Paris denken – Penser Paris (eBook)

Deutsch-französische Annäherungen
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
309 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76935-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Paris denken – Penser Paris - Karlheinz Stierle
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In Paris kommt die Stadt zu Bewußtsein. Keine andere Stadt hat mit vergleichbarer Intensität versucht, ihre eigene Identität in der Literatur zu erfassen. In seinem neuen Buch analysiert Karlheinz Stierle neue Aspekte der Parisliteratur und schlägt dabei einen Bogen bis ins 21. Jahrhundert. Dabei geht es ihm auch um deutsch-französische Interferenzen. So macht er zum Beispiel Peter Handke als den Kolumbus der Pariser Banlieue aus, die dieser in seinem Roman Mein Jahr in der Niemandsbucht beschwört. Er fragt, ob Friedrich Schlegels Vorstellung einer grenzenlos wachsenden Universalpoesie ein Modell war für die Stadtvision Victor Hugos. Stierle erläutert, inwiefern die Begegnung mit Paris Rainer Maria Rilke erst eigentlich zu seiner eigenen dichterischen Sprache geführt hat. Und wie Walter Benjamin in seinem berühmten Passagenwerk die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts entdeckte.

<p>Karlheinz Stierle, geb. 1936, ist emeritierter Professor für Romanische Literaturen und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz sowie Honorarprofessor an der Universität des Saarlands. Neben Arbeiten zur Paris-Darstellung verfasste er unter anderemMonographien zu Dante, Petrarca und Montaigne.</p>

1 Stadtbewußtsein und Pariser Stadtdiskurs


Unter den großen Gegenständen der Philosophie fehlt die Stadt. Die Philosophen vom Fach kennen sie nicht. Wäre der Grund dafür, daß Philosophie und Stadt so eng miteinander verbunden sind, daß die Stadt sich den Meistern des Denkens durch eine zu große Nähe entzieht? Es sind vor allem die Philosophen in einem weiteren Sinn, die Denker, die Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die angesichts der Stadt ins Staunen kommen, ihr Geheimnis zu durchdringen suchen und sich bemühen, eine Sprache, einen Diskurs zu finden, um sich ihrer Beobachtungen und Reflexionen zu vergewissern. So schreibt Paul Valéry in seinem großen Essay »Pariser Gegenwarten«: »Es entsteht in mir und entmutigt mich zugleich das absurde Verlangen, Paris zu denken.«1 Aber Paris denken, die große Stadt denken, von ihr ein zureichendes Bewußtsein gewinnen, ist dies überhaupt möglich? Dem Denker, der am Morgen erwacht, erscheinen die Geräusche, das Lärmen der Stadt, wie das Tohuwabohu eines fernen Meers. Wäre ein Bewußtsein des Meers möglich? Angesichts des Meeres schweigt die Philosophie wie angesichts der großen Stadt. Aber das Unmögliche zu versuchen ist vielleicht die größte Herausforderung für das Bewußtsein.

Den Denker, der sich der »Gegenwart von Paris« ausgesetzt sieht, führen seine Beobachtungen dazu, »diese Stadt als einen Sternennebel von Ereignissen aufzufassen, der seinen Ort am äußersten Rand unserer intellektuellen Möglichkeiten hat«. (S. 1014) Die Gegenwart von Paris zu denken, heißt, Paris zu Bewußtsein zu bringen. Vor dieser unmöglichen Aufgabe wendet das Bewußtsein sich auf sich selbst zurück und begreift sich im Bild der Stadt, die sein Objekt war. Die Gegenwart von Paris wird zum Bild des sich selbst reflektierenden Bewußtsein[s]«: »Paris denken? … Je mehr man darüber nachdenkt, desto mehr fühlt man sich, ganz im Gegenteil, von Paris gedacht.« (S. 1015)

