Die andere Tochter (eBook)

Roman
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2021 | 1. Auflage
448 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2489-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die andere Tochter -  Dinah Marte Golch
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Ein Roman über Mütter und Töchter Bei einem Unfall hat Antonia fast das Augenlicht verloren und danach eine einsame Entscheidung getroffen: Sie möchte die Mutter der toten Spenderin der Transplantate kennenlernen, mit denen sie wieder sehen kann. Sie hofft, so viel wie möglich über diese Frau zu erfahren, eine Malerin, jung, beliebt, schön. Und sie fragt sich, ob die Tote versucht, ihr etwas mitzuteilen. Denn seit der OP verfolgten Antonia Flashbacks. Als sie schließlich erkennt, dass sie manipuliert wird, schwebt ihre eigene Mutter bereits in Lebensgefahr. Und nur wenn Antonia sich dem Geheimnis ihr eigenen Familie stellt, hat sie eine Chance, dem perfiden Spiel der anderen zu entkommen.

Dinah Marte Golch, geboren 1974, wurde 2011 als Drehbuchautorin mit dem Adolf-Grimme-Preis und dem Deutschen Fernseh-Krimi-Preis ausgezeichnet. Inzwischen wurden mehr als fünfzig ihrer Drehbücher für Tatort und Serien wie »Edel&Starck« und »Der Bulle von Tölz« verfilmt, sie schrieb auch für das Krimi-Drama »Dogs of Berlin« (Netflix). Lange unterrichtete sie Drehbuchschreiben an der Hochschule für Fernsehen und Film München. Und dieses Jahr wird eine Mini-Serie für Amazon gedreht, Gefesselt, die Dinah Marte Golch mitentwickelte und schrieb. Die Autorin lebt in Berlin.

Dinah Marte Golch, geboren 1974, wurde 2011 als Drehbuchautorin mit dem Adolf-Grimme-Preis und dem Deutschen Fernseh-Krimi-Preis ausgezeichnet. Inzwischen wurden mehr als fünfzig ihrer Drehbücher für Tatort und Serien wie Edel&Starck und Der Bulle von Tölz verfilmt, sie schrieb auch für das Krimi-Drama Dogs of Berlin (Netflix). Lange unterrichtete sie Drehbuchschreiben an der Hochschule für Fernsehen und Film München. Und dieses Jahr wird eine Mini-Serie für Amazon gedreht, die Dinah Marte Golch mitentwickelte und schrieb. Die Autorin lebt in Berlin.

April 2019


2


Der Moment, kurz bevor sie das Haus oder die Wohnung eines Fremden betrat, hatte immer etwas Magisches.

Als sie angefangen hatte, war sie sich manchmal wie ein Voyeur vorgekommen. Aber nie erfasste sie nur das Sichtbare. Sie sah fast alles, nahezu das ganze Leben der Fremden.

Es dämmerte schon, als sie das kalte Treppenhaus emporstieg. Kein Laut war zu hören, bis auf die nassen Tritte ihrer Turnschuhe auf dem dreckigen Linoleum. Die Wohnungstür war nicht abgeschlossen, lediglich ins Schloss gezogen. Toni wunderte sich. Warum waren die Menschen nur so gutgläubig? In eine Altbauwohnung gelangte man mittels einer Kreditkarte binnen zwei Sekunden. A. Rami stand auf dem Klingelschild. Die Wohnungstür knarzte und kurz meinte Toni, Licht in einem der Zimmer gesehen zu haben. Aber dann war es doch nur das kalte Licht der Straßenlaterne, das an diesem Spätnachmittag in die Wohnung fiel.

Selten fand sie Geld unter einer Matratze oder Schmuck, der zwischen schmutziger Wäsche versteckt worden war. Doch mit ihrem über die Jahre trainierten Blick entdeckte sie all das andere, was sich mitzunehmen lohnte.

»Absolut gruselig«, meinten Tonis Freunde – die wenigen, die sie hatte – und hauptsächlich waren es Holgers Freunde.

Holger hatte Toni einmal begleitet und hinterher gesagt, dass er das nicht noch einmal bräuchte. Maximal noch, wenn er die Wohnung seiner eigenen Eltern ausräumen müsse, sollten sie eines Tages sterben.

Diese Wohnung hier gehörte jemandem, den sie nicht kannte, A. Rami. Eine wohlstrukturierte Aufgabe lag vor ihr, und das machte es einfach. Sie freute sich sogar auf die nächsten eineinhalb Stunden. Auf die fremde Wohnung. Darauf, in ein anderes Leben einzutauchen. Jemanden kennenzulernen, den sie nie kennenlernen würde.

