Empirische Ethik (eBook)

Grundlagentexte aus Psychologie und Philosophie
eBook Download: EPUB
2020 | 1., Originalausgabe
548 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76346-9 (ISBN)

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Empirische Ethik -
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Seit der Jahrtausendwende vollzieht sich eine interessante Wiederannäherung von Moralphilosophie und Moralpsychologie. Die neue empirische Ethik greift auf Methoden und Erkenntnisse der Psychologie und der Neurowissenschaft zurück, um klassische Fragen der Ethik zu beantworten. Aber sie wirft auch ihrerseits Fragen auf: Welche Rolle spielen Emotionen und Intuitionen im moralischen Denken, und welche Rolle sollen sie spielen? Können Moraltheorien wie Tugendethik oder Deontologie durch empirische Befunde gestützt werden oder werden sie dadurch geschwächt? Der Band versammelt die zentralen, bislang nicht auf Deutsch zugänglichen Texte dieser Debatte, u. a. von Joshua Greene, Jonathan Haidt, Peter Singer und Sharon Street, und ergänzt sie durch vertiefende Originalbeiträge.



Norbert Paulo ist Privatdozent f&uuml;r Philosophie an der Karl-Franzens-Universit&auml;t Graz und Leiter eines Forschungsprojekts an der Universit&auml;t der Bundeswehr in M&uuml;nchen. Zuletzt ist erschienen: <em>Empirische Ethik</em> (hg. zus. mit Jan Christoph Bublitz, stw 2292).

9Jan Christoph Bublitz und Norbert Paulo

Empirische Ethik:
Hintergründe, Einwände, Potentiale


1. Einleitung


Debatten um das richtige Verhältnis zwischen Ethik und Empirie durchziehen die Philosophiegeschichte. Eine um die Jahrtausendwende einsetzende Bewegung hat sie – das lässt sich bereits jetzt konstatieren – um ein neues Kapitel erweitert. Seither vollzieht sich eine beidseitige (Wieder-)Annäherung von empirischer Psychologie und Philosophie im Allgemeinen und ihrer jeweiligen moralischen Teildisziplinen im Besonderen. Sie besteht für die Psychologie in der Ausweitung der Untersuchungsgegenstände auf klassische philosophische Fragestellungen sowie auf das moralische Urteilen bzw. Entscheiden (beide im Folgenden synonym verwendet).[1]  Diese Annäherung führte in den vergangenen Jahren zu einer Renaissance der Moralpsychologie.[2]  Neben interdisziplinären Ansätzen liegt 10eine ihrer Triebkräfte in technischen Errungenschaften, insbesondere in neuen Untersuchungsmethoden des menschlichen Denkens wie den bildgebenden Verfahren, allen voran die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT). Die fMRT ermöglicht Untersuchungen hirnphysiologischer Vorgänge während des Denkens und gilt als Schlüsseltechnologie für den rasanten Fortschritt der Neurowissenschaften in jüngerer Vergangenheit. Eine der ersten fMRT-Studien, die Hirnvorgänge während der Entscheidungsfindung zu moralischen Dilemmata untersuchte, hat die empirische Ethik maßgeblich geprägt. Die von Joshua Greene durchgeführte und im Jahre 2001 veröffentlichte Studie zeigte unterschiedliche Hirnaktivität bei deontologischen und konsequentialistischen Entscheidungen[3]  und sorgt bis heute für kontroverse Diskussionen.[4]  Inhaltlich sind für die jüngere Moralpsychologie zwei Züge charakteristisch: der affective turn, also die Hinwendung zu emotionalen Prozessen (samt kritischer Haltung zu rationalistischen Positionen), sowie die Betonung der Bedeutung sozialer Prozesse. Ein viel diskutierter Aufsatz von Jonathan Haidt aus dem Jahre 2001 bringt diese Wendung paradigmatisch zum Ausdruck: »The Emotional Dog and Its Rational Tail: A Social Intuitionist Approach to Moral Judgment«.[5]  Emotionen, Intuitionen und Sozialität sind neben der Rationalität die Stoffe, aus denen die Moral gewebt ist.

Für die Philosophie besteht diese Annäherung vor allem in der Übernahme empirischer wissenschaftlicher Methoden und der Durchführung experimenteller Studien in der sogenannten experimentellen Philosophie. Die soeben erwähnte Studie Greenes war der Versuch, der Antwort auf eine zentrale Streitfrage der Moralphilosophie mithilfe naturwissenschaftlicher Methoden näher zu kommen. Mit der experimentellen Philosophie entwickelt sich 11also ein empirisch forschender Zweig der Philosophie. Er hat sich mit methodischen Fragen von Statistik bis zu Störfaktoren auseinanderzusetzen, die der psychologischen Forschung wohlvertraut sind. Es lässt sich also sagen, dass die experimentelle Philosophie in methodischer Hinsicht weitgehend wie die empirische Psychologie verfährt. Entsprechend interdisziplinär sind einschlägige Forschungsverbünde und Autorinnenschaften. Diese Form der wissenschaftlichen Arbeit kann vor allem dort aufblühen, wo (auch institutionelle) Grenzen zwischen den Disziplinen eine eher geringe Rolle spielen. Ein Großteil der Forschung stammt daher aus den USA. Somit lässt sich von einem empirical turn der Philosophie im Allgemeinen und der Moralphilosophie im Besonderen sprechen.

