Undinge (eBook)

Umbrüche der Lebenswelt
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
128 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2539-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Undinge -  Byung-Chul Han
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Minima Moralia der Informationsgesellschaft  Heute bewohnen wir nicht mehr Erde und Himmel, sondern Google Earth und Cloud. Informationen beherrschen unsere Lebenswelt. Wir berauschen uns regelrecht an Kommunikation. Byung-Chul Hans Kritik der Informationsgesellschaft klärt uns über die Folgen unseres Informations- und Kommunikationsrausches auf. Schon vor Jahrzehnten stellte der Medientheoretiker Vilém Flusser fest: »Undinge dringen gegenwärtig von allen Seiten in unsere Umwelt, und sie verdrängen die Dinge. Man nennt diese Undinge Informationen.« Die Dinge rücken heute immer mehr in den Hintergrund der Aufmerksamkeit. Die Welt als Infosphäre überlagert die Welt als Dingsphäre. Der Übergang vom Ding zum Unding verändert massiv unsere Wahrnehmung und Weltbeziehung. Byung-Chul Hans neuer Essay kreist um Dinge und Undinge. Er entwickelt sowohl eine Philosophie des Smartphones als auch eine Kritik der Künstlichen Intelligenz aus ungewohnter Perspektive. Gleichzeitig wendet er sich der Magie der Dinge zu und reflektiert über die Stille, die im Informationslärm verlorengeht.

Byung-Chul Han, geboren 1959, studierte in Freiburg im Breisgau und in München Philosophie, deutsche Literatur und katholische Theologie. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, darunter Müdigkeitsgesellschaft, Transparenzgesellschaft, Die Errettung des Schönen, Psychopolitik und Die Austreibung des Anderen. Bei Ullstein sind erschienen: Lob der Erde, Vom Verschwinden der Rituale sowie Undinge. Seine Bücher wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.

Byung-Chul Han, geboren 1959, studierte in Freiburg im Breisgau und in München Philosophie, deutsche Literatur und katholische Theologie. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, darunter "Müdigkeitsgesellschaft", "Transparenzgesellschaft" , "Die Errettung des Schönen", "Psychopolitik" und "Die Austreibung des Anderen".

Vom Ding zum Unding


Die terrane Ordnung, die Ordnung der Erde, besteht aus Dingen, die eine dauerhafte Form annehmen und eine stabile Umgebung für das Wohnen bilden. Sie sind jene »Weltdinge« im Sinne von Hannah Arendt, denen die Aufgabe zukommt, »menschliches Leben zu stabilisieren«.1 Sie geben ihm einen Halt. Die terrane Ordnung wird heute durch die digitale Ordnung abgelöst. Die digitale Ordnung entdinglicht die Welt, indem sie sie informatisiert. Schon vor Jahrzehnten bemerkte der Medientheoretiker Vilém Flusser: »Undinge dringen gegenwärtig von allen Seiten in unsere Umwelt, und sie verdrängen die Dinge. Man nennt diese Undinge Informationen.«2 Wir befinden uns heute im Übergang vom Zeitalter der Dinge zum Zeitalter der Undinge. Nicht Dinge, sondern Informationen bestimmen die Lebenswelt. Wir bewohnen nicht mehr Erde und Himmel, sondern Google Earth und Cloud. Die Welt wird zusehends unfassbarer, wolkiger und gespenstischer. Nichts ist hand- und dingfest.

Die Dinge stabilisieren insofern menschliches Leben, als sie ihm eine Kontinuität verleihen, die »sich daraus herleitet, dass der gleiche Stuhl und der gleiche Tisch den jeden Tag veränderten Menschen mit gleichbleibender Vertrautheit entgegenstehen«.3 Dinge sind Ruhepole des Lebens. Sie sind heute gänzlich von Informationen überlagert. Informationen sind alles andere als Ruhepole des Lebens. Es ist nicht möglich, bei Informationen zu verweilen. Sie haben eine sehr schmale Aktualitätsspanne. Sie leben vom Reiz der Überraschung. Schon aufgrund ihrer Flüchtigkeit destabilisieren sie das Leben. Unsere Aufmerksamkeit wird heute von ihnen permanent in Anspruch genommen. Der Tsunami der Information versetzt das kognitive System selbst in Unruhe. Informationen sind keine stabile Einheit. Ihnen fehlt die Festigkeit des Seins. Niklas Luhmann charakterisiert die Information wie folgt: »Ihre Kosmologie ist eine Kosmologie nicht des Seins, sondern der Kontingenz.«4

