Erlöse mich von dem Bösen (eBook)

Meine Kindheit im Dienste der Zeugen Jehovas

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
254 Seiten
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
978-3-7517-0419-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Erlöse mich von dem Bösen -  Sophie Jones
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Was tust du, wenn dein ganzes Leben vorherbestimmt ist? Wenn man von dir erwartet, jemand zu sein, der du nicht bist?

Mein ganzes Leben spielte ich eine Rolle. Ich versuchte, die perfekte Christin zu sein. Feierte keine Geburtstage oder Weihnachten, ging stattdessen von Tür zu Tür und predigte den Weltuntergang. Mein ganzes Leben drehte sich um meinen Glauben. Ich wäre für Gott gestorben. Der jahrelange Psychoterror, die Manipulation und meine eigene Mutter, die mich mit aller Gewalt vor dem Teufel und seinen Dämone schützen wollte, trieben mich fast in den Selbstmord. Nachdem ich meinen geliebten Vater ächten musste, begann ich ein Doppelleben zu führen. Ich wachte langsam auf und erkannte, dass ich meine Rettung selbst in die Hand nehmen und für meine Freiheit kämpfen muss.

ZERSTÖRTES PÜPPCHEN


Im Laufe des dritten Schuljahres zog eine Freundin meiner Mutter bei uns ein. Marianne war eine Glaubensschwester aus Norddeutschland. Sie war Mitte vierzig und ebenfalls von ihrem Mann getrennt, der genau wie mein Vater auch ein Ausgeschlossener war. Sie selbst hatte eine erwachsene Tochter und wollte meiner Mutter bei meiner Erziehung helfen. Marianne hatte langes, lockiges Haar, das sie meist zu einem Zopf gebunden trug, und eine unangenehm laute, fistelnde Stimme. Sie war umhüllt von einem beißenden, stechenden Geruch, der wohl ihr Parfum sein sollte. Ihre Kleidung war eher bäuerlich und maskulin, was zu ihrer herrischen Art passte. Marianne strafte mich des Öfteren mit einem strengen Blick, wenn ich nicht gehorchte, und versorgte meine Mutter mit Erziehungsratschlägen. Es dauerte nicht lange, und ich fühlte mich von ihr dauernd bevormundet und gemaßregelt. Bald schon fürchtete ich mich vor ihr. Fast jeden Abend las sie mir aus demselben Buch vor. Ich werde es nie vergessen. Es hieß Allein vor dem Löwen. Ein kleines Mädchen widersteht dem NS-Regime und handelt von einem Zeugen-Jehovas-Mädchen während der Hitlerzeit.

Diese Autobiografie sollte mir Mut machen und zeigen, dass man sich nicht für seinen Glauben schämen und dass man trotz schrecklichster Umstände Jehova Gott immer an die erste Stelle im Leben setzen und an seinen Geboten festhalten sollte. Die Eltern und das Kind, das Simone hieß, widersetzten sich den Nazis und ihren »Rassengesetzen«, dem Treueschwur auf Hitler und der Pflicht, für Deutschland in den Krieg zu ziehen. Tausende deutsche Zeugen Jehovas, damals bekannt als Bibelforscher, wurden eingesperrt, und einige von ihnen kamen in Konzentrationslager. Simones Vater wurde ebenfalls festgenommen und in ein KZ gebracht. Sie stand weiterhin unter Druck, sich dem Schulsystem anzupassen, und als sie sich weigerte, wurde sie in eine Erziehungsanstalt gebracht. Kurz darauf wurde ihre Mutter ebenfalls in ein Konzentrationslager abtransportiert. Simones Alltag in der Erziehungsanstalt bestand aus Zwangsarbeit, Unterernährung und furchtbaren Bestrafungen, mit dem Ziel, ihren Willen zu brechen und sie zu zwingen, ihren Glauben aufzugeben.

Die Geschichte dieses Mädchens verstörte mich nur. Sie sollte mir als Vorbild dienen, da Simone so treu für ihren Glauben gekämpft hatte. Aber das Einzige, was sich in mir regte, war ein schlechtes Gewissen. Wie konnte ich im Gegensatz zu diesem heroischen Mädchen, das allem getrotzt hatte, noch mit meinem bösen abtrünnigen Vater Kontakt haben und in der Schule bei satanistischen Filmen und Serien mitreden wollen? Ich war eine Enttäuschung für Gott.

