Die Macht der Gewaltlosigkeit (eBook)
250 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76633-0 (ISBN)
Gewaltlosigkeit wird häufig als eine Praxis der Passivität verstanden, welche die ethische Einstellung sanftmütiger Einzelpersonen gegenüber existierenden Formen von Macht reflektiert. Dieses Verständnis ist falsch, wie Judith Butler in ihrem neuen Buch darlegt. Denn Gewaltlosigkeit kann durchaus eine aktive, ja aggressive Form annehmen, zudem ist sie ebenso wenig wie die Gewalt eine Angelegenheit einzelner Individuen, sondern stets eingebettet in soziale und politische Zusammenhänge. Auch deshalb gibt es erhebliche Meinungsverschiedenheiten darüber, wo die Grenze zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit verläuft sowie durch wen und wann Akte der Gewalt gerechtfertigt sind.
Mit Foucault und Fanon arbeitet Butler die Widersprüche und exkludierenden Phantasmen heraus, die häufig am Werk sind, wenn Akte der Gewalt legitimiert oder verdammt werden. Und mit Freud und Benjamin macht sie deutlich, dass wir noch grundsätzlicher fragen müssen: Wer sind wir und in welcher Welt wollen wir leben? Butlers kraftvolle Antwort lautet: in einer Welt radikaler sozialer Gleichheit, die getragen ist von der Einsicht in die Abhängigkeiten und Verletzlichkeiten menschlicher Existenz. Diese Welt gilt es, gemeinsam im politischen Feld zu erkämpfen - gewaltlos und mit aller Macht.
<p>Judith Butler, geboren 1956, ist Maxine Elliot Professor für Komparatistik, Gender Studies und kritische Theorie an der University of California, Berkeley. 2012 erhielt Butler den Adorno- Preis der Stadt Frankfurt am Main.</p>
411. Gewaltlosigkeit, Betrauerbarkeit und die Kritik des Individualismus
Stellen wir zunächst fest, dass Gewaltlosigkeit zur ethischen Frage im Kraftfeld der Gewalt selbst wird. Am besten lässt sich Gewaltlosigkeit vielleicht als Widerstandspraxis beschreiben, die in eben dem Moment möglich, wo nicht erforderlich wird, in dem die Ausübung von Gewalt am meisten gerechtfertigt und offensichtlich scheint. So lässt sich Gewaltlosigkeit als Praxis verstehen, die nicht nur einem gewaltsamen Akt oder einem gewaltsamen Prozess Einhalt gebietet, sondern selbst nachhaltiges – und möglicherweise durchaus aggressiv durchgesetztes – Handeln erfordert. Meiner Auffassung nach lässt sich also Gewaltlosigkeit nicht einfach als Abwesenheit von Gewalt oder als Enthaltung von Gewalt begreifen; vielmehr muss sie als anhaltendes Engagement, ja als Umlenkung von Aggression zum Zweck der Verteidigung der Ideale von Gleichheit und Freiheit verstanden werden. Ich möchte zunächst davon ausgehen, dass der »militante Pazifismus« (Albert Einstein) sich auch als aggressive Gewaltlosigkeit denken lässt.[18] Hierzu muss die Beziehung zwischen Aggression und Gewalt neu 42durchdacht werden, da beide nicht identisch sind. Zweitens möchte ich davon ausgehen, dass Gewaltlosigkeit ohne eine Verpflichtung auf Gleichheit sinnlos ist. Weshalb Gewaltlosigkeit die Verpflichtung auf Gleichheit erfordert, lässt sich am besten verstehen, wenn man sich klarmacht, dass in dieser Welt manches Leben eindeutig mehr zählt als anderes und dass wegen dieser Ungleichheit bestimmte Leben hartnäckiger verteidigt werden als andere. Widerstand gegen die Gewalt gegen menschliches – oder anderes – Leben geht vom Wert dieses Lebens aus. Unser Widerstand bekräftigt diesen Wert. Geht ein Leben durch Gewaltanwendung verloren, wird dieser Verlust als solcher nur wahrgenommen und verzeichnet, weil das betreffende Leben als wertvolles galt, und das wiederum bedeutet, dass wir es als der Trauer wert betrachten.
Und doch gelten unterschiedliche Leben in dieser Welt, wie wir wissen, nicht als gleich wertvoll; ihr Anspruch auf Schutz vor Verletzung oder Vernichtung wird nicht immer anerkannt. Ein Grund liegt darin, dass bestimmte Leben als nicht der Trauer wert oder als nicht betrauerbar gelten. Dafür gibt es zahlreiche Ursachen, zu denen Rassismus, Xenophobie, Homophobie und Transphobie, Misogynie und systematische Verachtung für die Armen und Vertriebenen gehören. Wir leben von Tag zu Tag mit dem Wissen um namenlose Gruppen von Menschen, die dem Tod überlassen werden, an geschlossenen Grenzen, im Mittelmeer, in Ländern, die von Armut und einem Mangel an Lebensmitteln und medizinischer Behandlung überwältigt werden. Wenn wir begreifen wollen, was Gewaltlosigkeit heute, in dieser Welt, in der wir leben, 43bedeutet, müssen wir die Funktionsweisen der Gewalt kennen, gegen die wir uns wenden wollen, aber wir müssen auch grundlegende Fragen unserer Zeit neu stellen: Was verleiht einem Leben Wert? Warum werden Leben unterschiedlich gewertet? Und wie könnten wir zur Formulierung eines egalitären Imaginären als Teil unserer Praxis der Gewaltlosigkeit gelangen, einer Praxis des Widerstands, die zugleich wachsam und hoffnungsvoll ist?