Die Dinge rücken heute immer mehr in den Hintergrund der Aufmerksamkeit.5 Die gegenwärtige Hyperinflation der Dinge, die zu deren explosiver Vermehrung führt, deutet gerade auf die zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber den Dingen hin. Unsere Obsession gilt nicht mehr den Dingen, sondern Informationen und Daten. Wir produzieren und konsumieren inzwischen mehr Informationen als Dinge. Wir berauschen uns regelrecht an Kommunikation. Libidinöse Energien wenden sich von den Dingen ab und besetzen Undinge. Infomanie ist die Folge. Wir sind inzwischen alle infoman. Vorbei ist es wohl mit dem Dingfetischismus. Wir werden zu Informations- und Datenfetischisten. Inzwischen ist sogar von »Datasexuals« die Rede.

Die industrielle Revolution verfestigt und erweitert die Dingsphäre. Sie entfernt uns nur von Natur und Handwerk. Erst die Digitalisierung beendet das Ding-Paradigma. Sie unterwirft die Dinge den Informationen. Hardwares sind devote Unterlagen der Softwares. Sie sind sekundär gegenüber Informationen. Ihre Miniaturisierung lässt sie immer weiter schrumpfen. Das Internet der Dinge macht diese zu Informationsterminals. Der 3D-Drucker entwertet die Dinge in ihrem Sein. Sie werden zu materiellen Derivaten der Information degradiert.

Was wird aus Dingen, wenn sie von Informationen durchdrungen werden? Die Informatisierung der Welt macht aus Dingen Infomate, nämlich informationsverarbeitende Akteure. Das Auto der Zukunft wird kein Ding mehr sein, mit dem sich Phantasmen von Macht und Besitz verbinden, sondern ein mobiles »Verteilungszentrum von Informationen«, eben ein Infomat, das mit uns kommuniziert: »Das Auto spricht zu Ihnen, informiert Sie ›spontan‹ über seinen allgemeinen Zustand – und über den Ihren (vielleicht weigert es sich, zu funktionieren, falls Sie nicht gut funktionieren), es erteilt Ratschläge und trifft Entscheidungen, es ist Partner in einer umfassenden Verhandlung darüber, wie zu leben sei […].«6

Heideggers Daseinsanalyse von Sein und Zeit bedarf einer Revision, die der Informatisierung der Welt Rechnung trägt. Heideggers »In-der-Welt-sein« vollzieht sich als »hantierender Umgang« mit den Dingen, die entweder »vorhanden« oder »zuhanden« sind. Die Hand stellt eine zentrale Figur der Heideggerschen Daseinsanalyse dar. Heideggers »Dasein« (die ontologische Bezeichnung für Mensch) erschließt sich die Umwelt mittels der Hand. Seine Welt ist eine Dingsphäre. Wir leben aber heute in einer Infosphäre. Wir hantieren nicht an den Dingen, die passiv vorliegen, sondern wir kommunizieren und interagieren mit den Infomaten, die selbst als Akteure agieren und reagieren. Der Mensch ist nun kein »Dasein«, sondern ein »Inforg«7, der kommuniziert und Informationen austauscht.

Im Smarthome werden wir von Infomaten umsorgt. Sie erledigen für uns jede Besorgung. Sein Bewohner ist ganz ohne Sorge. Das Telos der digitalen Ordnung ist wohl die Überwindung der Sorge, die Heidegger als Wesenszug der menschlichen Existenz begreift. Dasein ist Sorge. Künstliche Intelligenz ist heute dabei, die menschliche Existenz ganz zu ent-sorgen, indem sie eine Optimierung des Lebens vornimmt und die Zukunft als Quelle der Sorge abschafft, das heißt die Kontingenz der Zukunft überwindet. Die berechenbare Zukunft als optimierte Gegenwart bereitet uns keine Sorge.

Kategorien der Heideggerschen Daseinsanalyse wie »Geschichte«, »Geworfenheit« oder »Faktizität« gehören alle zur terranen Ordnung. Informationen sind additiv und nicht narrativ. Sie sind zählbar, aber nicht erzählbar. Als diskontinuierliche Einheiten mit kurzer Aktualitätsspanne fügen sie sich nicht zu einer Geschichte zusammen. Auch unser Gedächtnisraum gleicht immer mehr einem Speicher, der mit Massen von allen möglichen Informationen vollgestopft ist. Addition und Kumulation verdrängen Narrationen. Die sich über weite Zeiträume erstreckende narrative Kontinuität zeichnet Geschichte und Erinnerung aus. Erst Narrationen stiften Sinn und Zusammenhang. Die digitale, das heißt numerische Ordnung ist ohne Geschichte und Erinnerung. So fragmentiert sie das Leben.