Während Marianne mir diese furchtbaren Dinge vorlas, musste ich oft weinen. Die Bilder, die beim Zuhören in meinem Kopf entstanden, waren zu schrecklich. Ich wollte all das nicht mehr hören. Eines Abends wehrte ich mich endlich.

»Ich will nicht mehr, dass du mir die Geschichte vorliest. Es ist so grausam«, sagte ich, als Marianne sich auf mein Bett setzte und das Buch an der Stelle aufschlug, bei der sie den Abend zuvor das Lesezeichen hineingesteckt hatte.

Darauf erwiderte Marianne, dass ich mir ein Beispiel an dem Mädchen nehmen solle. Sie erklärte mir, dass Simone Jehova immer untertan und sogar bereit war, für ihn zu sterben. Ich solle dankbar sein, dass es mir so gut gehen und ich nicht in solch einer Erziehungsanstalt sei.

»Das bin ich auch, aber ich will, dass du was anderes vorliest.«

Aber Marianne wies mich erneut zurecht. Ich solle meiner Mutter besser gehorchen, sie mehr ehren und mich von meinem Vater fernhalten. Das hätte die treue Simone jedenfalls getan. Sie habe nicht daran gedacht, was sie selbst wolle, sondern, wie sie für Jehova selbstlos Opfer bringen könne. Ich solle auch nicht versuchen, mit meinen ungläubigen Klassenkameraden mitzuhalten und befreundet sein zu wollen, denn sie erfüllten nicht Gottes Willen. Danach schlug sie das Buch auf und setzte ihr Vorlesen fort.

Als ich kurz darauf wieder einmal ungehorsam war, nahm sie meiner Mutter die Bürde ab, mir den Hintern zu versohlen, und tat es selbst. Gute Freundin. Die beiden Frauen bildeten eine mir haushoch überlegene Allianz und straften mich hart für meinen kindlichen Übermut. Wenn ich nicht mit in die Zusammenkünfte wollte, hieß es: »Keine Widerrede«, und wenn ich während der Versammlung herumzappelte, ging meine Mutter mit mir in den Nebenraum, in die zweite Klasse, um mich zu strafen. Die Geräusche drangen bis nach draußen, und ich schämte mich dafür, dass es die anderen aus der Versammlung mitbekamen. Also versuchte ich, gehorsam und ruhig zu sein, damit mir weitere Peinlichkeiten erspart blieben. Ich sehnte mich nach meinem Vater, er hatte mich nie so behandelt, war immer großzügig gewesen und mein Ruhepol in stressigen Zeiten. Umso schlimmer war es für mich, dass er für alle als schlechter Umgang galt und meine Mutter in der Versammlung über ihn herzog.

Auch ohne ihre negativen Bemerkungen fand ich die Versammlungen nervig. Die Zusammenkünfte waren eine Art Gottesdienst, bei denen man zuerst ein Lied sang und betete. Anschließend wurden verschiedene Programmpunkte behandelt, aus der Bibel vorgelesen, hinterher sprach man darüber, wie man das Gelesene im eigenen Alltag umsetzen und wie man sich von der Bibel leiten lassen konnte.

Es war wieder Winter gewesen, als es in unserer Zusammenkunft darum ging, dass man sich immer gut kleiden solle und wie wichtig es doch sei, auf das äußere Erscheinungsbild zu achten.

»Warum legen wir so großen Wert auf unsere Kleidung?«, fragte der Redner.

»Unsere Kleidung verrät Achtung vor Gott«, kam eine Meldung aus der Runde. »Uns ist bewusst, dass für Jehova Äußerlichkeiten nicht ausschlaggebend sind. Doch wenn wir uns versammeln, um ihn anzubeten, liegt es uns am Herzen, durch unsere Kleidung Achtung vor unserem Gott und unseren Glaubensbrüdern zu zeigen. Wäre man vor Gericht geladen, würde man dort wahrscheinlich auch gepflegt erscheinen wollen. Jehova ist der Richter der ganzen Erde. Durch die Art und Weise, wie wir uns bei unseren Zusammenkünften kleiden, beweisen wir, dass wir ihn und unsere Anbetungsstätte sehr schätzen.«

Eine Schwester hob die Hand und sagte, als man ihr das Mikrofon brachte: »Die Bibel fordert uns Frauen auf, uns mit Bescheidenheit zu kleiden. Wir sollen uns nicht mit aufwendigem Flechten der Haare und mit Gold oder Perlen oder sehr kostspieligen Gewändern schmücken. Das steht in 1. Timotheus 2:9.« Sie gab das Mikrofon wieder zurück an den Mikrofondiener. Es klang sehr einstudiert.