»Empirische Ethik« verstehen wir als Oberbegriff für die ethischen Teile der experimentellen Philosophie und für die empirisch informierte Ethik, die zwar keine eigenständigen Experimente durchführt, aber doch in besonderem Maß auf empirische Befunde zurückgreift. Sie tut dies vor allem, anders als etwa die angewandte Ethik, zum Zweck der ethischen Theoriebildung. Zudem sind damit nicht jegliche empirischen Befunde gemeint, die dabei relevant werden können – wie etwa soziologische oder wirtschaftliche –, sondern nur jene, die sich auf das ethische Denken und Entscheiden beziehen.

Die Beiträge in diesem Band beschäftigen sich mit den bisherigen Erträgen dieser interdisziplinären Annäherung an der Schnittstelle zwischen Moralphilosophie und Moralpsychologie. Der Band beinhaltet zentrale und erstmals ins Deutsche übersetzte Debattenbeiträge, die einige der wichtigsten Themen der empirischen Ethik verhandeln. Ergänzt werden diese Übersetzungen durch eine neue, für diesen Band verfasste Überblicksarbeit, welche die mittlerweile enorme Zahl an empirischen Studien und philosophischer Literatur einordnend aufarbeitet. In weiteren für diesen Band verfassten Kapiteln werden zudem einige bisweilen unterbelichtete Aspekte der Debatte ausgeleuchtet und Perspektiven für die Fortentwicklung des Feldes formuliert.

Diese Einleitung möchte die Beschäftigung mit dem Gebiet motivieren und grundieren, in die in den einzelnen Beiträgen geführten Kontroversen einführen sowie in allgemeinere Diskussionen einbetten. Insbesondere werden einige grundlegende Einwände, die der empirischen Ethik mitunter entgegengebracht und 12in den einzelnen Beiträgen nur peripher thematisiert werden, angesprochen und in ihrer Reichweite taxiert. Ferner werden einige Forschungsfelder der empirischen Ethik vorgestellt.

1.1 Moralische und philosophische Fortschritte?


Eine kontrovers diskutierte Frage der Sozialwissenschaften und der Philosophie lautet, ob es in der Welt moralischen Fortschritt gibt, ob sich der Weltverlauf also zu einem besseren wendet. Über große Zeiträume hinweg betrachtet spricht einiges dafür.[6]  So ist etwa die Wahrscheinlichkeit, Opfer von Gewalttaten oder Kriegen zu werden, statistisch offenbar deutlich gesunken. Auch wird man die (wenngleich in vielerlei Hinsicht unvollendete) Entwicklung, Kodifizierung und institutionelle Absicherung der Menschenrechte als Fortschritt verstehen können. Heutzutage gelten in einem zuvor unerreichten Maße internationale Normen für die Gleichberechtigung der Geschlechter, kulturelle und ethnische Minderheiten sowie von Normalitätsvorstellungen abweichenden sexuellen Vorlieben oder körperlichen Fähigkeiten. Gleichwohl ist evident, dass diese Fortschritte in der Welt der Normen noch keinen vollständigen Widerhall in der Lebensrealität der Menschen gefunden haben und tatsächliche Verbesserungen in vielen Bereichen dringend notwendig sind. Generell mutet vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, der von Menschen verursachten Katastrophen der Gegenwart und des Blickes auf die nur schwer abwendbar erscheinende Zerstörung der Lebensgrundlagen ein moralischer Optimismus seltsam an.

Etwas spezieller ist die Frage nach Fortschritten in der Moralphilosophie, und auch sie entzweit die Geister. Mit einem naturwissenschaftlich inspirierten Fortschrittsverständnis ließe sich darauf verweisen, dass die Fragen, mit denen sich die heutige Moralphilosophie beschäftigt, keine wesentlich anderen als die vor einhundert oder zweihundert Jahren diskutierten seien.[7]  Die Theorien13landschaft der Gegenwart sei noch immer geprägt von klassischen Entwürfen (etwa von Aristoteles, Hume, Kant oder Mill), freilich in ausgefeilten und komplexen Weiterentwicklungen. Von erzielter Einigkeit oder paradigmatischen Umwürfen in der Philosophie lässt sich nur schwerlich sprechen.[8]  Faktische Fortschritte wie etwa die Menschenrechte dürften wohl vorrangig nicht auf philosophischen Fortschritten, sondern historischen Ereignissen beruhen, denn an einer philosophisch tragfähigen Fundierung der Menschenrechte bestehen große Zweifel.[9]  Doch auch wenn die großen Fragen der Philosophie nicht gelöst sind (und dies vielleicht auch nie sein werden), könnte man...

Erscheint lt. Verlag 16.11.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Ethik
Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Experimentelle Philosophie • Moralphilosophie • Reader • Studium • STW 2292 • STW2292 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2292
ISBN-10 3-518-76346-6 / 3518763466
ISBN-13 978-3-518-76346-9 / 9783518763469
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