Toni schaltete das Licht ein. Die Angehörigen hatten sie beauftragt, die Wohnung zu entrümpeln, weil sie den Mietvertrag kündigen wollten. Toni hatte bereits eine Vielzahl Wohnungen und Häuser Verstorbener ausgeräumt. Noch nie war es ihr unheimlich gewesen. Ihr erster Blick ging wie so oft in den Garderobenspiegel, dann band sie sich ihr aschblondes Haar zusammen, stellte ihre Flasche Wasser ab (in alten Häusern und Wohnungen lag oft meterhoch Staub und man musste viel trinken, um nicht ständig zu husten) und öffnete routiniert eine Kladde für die Bestandsaufnahme.

Toni sah sofort, dass die Verwandten von A. Rami die Habseligkeiten durchwühlt hatten. Sie hatten Schubladen aufgerissen, aber anscheinend nur wenig mitgenommen.

Nahezu bei jeder Entrümpelung wunderte sie sich, was Menschen aufhoben und womit sie die Mauern ihres Lebens bauten; so hoch, dass sie kaum noch darüber hinweg sehen konnten. Die Verstorbenen wären gekränkt, wüssten sie, wie wenig das alles den Hinterbliebenen bedeutete. Es sei denn, es war Geld oder Mobiliar, das zu Geld gemacht werden konnte. Dann gab es in den toten Wohnungen Lücken in der Einrichtung oder dunkel umrandete Flecken an der Wand.

Für gewöhnlich entsorgten die Erben Dinge, die ein schlechtes Licht auf ihre Toten warfen. Aber Toni hatte schon alles gefunden: Sammlungen pornografischer Zeitschriften, Bilder von Vorfahren in SS-Uniformen, Marihuana in beachtlichen Mengen, Briefe von heimlichen Geliebten, Protokolle über die Lärmbelästigung durch ungeliebte Nachbarn und Spendenbescheinigungen für rechts- oder linksradikale Gruppierungen und Parteien.

Das meiste von dem Zeug, was sie in den Häusern der Toten fand, ließ sie von ihren polnischen Hilfskräften auf einen Wertstoffhof fahren. Es interessierte sie nicht, was davon die Jungs einfach behielten.

Toni sah sich im Flur der Altbauwohnung um. Neben der Tür hing eine Schmiedearbeit in der Größe einer Zigarettenschachtel. Sie hatte keine Ahnung, was die arabischen Schriftzeichen auf dem kleinen Kunstwerk bedeuteten, aber es gefiel ihr.

In fast jedem Nachlass fand Toni etwas, das sie mit nach Hause nahm.

Auch das befremdete Holger.

Toni mochte es. Mit dem Ableben eines Menschen war auch jedes Leben aus den Besitztümern gewichen. Die Gegenstände hatten keine emotionale Bedeutung für Toni und so war es ihr egal, ob sie etwas bei Ikea, auf dem Flohmarkt oder in einem Nachlass fand.

In ihrem kleinen Haus am Rand von Spandau, in dem sie bis zu ihrem zwölften Lebensjahr bei ihrer Großmutter gewohnt und das diese ihr vor zehn Jahren vererbt hatte, passte nichts zueinander. Die Einrichtung ihrer Oma hatte Toni nach und nach durch Stücke ersetzt, die sie bei ihrer Arbeit gefunden hatte. Kein Stuhl passte zum anderen, keine Teller zueinander, kein Glas glich dem nächsten. Ihre Freunde fanden diesen Stil »sehr witzig und originell«. Wenn sie zu Besuch kamen, trugen sie meistens dicke Pullover, man wusste schließlich nie, ob die Heizung noch funktionierte. Manchmal war es so ungemütlich kalt wie in dieser Altbauwohnung.

Über den letzten Streit mit Holger hatte Toni ihre großen Plastiksäcke für den groben Unrat vergessen. Holger und sie hatten sich darüber in die Haare bekommen, dass Toni nie ein ganzes Wochenende bei ihm im Prenzlauer Berg blieb. Aber Toni hatte gewusst, dass das nicht das eigentliche Thema gewesen war. Unausgesprochen war es wieder darum gegangen, dass sie die Vorstellung nicht ertragen konnte, er zöge bei ihr ein. Außerdem stellte die Kinderfrage ihre Beziehung immer mehr auf den Prüfstand. Toni glaubte, dass sie inzwischen jede Variation dieses Gefechts durchgespielt hatten. Sie hatte kurz vor ihrem vierzigsten Geburtstag keine Torschlusspanik. Nur Angst, dass ein Kind etwas besiegeln würde, von dem sie nicht wusste, ob es funktionierte. Holger bedeutete ihr viel, sehr viel sogar, aber sie waren im letzten Jahr zunehmend in einen On-off-Status geraten, meistens ausgelöst durch dieses Thema. Es gab Tage, da gefiel ihr die Vorstellung, mit ihm und einem kleinen Mädchen in ihrem Haus zu leben. Doch es gab zu viele Tage, an denen sie spürte, dass an diesem Bild etwas ganz und gar nicht stimmte.

