Bewegung und psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen (eBook)
476 Seiten
Schattauer (Verlag)
978-3-608-12061-5 (ISBN)
Till Thimme, Dr. rer. medic., Sportwissenschaftler, Systemischer Familientherapeut (SG). Lehr- und Forschungstätigkeiten im Bereich Bewegungstherapie mit psychisch erkrankten Kindern und Jugendlichen. Fachliche Leitung der Bewegungs-, Sport- und Körpertherapie der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der LVR-Klinik Bonn.
Till Thimme, Dr. rer. medic., Sportwissenschaftler, Systemischer Familientherapeut (SG). Lehr- und Forschungstätigkeiten im Bereich Bewegungstherapie mit psychisch erkrankten Kindern und Jugendlichen. Fachliche Leitung der Bewegungs-, Sport- und Körpertherapie der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der LVR-Klinik Bonn.
Einstimmung
In der Einstimmung werden zunächst uns wichtig erscheinende fachliche Aspekte, die mit zum Entstehen dieses Lehrbuchs geführt haben, in einen größeren gesundheitspolitischen und wissenschaftlichen Zusammenhang gestellt. Des Weiteren werden wir – ausgehend von einer Definition der Bewegungstherapie aus der Zeit ihrer umfassenderen Etablierung im Gesundheitssystem vor über 50 Jahren – die inhaltlichen Schwerpunkte des Lehrbuchs erläutern. Hierzu gehört auch eine eigene Definition am Ende des ersten Kapitels.
Seit über 40 Jahren haben sich Praxis, Ausbildung und wissenschaftliche Erkenntnisse zur Prävention und Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen durch das »Heilmittel« Bewegung kontinuierlich weiterentwickelt. Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass Personen mit unterschiedlichem professionellen Hintergrund in diesem Teilbereich der klinischen und außerklinischen Versorgung beschäftigt werden. Allerdings ist eine intensive fachwissenschaftliche Auseinandersetzung einer Bewegungstherapie, die über funktionelle Aspekte hinausgeht, in der Sportwissenschaft kaum und in der Medizin nur in Ansätzen festzustellen. Indikatoren für diese Einschätzung sind u. a. eine geringe Berücksichtigung dieser Thematik in den einschlägigen Lehrbüchern und Fachzeitschriften sowie in den meisten Leitlinien zu psychischen Erkrankungen und uneinheitliche Einstellungsstandards für qualifiziertes Fachpersonal in den klinischen Einrichtungen.
Daher ist es am Ende des zweiten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts mehr denn je notwendig, die Bedeutung und Tragweite eines bewegungsorientierten präventiven und therapeutischen Vorgehens bei psychischen Erkrankungen deutlich zu machen. Wir wählen hier als Benennung – in Anlehnung an die international gebräuchliche Terminologie – zunächst als neutralen Leitbegriff Bewegungsaktivitäten (physical activity), werden uns aber in einem eigenen Kapitel ausführlicher mit der Vielfalt körper- und bewegungsorientierter Verfahren auseinandersetzen und hierzu eine eigene inhaltliche Position formulieren.
In der folgenden Argumentation orientieren wir uns in den Grundzügen an mehreren neueren englischsprachigen Publikationen sowie an einer aktuellen deutschsprachigen psychiatriekritischen Position (Ekkekakis & Cook 2013; Faulkner & Duncan 2017; Weinmann 2019).
Erstens: In allen westlichen Industrieländern ist eine erhebliche Zunahme von psychischen Erkrankungen zu beobachten. Demnach leiden in der EU mehr als 38 % der Bevölkerung unter psychischen Erkrankungen. Dieser erhebliche Anteil bezieht sich auf psychische Erkrankungen im engeren Sinne, also affektive Störungen, Angststörungen, Persönlichkeitsstörungen und Psychosen, wie auch auf damit zusammenhängende Komorbiditäten (Jacobi et al. 2014). Für das Jahr 2030 wird prognostiziert, dass unipolare Depressionen, Suchtmittelerkrankungen sowie Demenz zu den zehn Erkrankungen gehören werden, die weltweit den DALY-Index (Disability Adjusted Life Years) sowie die Global Burden of disease (GBD) am meisten bestimmen werden (The Lancet 2017). Die umfangreichen Gesundheitsreports der Krankenkassen in Deutschland (DAK 2015; Knieps & Pfaff 2015) bestätigen diese Entwicklung. Der Anstieg von psychischen Erkrankungen und Störungen lässt sich bei Erwachsenen sowie bei Kindern und Jugendlichen gleichermaßen beobachten (Barkmann & Schulte-Markwort 2012). Davon werden von den diagnostizierten psychischen Erkrankungen nur maximal die Hälfte behandelt (VDR 2002, 2006; Wittchen & Jacobi 2001). Es wird bei diesen Prognosen weniger thematisiert, dass die Zuschreibung von Störungen mit Krankheitswert und der Zugang zu Behandlungen u. a. entscheidend von den herrschenden gesellschaftlichen Normvorstellungen sowie von einer Sensibilität und Aufmerksamkeit für psychische Auffälligkeiten abhängen. Zusätzlich sind hierfür eine sach- und adressatengerechte Diagnostik, der soziale Status, die regionalen Gegebenheiten und die Zugehörigkeit zu bestimmten ethnischen Gruppen von Bedeutung. Bezogen auf Kinder und Jugendliche, bekommen die begrenzten Zugangsmöglichkeiten zu Behandlungen eine zusätzliche Brisanz, da ca. 50 % der psychischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter beginnen, aber nicht erkannt und behandelt werden, wobei von einer großen Dunkelziffer auszugehen ist. In den neueren Kinder- und Jugendstudien in Deutschland wird von einer Prävalenzrate von ca. 20 % von behandlungsbedürftigen Kindern und Jugendlichen mit psychischen Störungen ausgegangen (u. a. Shell-Studie von Albert et al. 2019). Dieser Prozentanteil hat sich in den letzten Jahrzehnten allerdings kaum verändert (vgl. Harnack 1958).
