 15. Jahrhundert • 16. Jahrhundert • Amerika • Aufstieg des Westens • der Gestrenge • Europa • Geschichte • glaubensspaltung • Islam • Kalif • Naher Oster • Osmanische Reich • Reformation • Schiiten • Selim • Sultan • Sunniten
ISBN-10 3-406-76410-X / 340676410X
ISBN-13 978-3-406-76410-3 / 9783406764103
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