Sie sah sich in der kalten Wohnung nach Mülltüten um. In der Küche wurde sie nicht fündig. Also ging sie ins Badezimmer, das eher eine Nasszelle war. Eine Toilette mit abgebrochenem Deckel, der in der Ecke stand, eine kleine Dusche mit angeschimmeltem Plastikvorhang, ein dreckiges Waschbecken mit einem Spiegel darüber.

In dem Schränkchen, das vom Beckenrand bis zum Boden reichte, fand sie nur Toilettenpapier, Gummihandschuhe und WC-Reiniger.

Toni richtete sich auf und blickte in den Spiegel. Das grelle Licht der Deckenlampe machte sie blass und betonte die Narbe über der linken Augenbraue, die ihr selbst fast nie auffiel.

»Du gehst schnurstracks auf die vierzig zu«, sagte sie vorwurfsvoll zu der Frau, die sie da musterte. »Vielleicht solltest du deine Abneigung gegen Wellnessurlaube noch mal gründlich überdenken.«

Und dann entdeckte sie im Spiegel etwas hinter sich: eine Plastikkiste, die auf einer schmalen Waschmaschine stand. Flaschen und Putzmittel lugten daraus hervor. Und, wie es aussah, auch Mülltüten.

Toni grinste sich im Spiegel an. »Bingo.«

Ihr Handy vibrierte in ihrer Hosentasche. Kurz dachte sie, es könne Holger sein. Aber auch wenn sie das freuen würde, ihn zu hören, es änderte nichts an ihrem Dauerkonflikt. Es war ihr Vater. Toni nahm das Gespräch an und klemmte sich das Telefon zwischen Schulter und Wange, um nach der Plastikkiste greifen zu können.

»Hallo, Papa«, sagte sie überrascht.

»Kannst du nachher rumkommen und mir beim Reifenwechsel helfen?«

»Wann lasst ihr das endlich von einer Werkstatt machen?«, gab Toni seufzend zurück. Mit der Kiste in der Hand blickte sie umständlich auf ihre Armbanduhr. Bei ihren Eltern vorbeizufahren, würde sie heute mitten in den Feierabendverkehr bringen und einiges an Zeit kosten.

»Komm schon, du würdest mir damit wirklich eine Freude machen. Vorschlag: Deine Mutter kocht, du bleibst zum Essen. Bitte.«

»Na gut«, erwiderte Toni, und dann merkte sie, dass ihr das Handy von der Schulter zu rutschen drohte. Sie wollte die Kiste zurück auf die Waschmaschine hieven, als ihr ein stechender Schmerz ins Handgelenk fuhr. Sie schrie auf – und ließ die Kiste los. Flaschen fielen zu Boden und zersprangen. Toni machte einen Schritt zurück, rutschte jedoch aus. Sie fand nichts, wo sie sich abstützen oder festhalten konnte. Hart schlug sie mit der Stirn gegen die Waschmaschine und ging zu Boden.

Ein beißender Geruch stieg ihr in die Nase.

»Toni, was ist los?«, hörte sie die Stimme ihres Vaters aus dem Handy, das über die Kacheln am Boden bis zur Schwelle zum Flur geschlittert war.

Toni begann zu husten, sie versuchte sich aus einer Lache aus verschiedenen Flüssigkeiten und Glassplittern hochzudrücken. Tränen schossen ihr in die Augen.

Das Letzte, was sie sah, war das Totenkopfsymbol auf einer der kaputten Flaschen am Boden, und als es schwarz um sie herum wurde, wunderte sie sich noch, wer so ohrenbetäubend laut schrie.

3


Dunkelheit. Diffuse, pochende Kopfschmerzen.

Toni öffnete die Augen. Ein kleines bisschen Grau sickerte hinter ihre Lider und sofort zog sich der Stacheldraht fester um ihren Kopf.

Sie stöhnte leise, schloss die Augen und überlegte,...

Erscheint lt. Verlag 30.8.2021
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Geisteswissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie
Geisteswissenschaften Psychologie Entwicklungspsychologie
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Chirurgie
Schlagworte bankenwelt • Berlin • Familientrauma • Frankfurt am Main • Identität • Kunstmarkt • Kunstszene • Raubkunst • Resilienz • Schwestern • Tatortreiniger • Tod • Transplantation • Trauer • Traumabewältigung
ISBN-10 3-8437-2489-X / 384372489X
ISBN-13 978-3-8437-2489-0 / 9783843724890
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