Paul Valéry ist ein überraschter Denker der Stadt, er verfällt vor ihr ins Staunen, als ob er als erster die Notwendigkeit empfunden hätte, Paris zu Bewußtsein zu bringen. Es ist jedoch Valéry, dem wir eine Einsicht in den Anfangspunkt des großen Projekts verdanken, die Stadt sich ihrer selbst bewußt werden zu lassen. In seinem Essay »Die Rückkehr aus Holland«2 erinnert er an den Brief vom 5. Mai 1631, den René Descartes an Guez de Balzac schrieb, um ihn zu einem Besuch von Amsterdam einzuladen. Der ländlichen Einsamkeit, in die Balzac sich zurückgezogen hatte, um sich den mühseligen Verpflichtungen des Hofs zu entziehen, stellt Descartes die Einsamkeit seines eigenen Lebens entgegen. Er rühmt ihm die Vorzüge einer großen, freien und handeltreibenden Stadt, in der er sich bewegt, als einsame und unabhängige Seele unter so vielen geschäftigen Menschen, denen er absolut unbekannt ist: »Und in dieser großen Stadt, in der ich mich aufhalte und in der es keinen Menschen außer mir selbst gibt, der nicht den Kaufmannsberuf ausübt, ist jeder so sehr mit seinen eigenen Plänen beschäftigt, daß ich hier mein ganzes Leben zubringen könnte, ohne jemals von irgendeinem Menschen wahrgenommen zu werden. Ich ginge jeden Tag inmitten des Durcheinanders einer großen Menge mit ebenso viel Freiheit und Ruhe spazieren, als Sie dieses in Ihren Alleen tun könnten.«3 Gegen das Horazische »scriptorum chorus omnis amat nemus et fugit urbem« (der ganze Chor der Dichter liebt die Wälder und flieht die Stadt) stimmt Descartes hier das Lob der modernen kosmopolitischen Stadt mit ihrer bürgerlichen Freiheit an. Wie der Sokrates des Dialogs Eupalinos von Valéry, der einen Augenblick zwischen dem Konstruieren und dem Erkennen schwankt, scheint Descartes hier am Rand eines neuen Stadtbewußtseins zu stehen, bevor er sich jenem Bewußtsein seiner selbst zuwendet, das das unerschütterliche Fundament, das »fundamentum inconcussum« seiner neuen Philosophie des Bewußtseins werden wird, die sein Discours de la méthode (Abhandlung über die Methode, 1637) begründet.

Es sollte weitere 40 Jahre dauern, bevor auf den Philosophen in der Stadt jener Schriftsteller folgte, den man zu Recht den ersten Philosophen der Stadt nennen könnte. Jean de La Bruyère ist der wahre Begründer eines Diskurses der Stadt, der die neue Erfahrung der großen Stadt und der »Sitten dieses Zeitalters« verkörpert. Vor seine Übersetzung der Charaktere des griechischen Naturforschers und Philosophen Theophrast, eines unmittelbaren Schülers des Aristoteles, die seinen eigenen Charakteren vorausgeht4, stellt La Bruyère eine Rede auf Theophrast, die im wesentlichen ein Vergleich ist zwischen dem alten Athen und dem gegenwärtigen Paris, zwischen den einfachen Sitten des klassischen Athen und dem Paris »dieses Jahrhunderts«.5 Hinter der Beschreibung der Sitten erscheint jedesmal das, was man den Geist der Stadt nennen könnte. Vermittels der Charaktere Theophrasts gewinnt La Bruyère eine Vorstellung vom Geist des alten Athen. In Wirklichkeit aber ist dieses Athen nichts anderes als eine Negation des Paris seiner Zeit.