Der Redner auf der Bühne ergriff wieder das Wort: »Das stimmt. Bescheidenheit bedeutet, sich nicht so anzuziehen, dass man durch auffällige, aufreizende oder enthüllende Kleidung alle Blicke auf sich zieht. Und gutes Urteilsvermögen hilft dabei, ansprechende Kleidung zu finden, die weder schlampig noch extravagant wirkt. Diese Grundsätze erlauben eine Menge Spielraum. Ein gepflegtes, geschmackvolles Äußeres kann ohne ein Wort Gott verherrlichen. Unser Erscheinungsbild bei unseren Zusammenkünften hat zudem Einfluss darauf, welches Bild andere von uns als Zeugen Jehovas haben.«

Auch meine Mutter hatte darauf bestanden, dass ich zu den Zusammenkünften Rock und Bluse und wie jetzt im Winter darüber einen Pullover trug und dass meine dunkelblonden Haare ordentlich frisiert waren. Die anwesenden Jungs hatten Hemden an, um ihre Hälse schlangen sich Krawatten. Einige Kinder schien ihr Kleidungsstil nicht sonderlich zu stören, aber anderen sah man an, dass es ihnen lästig war und sie viel lieber in T-Shirts und Jeans gekommen oder am besten gleich zu Hause geblieben wären, um zu spielen, statt hier artig herumzusitzen und sich zu langweilen. Ich sah aus dem Fenster, wie im Wind kleine Schneeflocken tanzten und langsam auf die Autodächer vor dem Königreichssaal fielen. Ich liebte es, im Winter draußen zu spielen und aus den links und rechts an den Straßenrändern aufgetürmten Schneebergen kleine Schlösser zu bauen. Ich dachte an meinen Vater und daran, wie er die lange, zugefrorene Einfahrt vor unserem Haus von der dicken Eisschicht befreien musste, da er sonst mit seinen Baufahrzeugen nicht in die Garagen kam. Aus den auf einen Haufen geräumten Eisplatten hatten wir mir manchmal gemeinsam ein Eisschloss errichtet.

Das war eine von vielen Zusammenkünften, bei denen ich mich in Tagträume flüchtete, damit die Zeit schneller verging, und am Ende konnte ich mich kaum noch erinnern, was sonst noch besprochen wurde. Obwohl ich kein Weihnachten feierte, gefiel es mir in der Schule besser als in den Zusammenkünften.

In unserem Klassenzimmer war es fast so gemütlich wie bei meiner Balloma. Das Potpourri auf dem Tisch der Lehrerin erfüllte den Raum mit einem angenehmen Duft nach Apfel und Zimt. Wenn der Unterricht begann, war es draußen noch dunkel. Kam unsere Klassenlehrerin in den Raum, zündeten wir unsere mitgebrachten Teelichter an, die wir in selbst gebastelte Pappschablonen stellten, in die wir mit der Schere Muster geschnitten und diese mit rotem Papier überklebt hatten. Aufregende Schatten tanzten auf unseren Tischen. Der ganze Raum war in ein orangefarbenes Licht getaucht, und von draußen durch die Fenster schien nur ein mattes Dunkelblau. Unsere Lehrerin betätigte danach den CD-Player, und jeden Tag sangen wir zuerst ein Lied. Ich hoffte immer, dass es ein Lied über Winter und Schneemänner war, denn die konnte ich aus vollem Halse mitsingen. Kam in einem Lied das Wort »Weihnachten« vor, sang ich nicht mit, sondern summte bloß vor mich hin und schaute nach unten auf den Boden. Es war mir...

Erscheint lt. Verlag 26.3.2021
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Geisteswissenschaften Religion / Theologie Christentum
Schlagworte 20. - 21. Jahrhundert • Ausstieg • Autobiografie • Autobiographien • Beten • Deutschland • Familie • Flucht • Glaube • Gott • Lebensbericht • Leipziger Tieflandsbucht • Machtmissbrauch • Memoir • Missionieren • Mittelfranken • Neues Leben • Oliver Pocher • Religion • Romane • Schicksal • Schicksale und Wendepunkte • Schicksalsschlag • Seelischer Missbrauch • Sekte • Taufe • unterdrückt • Wachturm • Zeugen Jehovas
ISBN-10 3-7517-0419-1 / 3751704191
ISBN-13 978-3-7517-0419-9 / 9783751704199
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