Der Mensch als sich optimierendes, sich neu erfindendes Projekt erhebt sich über die »Geworfenheit«. Heideggers Idee der »Faktizität« besteht darin, dass die menschliche Existenz auf dem Unverfügbaren gründet. Heideggers »Sein« ist ein anderer Name für das Unverfügbare. »Geworfenheit« und »Faktizität« gehören zur terranen Ordnung. Die digitale Ordnung defaktizifiert die menschliche Existenz. Sie akzeptiert keinen unverfügbaren Seinsgrund. Ihre Devise lautet: Sein ist Information. Das Sein ist somit ganz verfüg- und steuerbar. Heideggers Ding verkörpert hingegen die Be-Dingtheit, die Faktizität der menschlichen Existenz. Das Ding ist die Chiffre für die terrane Ordnung.

Die Infosphäre ist janusköpfig. Sie verhilft uns zwar zu mehr Freiheit, aber sie setzt uns gleichzeitig einer zunehmenden Überwachung und Steuerung aus. Google präsentiert das vernetzte Smarthome der Zukunft als »elektronisches Orchester«. Sein Bewohner ist ein »Dirigent«.8 Die Verfasser dieser digitalen Utopie beschreiben aber in Wirklichkeit ein smartes Gefängnis. Im Smarthome sind wir kein autonomer Dirigent. Vielmehr werden wir von unterschiedlichen Akteuren, ja unsichtbaren Taktgebern dirigiert. Wir setzen uns einem panoptischen Blick aus. Smart Bed mit diversen Sensoren setzt die Überwachung auch während des Schlafes fort. Die Überwachung schleicht sich in Form von Convenience immer mehr in den Alltag ein. Die Infomate, die uns viel Arbeit abnehmen, erweisen sich als effiziente Informanten, die uns überwachen und steuern. So werden wir in die Infosphäre verknastet.

In der algorithmisch gesteuerten Welt büßt der Mensch zunehmend seine Handlungsmacht, seine Autonomie ein. Er sieht sich einer Welt gegenüber, die seinem Verständnis entgleitet. Er befolgt algorithmische Entscheidungen, die er aber nicht nachvollziehen kann. Algorithmen werden zu Blackboxen. Die Welt verliert sich in den Tiefenschichten neuronaler Netzwerke, zu denen der Mensch keinen Zugang hat.

Informationen allein erhellen die Welt nicht. Sie können sie sogar verdunkeln. Ab einem bestimmten Punkt sind Informationen nicht informativ, sondern deformativ. Dieser kritische Punkt ist längst überschritten. Die rapide steigende informationelle Entropie, das heißt das informationelle Chaos, stürzt uns in eine postfaktische Gesellschaft. Nivelliert wird die Unterscheidung von wahr und falsch. Informationen zirkulieren nun ohne jeden Realitätsbezug in einem hyperrealen Raum. Fake News sind eben auch Informationen, die womöglich wirksamer sind als Tatsachen. Was zählt, ist die kurzfristige Wirkung. Wirksamkeit ersetzt Wahrheit.

Hannah Arendt hält wie Heidegger an der terranen Ordnung fest. So beschwört sie oft Halt und Dauer. Nicht nur Weltdinge, sondern auch die Wahrheit haben menschliches Leben zu stabilisieren. Im Gegensatz zur Information besitzt die Wahrheit eine Festigkeit des Seins. Dauer und Beständigkeit zeichnen sie aus. Wahrheit ist Faktizität. Sie leistet jeder Veränderung und Manipulation Widerstand. So bildet sie das Fundamend der menschlichen Existenz: »Wahrheit...

Erscheint lt. Verlag 3.5.2021
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Allgemeines / Lexika
Schlagworte Byung-Chul Han • Ding-Paradigma • entfremdete Realität • Folgen des Informationsrausches • Heidegger • Kritik an der Informationsgesellschaft • Kritik der Künstlichen Intelligenz • Vilém Flusser • Warhnehmung • Weltbeziehung
ISBN-10 3-8437-2539-X / 384372539X
ISBN-13 978-3-8437-2539-2 / 9783843725392
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