Trauer und Freude (Fachratgeber Klett-Cotta, Bd.) (eBook)
180 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12121-6 (ISBN)
Dr. Klaus Onnasch, Pastor i.R., Aus- und Fortbildung in Klinischer Seelsorge sowie Bibliodrama/Psychodrama, lebt und arbeitet in Kronshagen; Aktiv in Partnerschaften mit Regionen in Uganda und in der Türkei. Seit 1977 ist er in der Trauerbegleitung praktisch tätig; erfolgreicher Buchautor zum Thema 'Trauer'.
Dr. Klaus Onnasch, Pastor i.R., Aus- und Fortbildung in Klinischer Seelsorge sowie Bibliodrama/Psychodrama, lebt und arbeitet in Kronshagen; Aktiv in Partnerschaften mit Regionen in Uganda und in der Türkei. Seit 1977 ist er in der Trauerbegleitung praktisch tätig; erfolgreicher Buchautor zum Thema "Trauer". Prof. Dr. med. Günter H. Seidler war von 2002 bis zum Eintritt in den Ruhestand im Sommer 2015 Leiter der Sektion Psychotraumatologie im Zentrum für Psychosoziale Medizin der Universitätsklinik Heidelberg. Er begann seine Laufbahn als Neurochirurg. Er ist Facharzt für Neurologie und Psychiatrie sowie für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Lehranalytiker, Gruppen-Lehranalytiker und EMDR-Supervisor. Er arbeitet freiberuflich als Autor, Coach, Berater, Lehrtherapeut und Lehranalytiker sowie Supervisor. Der Vorentwurf zu seinem ersten Buch ("Der Blick des Anderen. Eine Analyse der Scham") wurde 1989 mit dem Förderpreis der DPG (Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft) ausgezeichnet. Dessen amerikanische Ausgabe avancierte in Trauma-orientierten Kreisen der Psychotherapieszene in den USA zum Kultbuch. Die empirische Überprüfung des dort entwickelten Konstruktes in seiner Habilitationsschrift ("Stationäre Psychotherapie auf dem Prüfstand. Intersubjektivität und gesundheitliche Besserung", 1999) wurde mit dem "Forschungspreis Psychotherapie in der Medizin" ausgezeichnet. Seine Befunde veranlassten ihn zu einem Paradigmawechsel, und er wandte sich der Psychotraumatologie zu. Günter H. Seidler ist Gründungsherausgeber und war bis 2019 Leitender Herausgeber der Zeitschrift »Trauma & Gewalt. Forschung und Praxisfelder«. Günter Seidler hat zahlreiche wissenschaftliche Projekte zu den Folgen individueller Gewalt und zu Großschadensereignissen sowie zur Therapieentwicklung durchgeführt und gilt international als einer der führenden Psychotraumatherapeuten. In seiner praktischen Arbeit verbindet er eine wissenschaftliche Orientierung mit Kompetenzen in zahlreichen Therapieverfahren und mit eigenen Ansätzen. >> Weitere Informationen zu Günter H. Seidler (www.guenter-seidler.de)
Kapitel 1
Erfahrungen
Beginnen möchte ich mit eigenen Erfahrungen von Trauer und Freude, wie ich sie in meiner eigenen Lebensgeschichte und in meinem nahen Umfeld erlebt habe. Diese Erfahrungen können vielleicht Anregungen geben, dass beim Lesen eigene Erlebnisse erinnert und damit verbundene Gefühle vergegenwärtigt werden. Ich beginne mit drei Geschichten von Kindern. Sie äußern ihre Empfindungen meist noch unbefangener und spontaner als Erwachsene.
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Ein fünfjähriges Mädchen setzt sich dafür ein, dass es wirklich schön werden soll, wenn ihr lieber Opa bestattet wird. Die Pastorin geht auf sie ein, sie will ihr ihren Wunsch erfüllen und gibt ihren Ideen Raum. Nach der Predigt kündigt das Mädchen an, dass jetzt alle rausgehen möchten: Sie können dann auf der Wiese nahe der Kirche Blumen pflücken und diese danach auf den Sarg legen, um dem Opa eine Freude zu machen. Die gewohnte Ordnung wird durchbrochen, alle verlassen die Kirche und treffen sich auf der Wiese. Eine gelockerte Atmosphäre entsteht, viele begegnen sich und sprechen miteinander, manche umarmen sich. Nach der Rückkehr in die Kirche werden die Blumen auf den Sarg gelegt. Das Mädchen wirft dort die von ihm gepflückten Gänseblümchen und Himmelschlüsselchen in die Luft: »So hat der Opa noch mehr Freude.« Die Pastorin führt die Feier weiter; sie schließt mit Gebet und Aussegnung. Das Mädchen sagt: »Das war eine wirklich schöne Feier.« Die Erwachsenen stimmen ihr zu. Manche überlegen, ob nicht ohnehin Trauerfeiern offener gestaltet werden sollten, sodass sowohl die Trauer wie auch die Freude mehr Raum haben können.
