Fühlen lernen (eBook)
304 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12087-5 (ISBN)
Dr. Carlotta Welding, geboren 1984, studierte Linguistik in Bonn und Berlin, forschte zum Thema Gefühle und promovierte über »Gefühlsblindheit« am Exzellenzcluster der FU Berlin. Sie ist Expertin für Emotionen und verdrängte, vergessene, übersprungene, nicht gelebte Gefühle. Carlotta Welding lebt mit ihren drei Kindern und ihrem Mann in Berlin.
Dr. Carlotta Welding, geboren 1984, studierte Linguistik in Bonn und Berlin, forschte zum Thema Gefühle und promovierte über »Gefühlsblindheit« am Exzellenzcluster der FU Berlin. Sie ist Expertin für Emotionen und verdrängte, vergessene, übersprungene, nicht gelebte Gefühle. Carlotta Welding lebt mit ihren drei Kindern und ihrem Mann in Berlin.
1 Gefühle in Zeiten der Emoticons
Wie man sich aktuell fühlt, kann man seit einiger Zeit bei Facebook mit einem passenden Gefühlsbutton versehen – man kann dort also angeben, ob man gerade »fröhlich«, »zornig« oder »niedergeschlagen« ist. Inflationär ist der Gebrauch von Hashtags wie #blessed (selig) zu beobachten. Folgerichtig hat die Werbung schon längst die Bedeutung von Emotionen begriffen und setzt mittlerweile auf »emotional branding«, also auf eine Beziehung zwischen einer Marke und ihren Konsumenten, die von Emotionen geleitet ist. Es sind aber natürlich nur die positiven Gefühle, die in sozialen Netzwerken, Zeitschriften und in der Werbung dargestellt werden, denn happy und erfolgreich sein – das ist das große Ziel unserer Zeit.
Gefühle sind in aller Munde, aber viele Menschen ›fühlen‹ kaum oder gar nicht mehr richtig: Ihnen fällt es schwer, die emotionalen Signale ihres Körpers wahrzunehmen, zu deuten und sie in ihre Entscheidungen und in ihr Handeln auf angemessene Weise einzubeziehen.
So wie der Porno als eine Art Geschmacksverstärker wirkt und gleichzeitig den Geschlechtsverkehr ersetzt, scheinen Gefühle in unserer Gesellschaft nur noch gestellt, stilisiert und künstlich zu funktionieren. Weil aber Gefühle uns allzu oft fremd (geworden) sind, sind wir so versessen auf dieses Thema.
Emotionen treiben Handlungen voran. Viele Menschen aber haben verlernt, nach ihren Gefühlen zu handeln. Sie hassen ihren Job und fahren trotzdem jeden Morgen zur Arbeit. Ihre Beziehung besteht nur noch aus Streit, aber sie trennen sich nicht. Sie sehnen sich nach zwischenmenschlichem Kontakt, aber vergraben sich hinter ihren vier Wänden. Menschen in der westlichen Welt haben sich bis zu einem solchen Grad von ihren Gefühlen abgetrennt, dass sie sie nicht mehr verstehen oder sogar überhaupt nichts mehr empfinden. Wir unterdrücken negative Gefühle, lenken uns ab und streben einzig und allein nach einem oberflächlichen Gute-Laune-Gefühl. Aber ohne echte Gefühle ist keine Bindung möglich!
Fehlende emotionale Bindung führt dazu, dass immer mehr Menschen in der westlichen Welt allein leben und vereinsamen. Für dieses Phänomen prägte das medizinische Fachjournal The Lancet 2010 die Redewendung »Epidemie der Einsamkeit«. Wir sind zwar über alle Kontinente hinweg vernetzt, können uns aber an keine real vorhandene Schulter mehr anlehnen. Ob man es »Generation beziehungsunfähig« nennt oder »Hikikomori« – der vor allem in Japan zu beobachtende Trend bei jungen Männern, die sich komplett von der Außenwelt abkapseln –, eines haben diese Phänomene der heutigen Zeit gemeinsam: Enge Kontakte und feste Bindungen werden immer seltener, und damit verschwindet auch der Schutzraum im Leben eines jeden, in dem man Emotionen erzeugen, erlernen, anwenden und einüben kann.
Eine Studie[1] aus den USA zeigt, dass vor allem junge Menschen heutzutage weniger Sex haben als noch vor 30 Jahren. Die westliche Welt hat allerdings kein Problem mit Sex, aber ein Problem mit Kontakt, mit echtem zwischenmenschlichem Kontakt, mit Bindung. Das spiegelt sich auch auf freundschaftlicher Ebene wider: Während in den 1970er Jahren Teenies noch zu 52 Prozent angaben, sich fast jeden Tag mit Freunden zu treffen, taten das im Jahr 2017 nur noch 28 Prozent. Chatten ersetzt Sprechen; ein Herzchen-Emoticon ersetzt eine Umarmung und der Personal Coach, der persönliche Berater, ersetzt den besten Freund. Und so verlernen wir die Sprache der Gefühle.
Das kann uns auf Dauer krank machen: Die Quoten zu Depression, Angststörungen oder Burnout steigen von Jahr zu Jahr. Von 2007 bis 2017 ist die Zahl der Suizide bei 10- bis 24-Jährigen in den USA um 56 Prozent gestiegen. Die vielen verschiedenen Ursachen dafür sind komplex. Eine davon ist, dass viele Menschen in der westlichen Kultur den Bezug zu Emotionen verloren haben, und zwar seit ihrer Geburt.
Immer mehr junge Menschen leiden unter Vereinsamung. Dies hat nicht etwa begonnen, seit sie auf Facebook digital kommunizieren und nur noch wenigen Menschen analog begegnen. Schon Babys beginnen zu vereinsamen.