Was wird von Paris übrigbleiben in einer Zukunft, die unserer Gegenwart so fern ist wie die unsere von der des antiken Athen? Verglichen mit diesem Athen fehlt Paris alles, was den Zauber einer demokratischen Stadt ausmacht: »Man wird von der Hauptstadt eines großen Königreichs berichten, wo es keine öffentlichen Plätze, keine Bäder, weder Brunnen noch Amphitheater, noch Galerien, noch Triumphbögen, noch Spazierwege gab und die gleichwohl eine wundervolle Stadt war.« (S. 11) Das Volk fehlt in dieser glänzenden Hauptstadt: »Man wird erfahren, daß das Volk in dieser Stadt nur erschien, um vorüberzustürzen: keine Unterhaltung, keine nachbarliche Nähe, alles war abweisend und wie vom Lärm der Kutschen aufgeschreckt, die es zu vermeiden galt.« (a. ‌a. ‌O.) Dem einfachen Leben der Athener, die wie die ersten Menschen »groß sind durch sich selbst und unabhängig von den tausend äußerlichen Dingen, die seither erfunden wurden, um vielleicht jene wahre Größe zu ersetzen, die es nicht mehr gibt« (S. 12), kontrastiert Paris als Stadt der »tausend äußerlichen Dinge«, die nur als Supplemente fungieren. Es scheint so, als ob die Theorie Rousseaus von der Ungleichheit unter den Menschen, bei der das Supplement zum Instrument einer Kultur wird, die sich mehr und mehr von der Natur entfernt, hier seinen Anfangspunkt hat. Während Paris eine Stadt der durch die Kutsche, dem Statussymbol par excellence, beschleunigten Kommunikation ist, ist Athen eine einfache und egalitäre Stadt, in der die Bürger noch zu Fuß gehen: »Athen war frei, es war die Mitte einer Republik, seine Bürger waren gleich. Sie erröteten nicht voreinander, sie gingen fast unbegleitet und zu Fuß in einer sauberen, friedlichen und geräumigen Stadt.« (S. 13)

Die Sprache der Athener, vervollkommnet durch die Urbanität des gewöhnlichen Zusammenlebens, ist bewundernswert in ihrer Einfachheit. Theophrast, der kein Athener von Geburt war, bedient sich ihrer mit Eleganz. Dennoch bekennt La Bruyère seine Unfähigkeit, ihm nachzueifern. Er befindet sich in einem Dilemma. Er würde gern wie Theophrast ein naives Bild des Paris seiner Zeit wiedergeben, aber um ein getreues Bild von ihm zu malen, genügt eine Darstellung nicht, die sich auf »jene simple Figur reduzieren läßt, die man Beschreibung oder Aufzählung nennt«. (S. 14) Es bedarf vielfältiger und komplexer Darstellungsformen, um das Leben des neuen Athen mit seinen »tausend äußerlichen Dingen« darzustellen, die ihm wesentlich zugehören. La Bruyère rühmt an den Reflexionen oder Sentenzen und moralischen Maximen des Duc de La Rochefoucauld (1665), daß sein einziger Gedanke, jener der triumphierenden Eigenliebe, »wie in tausend unterschiedlichen Aspekten vervielfältigt, durch die Wahl der Wörter und die Vielfalt der Ausdrucksweisen stets die Grazie der Neuheit hat«. (S. 15) Auch La Bruyère sucht den Charme der Neuigkeit, indem er auf immer neue Weise die tausend äußerlichen Dinge vergegenwärtigt, in denen sich der Geist der Stadt im Gegensatz zum Geist des Hofs bekundet. Es geht nicht darum, einfach zu beschreiben ...

Erscheint lt. Verlag 15.2.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Teilgebiete der Geschichte Kulturgeschichte
Schlagworte Deutsch-französische Beziehungen • Frankreich • Französische Literatur • Honoré de Balzac • Paris • Peter Handke • Rainer Maria Rilke • Romanistik • ST 5087 • ST5087 • suhrkamp taschenbuch 5087 • Walter Benjamin
ISBN-10 3-518-76935-9 / 3518769359
ISBN-13 978-3-518-76935-5 / 9783518769355
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