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Eine Frau hat sehr plötzlich ihren Mann verloren und kann noch gar nicht fassen, was geschehen ist. Nach der Trauerfeier trifft sich die Familie am Tisch zu Hause. Es herrscht betretenes Schweigen. Der Platz, an dem sonst ihr Mann gesessen hat, wird mit Bedacht freigehalten. Als die gemeinsame Mahlzeit beginnen soll, setzt sich der sechsjährigen Enkel auf den leeren Platz und sagt laut und deutlich: »Jetzt bin ich der Opa.« Plötzlich ändert sich die Atmosphäre, alle blicken auf, atmen auf, manche beginnen zu lachen. Die Witwe sagt zu ihrem Enkel: »Ja, jetzt bist du der Opa. Auf seinem Platz kannst du ruhig sitzen bleiben.« Die Stimmung in der Familie ist jetzt nicht mehr bedrückend, sondern eher heiter und freudig. Allen wird bewusst, dass mit dem Abschied auch ein Anfang geschieht; eine neue Perspektive des Lebens wird möglich. Natürlich weiß die Witwe, dass der Enkel niemals voll die Rolle ihres Mannes übernehmen kann; dennoch wird spürbar, dass neue Beziehungen entstehen können, die das weitere Leben erträglich, vielleicht sogar kostbar werden lassen können.
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Jetzt möchte ich von meiner Enkelin erzählen. Sie war fünf Jahre alt, als meine Frau sehr schwer erkrankte und es deutlich wurde, dass sie nur noch kurze Zeit zu leben hatte. Die Enkelin hatte sich vorgenommen, für ihre Großmutter in dieser Zeit da zu sein und ihr Gutes zu tun, soweit sie das konnte. So erteilte sie ihrer Oma Trainingsstunden, in denen sie das Fliegen lernen sollte. Die Enkelin machte die Bewegungen vor, danach forderte sie ihre Oma auf, diese Bewegungen nachzumachen. Sie begann mit einem Hubschrauber; die Bewegungen waren sehr eckig und kompliziert, auch war es unangenehm laut. Nach einiger Zeit gab ihre Oma es erschöpft auf, diesen Bewegungen zu folgen. Danach zeigte sie ihr, wie ein Flugzeug seinen Flug startet. Das war schon etwas leichter, aber dabei musste man einen großen, langen Anlauf nehmen. Eine dritte Möglichkeit war viel besser. Meine Enkelin zeigte ihrer Großmutter, wie Engel fliegen: ganz leicht und locker, schwebend hin und her, vor und zurück; so entstand langsam ein beschwingter Tanz. Mit großer Freude sah meine Frau diesem Spiel zu: Dann versuchte auch sie einige Schritte, zuerst ganz vorsichtig, dann behutsam etwas weiter; in ihrem ganzen Ausdruck war sie beseelt und beflügelt. »Ja, das möchte ich«, sprach sie. »Ich möchte mit den Engeln tanzen – und ich glaube fest daran, dass es so sein wird.« Am Tage, bevor sie starb, malte die Enkelin noch ein Bild von den tanzenden Engeln. Wir brachten dieses Bild über dem Bett im Hospiz an, gemeinsam schauten wir darauf. Der Grabstein meiner Frau trägt ihren Namen, und darüber stehen im weiten Bogen die Worte: »Mit den Engeln tanzen!« Wenn ich das lese, erinnere ich mich mit großer Freude daran, wie meine Enkelin meiner Frau am Ende ihres Lebens das Fliegen und das Tanzen mit den Engeln beigebracht hat.