In diesem Zusammenhang wird wiederholt auf die Fragwürdigkeit der zugrunde liegenden Zuschreibungen hingewiesen. »Abweichungen«, »Störungen« oder »Auffälligkeiten« liegen Normen zugrunde, die »weder vom statistischen noch vom klinischen Standpunkt her eine allgemeine Definition von Normalität oder geistiger Gesundheit [erlauben] (…). (…) Übereinstimmung gibt es nur über Extreme, nicht über Bereiche des Übergangs oder des Umschlagpunkts« (Redlich 1967, zit. nach Bittner et al. 1971, S. 15 f.). Aktuell hat Weinmann (2019) diese Problematik mit dem provozierenden Untertitel seines Buchs »Täuschung und Selbsttäuschung eines Fachgebiets« für die Psychiatrie genauer bearbeitet. Dabei hat er neben den vorschnellen und zweifelhaften Zuschreibungen von psychischen Erkrankungen den Biologismus bei den Ursachenerklärungen und auch die Datenmanipulation zu der Anwendung von Psychopharmaka, geleitet von Profitinteressen, präzise unter die Lupe genommen. Ähnlich wie andere Autoren mündet seine Kritik in einem Plädoyer für eine stärkere Beachtung von psychosozialen Determinanten und einer Betreuung auf der Ebene der Gemeinde (vgl. Krisor 2005). Das hier vorliegende Lehrbuch folgt zwar in weiten Teilen dem psychiatrischen »Mainstream«, allerdings ist die psychosoziale Komponente ein unverzichtbarer Bestandteil bewegungs-, spiel- und sportorientierter Interventionsformen, und dies machen wir an unterschiedlichen Stellen deutlich.
Die gesellschaftlichen Kosten, die mit psychischen Erkrankungen verbunden sind, spiegeln sich zum einen in den direkten Behandlungskosten wider, zum anderen aber auch in den erheblichen indirekten Kosten, bei Erwachsenen u. a. durch den hohen Anteil von Arbeitsausfallzeiten und Frühberentungen. Für Kinder und Jugendliche bestehen diese indirekten Kosten aus der Notwendigkeit zu besonderen »exklusiven« pädagogischen Betreuungsangeboten in Förderschulen oder in ambulanten Therapien sowie aus längerfristigen Kosten, wie bei Abbrüchen in Bildungsgängen. Insgesamt sind diese Kosten in den letzten zehn Jahren fast um ein Drittel gestiegen, verbunden mit erheblichen Konsequenzen für die Versicherungs- und Versorgungssysteme. Diese Tatsache führt zu einem zweiten Argument bzw. – präziser – zu einer Grundsatzfrage.
Zweitens: Müsste nicht auf der Basis dieser Fakten ein »Paradigmenwechsel«, also eine grundsätzlichere Veränderung und kritische Überprüfung der bisherigen gesellschaftlichen Reaktion im Umgang mit der Behandlung von psychischen Erkrankungen in Erwägung gezogen werden?
Zur Beantwortung dieser Frage beschränken wir uns hier auf Adressaten mit psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter und auf eine kritische Betrachtung der bisher üblichen Behandlungsverfahren, wie Psychotherapie und Pharmakotherapie. Im klinischen Rahmen wird diese Standardbehandlung meistens durch eine Reihe fachtherapeutischer Verfahren erweitert, etwa die Ergo-, Musik-, Kunst- und Bewegungstherapie. Hinzu kommt die Unterstützung durch den Sozialdienst und in die Klinik integrierte Bildungsangebote.
In Bezug auf die Wirksamkeit von Psychotherapie und Pharmakotherapie sind in den letzten Jahren die kritischen Stimmen zu der spezifischen Wirksamkeit dieser beiden Interventionsformen lauter geworden. Bei einer genauen Untersuchung von Interventionsstudien zur Psychotherapie zeigte sich, dass der Varianzanteil von...
Erscheint lt. Verlag | 18.1.2021 |
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Zusatzinfo | mit zahlreichen Abbildungen und Tabellen |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Allgemeine Psychologie |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | Akrobatik • ängste kinder • Angststörungen Kinder und Jugendliche • Anorexie • Asperger Kind " • Autismus Kind • Autismus-Spektrum-Störungen • Bewegung Jugendliche • Bewegung Kinder • Bewegung Kinder und Jugendliche • "Bewegungstherapie • bewegung und gesundheit • BWT • Depressionen bei Kindern • Depression Jugendlicher • Depressive Störungen Kinder und Jugendliche • Erlebnispädagogik • Essstörungen Kinder und Jugendliche • Hyperkinetische Störungen • Kampfsport Kinder und Jugendliche • Kinderängste • Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie • KJP • Magersucht • psychische Gesundheit Kinder • Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter • Resilienz • Salutogenese • Schizophrenie Kinder und Jugendliche • Sport in Förderschulen • Sport Kinder • Störungen des Sozialverhaltens Kinder und Jugendliche • Substanzmissbrauch Kinder und Jugendliche • Zirzensik |
ISBN-10 | 3-608-12061-0 / 3608120610 |
ISBN-13 | 978-3-608-12061-5 / 9783608120615 |
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Größe: 5,6 MB
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