Was ich meine, wird Ihnen gleich einleuchten, wenn ich Ihnen das ideale Baby unserer westlichen Welt vorgestellt habe: Das Idealbaby kommt per Kaiserschnitt zur Welt. Die erste Person, die es sieht, ist ein Fremder, nämlich den Arzt oder die Ärztin, nicht seine eigenen Eltern. Das Idealbaby lässt sich problemlos ablegen, schläft nachts im eigenen Zimmer und benötigt keinerlei Körperkontakt zum Einschlafen. Die Flasche akzeptiert das ideale Baby; es verlangt nicht nach der Brust seiner Mutter. Bereits nach wenigen Monaten lässt sich das westliche Idealbaby tagsüber in einer Krippe betreuen und beschäftigt sich mit sich selbst und seinem Spielzeug. Ein Idealbaby ist ›pflegeleicht‹; es verlangt seinen Eltern so wenig Veränderung ihres Lebensstils wie nur möglich ab. Das ideale Baby ist also eines, das man kaum bemerkt.
In unserer westlichen Kultur ist man als Mutter dann ganz besonders anerkannt, wenn man so selten wie möglich oder gar nicht den Eindruck vermittelt, Mutter zu sein. Dabei ist der »After-Baby-Body« nur eines von vielen absurden Anzeichen für dieses Muttersein, dessen Ideal ist, nach außen nicht als Mutter erkennbar zu sein. Wenn eine Mutter exakt genauso viel arbeitet wie in der Zeit, als sie noch kein Kind hatte, dann hat sie es geschafft. Wenn sie körperlich noch genauso aussieht wie in der Zeit, als sie noch nicht schwanger war, verdient sie höchsten Respekt und Anerkennung.
Was steckt dahinter? Der Wunsch nach einem Kind, das möglichst nichts verändert, das zwar da ist, aber möglichst keine Spuren hinterlässt. Man möchte von sich sagen können, dass man Eltern ist, aber so richtig anmerken soll einem das bitte niemand. Und die Karriere darf natürlich auch nicht darunter leiden. Die paar Verrückten, die sich also überhaupt noch fortpflanzen, die erziehen ihre Kinder nicht, sondern trainieren sie dazu zu funktionieren. Und um zu funktionieren, ist es besonders praktisch, wenn einem Gefühle nicht in die Quere kommen.
Auf diese Weise aber wachsen immer mehr emotionale Analphabeten heran. Fragt man Psychologen, Therapeuten oder Coaches, was ihrer Meinung nach das verbreitetste Problem ist, das aber nicht als Problem angesehen wird, so sagen sie: Viele Menschen glauben, es sei normal, mit Gefühlen nicht umgehen zu können. Dabei wäre es allerdings sinnvoll, deswegen Hilfe aufzusuchen. Denn: Gefühle verstehen, über sie sprechen zu können und somit einen gesunden Umgang mit Gefühlen zu pflegen, lässt uns länger leben! Das ist wissenschaftlich belegt. So entdeckte man im Rahmen einer Untersuchung[2] von Menschen, die über 100 Jahre alt waren, einen Zusammenhang zwischen Langlebigkeit und der Fähigkeit, über Gefühle zu sprechen.
Emotionales Gleichgewicht verlängert aber nicht nur das Leben, es verbessert das Leben auch, denn es ist die beste Prävention vor psychischen und psychosomatischen Erkrankungen. So konnten Wissenschaftler in einer aktuellen Studie[3] mit über 6000 Teilnehmern belegen: Zwei Faktoren aus der Kindheit einer Person tragen maßgeblich dazu bei, dass im Erwachsenenalter psychische Probleme ausbleiben – 1. möglichst viele positive Kindheitserfahrungen und 2. möglichst wenige negative Kindheitserfahrungen machen.
Das klingt natürlich banal, deshalb noch einmal etwas detaillierter: Viele Eltern denken, wenn ihr Kind frei von Gewalt oder Vernachlässigung aufwächst, entspreche dies einer »glücklichen Kindheit« und führe zu psychischer Stabilität im Erwachsenenalter. Eltern konzentrieren sich meistens also zu sehr auf Punkt 2: die Vermeidung negativer Kindheitserfahrungen. Das ist zwar löblich, aber leider nicht genug. Denn Punkt 1 (möglichst viele positive Kindheitserfahrungen) muss den Autoren der Studie zufolge auch erfüllt sein, damit Depressionen und andere psychische Erkrankungen nicht entstehen. Aber was ist mit positiven Kindheitserfahrungen genau gemeint? Interessanterweise lautet der erste zur Wahl stehende Punkt: »Ich konnte mit meiner Familie über meine Gefühle sprechen.« Bei dieser Aussage aber ist eine ausreichende soziale Bindung Voraussetzung. Und schließlich beziehen sich auch die folgenden sechs Punkte der Studie auf Bindungen innerhalb der Familie oder des Freundeskreises.
Oberflächlich mag mir vermutlich die Mehrheit in der Ansicht zustimmen, dass Freunde und Familie wichtig sind – aber die Bedeutung von Gefühlen und des Sprechens über Gefühle wird dennoch unterschätzt. Wie fundamental wichtig die Fähigkeit ist,...
Erscheint lt. Verlag | 13.2.2021 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | Affekte • Alexthymie • Anleitung für den Umgang mit eigenen Gefühlen • emotionale Vereinsamung • emotionale Verkümmerung • Emotionen • Gefühle • Gefühlsblindheit |
ISBN-10 | 3-608-12087-4 / 3608120874 |
ISBN-13 | 978-3-608-12087-5 / 9783608120875 |
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