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Die ersten drei Erfahrungen, von denen ich hier erzählt habe, handeln von Kindern. Auch Erwachsene können sich manchmal wie Kinder verhalten – so leicht und spielerisch. Ein älterer Herr klagte in der Trauergruppe immer wieder darüber, dass er nie von seiner verstorbenen Frau geträumt habe, während doch andere von ihren Träumen berichten konnten. Eines Tages kam er voller Freude in die Gruppe: »Denkt euch, heute Nacht habe ich wirklich von ihr geträumt. Wir hatten die ganze Nacht hindurch zusammen eine Kissenschlacht. Das Schönste ist: Ich kann das auch beweisen. Als ich aufwachte, hatte ich das Kissen in der Hand, das sie mir gerade zugeworfen hatte. Was habe ich mich darüber gefreut!« Wie wunderbar ist es, wenn Erwachsene in ihren Gefühlen manchmal so wie Kinder sein können.
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Eine Witwe litt sehr unter Schuldgefühlen. Sie erzählte davon, dass sie ihren Mann in seiner schweren Krankheit bis zuletzt begleitet habe. So war sie auch am letzten Tag seines Lebens bei ihm. Sie war durch vieles Wachsein in den vorangegangenen Nächten sehr erschöpft und wollte sich in der Cafeteria der Klinik bei einem Cappuccino etwas erholen und kräftigen. Gerade in dieser Zeit starb ihr Mann. Sie könne sich das nie verzeihen, dass sie ausgerechnet in seiner Sterbezeit nicht bei ihm war, obwohl sie ihm das doch ausdrücklich versprochen hatte. In der Trauergruppe wurde sie nach längerem Zuhören und Schweigen gefragt: »Können Sie sich vorstellen, was Ihr Mann denn dazu sagen würde? Versuchen Sie das mal in Ruhe nachzufühlen.« Nach einiger Zeit antwortete sie ganz deutlich und voller Freude: »O, ich weiß ja genau, was er sagen und was er tun würde: Er würde mich einfach in den Arm nehmen, und das tut so gut.« Die Schuldgefühle sind nach dieser Erfahrung so nicht wiedergekehrt, damit musste sie sich nicht mehr weiter quälen. Dagegen erfüllt es sie immer wieder mit Freude, ihrem Mann auch nach seinem Tod in Liebe begegnen zu können.
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Eine junge Frau, die ihre Mutter verloren hatte, erzählte in der Trauergruppe für junge Erwachsene, dass sie ein großes Unglück erlebt habe. Die Teekanne, die die verstorbene Mutter ihr geschenkt habe, sei durch eine Unachtsamkeit zu Boden gefallen und zerbrochen. Dabei war ihr doch gerade diese Kanne als Erinnerung an die Mutter so wichtig. Sie hatte aber die Scherben der Kanne nicht weggeworfen, sondern sie alle aufbewahrt: In der Gruppe wurde deutlich, dass durch den Tod der Mutter vieles in ihrem eigenen Leben zerbrochen und in Scherben gegangen war. Sie kann die verschiedenen Fragmente wieder aufnehmen, sie neu zusammensetzen und mit Leben füllen. Beim nächsten Gruppentreffen erzählte sie, dass sie die größte Scherbe in eine Blumenschale verwandelt hat: »Ich habe eine blaue Iris hineingepflanzt und mich so darüber gefreut. Jetzt habe ich doch ein passendes Symbol und eine Verbindung zu meiner Mutter auch über den Tod hinaus.«
In allen diesen Erfahrungen zeigt sich, wie Kinder und Erwachsene Trauer und auch Freude erleben. Kinder teilen oft unmittelbar mit, wie ihnen innerlich zumute ist. Erwachsene verhalten sich meist kontrollierter, sie nehmen sich oft zusammen, um sich in Trauer wie in Freude nicht zu sehr gehen zu lassen. Kinder können Erwachsenen jedoch Anregungen geben, Gefühle mehr zuzulassen. Das Leitmotiv von »Trauernde Kinder Schleswig-Holstein« lautet: »Wer der Trauer...
Erscheint lt. Verlag | 13.2.2021 |
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Reihe/Serie | Fachratgeber Klett-Cotta | Fachratgeber Klett-Cotta |
Vorwort | Robert Göder, Günter H. Seidler |
Zusatzinfo | mit zahlreichen Abbildungen |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | Corona-Krise • Emotionen • Gefühle • Spielraum-Modell • Stressgeschehen bei Trauer • Tod • Trauerprozess • Trauerrituale |
ISBN-10 | 3-608-12121-8 / 3608121218 |
ISBN-13 | 978-3-608-12121-6 / 9783608121216 |
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