In diesem Kapitel befasse ich mich mit dem Problem des Individualismus, um die Bedeutung von sozialen Bindungen und der Interdependenz für ein nicht-individualistisches Verständnis von Gleichheit hervorzuheben. Und ich werde versuchen, den Gedanken der Interdependenz mit dem der Gewaltlosigkeit zu verbinden. Im nachfolgenden Kapitel werde ich nach den Ressourcen der Moralphilosophie zur Entwicklung einer reflektierten Praxis der Gewaltlosigkeit fragen und auch der Frage nachgehen, inwieweit unsere moralischen Überlegungen zur Gewaltlosigkeit sozial geprägte Phantasien beinhalten, sodass es uns nicht immer gelingt, die demografischen Vorannahmen zu durchschauen, mit denen wir unterscheiden zwischen Leben, die wir für wertvoll erachten, und Leben, die wir für relativ oder absolut wertlos erachten. Dieses zweite Kapitel führt von Immanuel Kant zu Sigmund Freud und Melanie Klein. Im dritten Kapitel werde ich die Ethik und Politik der Gewaltlosigkeit vor dem Hintergrund heutiger Formen von Rassismus und Sozialpolitik betrachten und mich Frantz Fanon zuwenden, der uns meines Erachtens ein besseres Verständnis jener rassistischen Phantasmen ermöglicht, 44die den ethischen Dimensionen der Biopolitik zugrunde liegen. Und ich werde zeigen, welche Rolle Walter Benjamins Technik ziviler Übereinkunft spielen kann, wenn wir darüber nachdenken, wie wir mit und durch konfliktuelle Beziehungen leben können, ohne zu gewaltsamen Lösungen zu greifen. Hier gehe ich davon aus, dass Aggression Bestandteil sozialer Bindungen ist, die auf Interdependenz basieren, wobei jedoch die genaue Form dieser Aggression entscheidend für eine Praxis ist, die sich der Gewalt widersetzt und den Horizont einer neuen sozialen Gleichheit eröffnet. Die Vorstellungskraft – und das Vorstellbare – wird sich als wesentlich für diesen Argumentationsgang erweisen, denn wir sind heute ethisch verpflichtet und aufgerufen, über die vorgeblich realistischen Grenzen des Machbaren hinauszudenken.
Manche Vertreter der Geschichte des liberalen politischen Denkens möchten uns glauben machen, dass wir von einem Naturzustand aus in diese soziale und politische Welt eintreten. In diesem Naturzustand sind wir aus irgendwelchen Gründen bereits Individuen und im Konflikt miteinander. Wie wir zu Individuen wurden, wird nicht geklärt, und wir erfahren auch nicht, weshalb genau der Konflikt unsere erste leidenschaftliche Beziehung zueinander ausmacht und nicht Abhängigkeit oder Bindung. Nach Hobbes’ Auffassung, der einflussreichsten für unser Verständnis gesellschaftlicher Übereinkünfte, will das eine Individuum, was ein anderes besitzt, oder beanspruchen beide ein und dasselbe Territorium, und beide bekämpfen sich, um ihre je eigenen Ziele und ihr persönliches Recht an Gütern, an der Natur und an sozialer Domi45nanz durchzusetzen. Der Naturzustand war natürlich immer Fiktion, wie Jean-Jacques Rousseau ganz offen zugestand, aber eine mächtige Fiktion, eine Vorstellungsweise, die unter Bedingungen der »politischen Ökonomie« möglich wurde, wie Karl Marx sagt. Diese Fiktion besitzt viele Funktionen. So gibt sie uns einen kontrafaktischen Zustand an die Hand, an dem wir unsere derzeitige Lage messen können, und sie bietet uns, wie die Science-Fiction, einen Punkt, von dem aus wir uns die Gegebenheiten und die Kontingenz der politischen Ordnung von Raum und Zeit, von Leidenschaften und Interessen in der Gegenwart vor Augen führen können. In seinem Buch über Rousseau vertritt der Literaturwissenschaftler Jean Starobinski die Auffassung, dass der Naturzustand einen imaginären Schauplatz bietet, auf dem nur ein einziges Individuum präsent ist: selbstgenügsam, ohne Abhängigkeiten, erfüllt von Eigenliebe und ohne Bedürfnis nach anderen.[19] Wo es keine anderen gibt, gibt es auch kein Gleichheitsproblem, aber sobald weitere menschliche Wesen die Szene betreten, entsteht das Problem von Gleichheit und Konflikt. Warum?
Marx kritisiert den Aspekt der Hypothese des Naturzustands, der das Individuum als vorgängig ansetzt. In seinen Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 macht er sich mit viel Ironie über die Vorstellung lustig, dass Menschen am Anfang wie Robinson Crusoe selbstversorgend und ohne Abhängigkeit von anderen, ohne Arbeitsteilung und ohne jede 46gemeinsame Organisation ihres politischen und wirtschaftlichen Lebens auf einer Insel gelebt haben sollen. Marx schreibt: »Versetzen wir uns nicht wie der Nationalökonom, wenn er erklären will, in einen nur erdichteten Urzustand. Ein solcher Urzustand erklärt nichts. Er schiebt bloß die Frage in eine graue, nebelhafte Ferne. […] Wir gehn von einem nationalökonomischen, gegenwärtigen Faktum aus.«[20] Marx wollte die Fiktion zugunsten der Betrachtung der faktischen Gegenwart hinter sich lassen, aber das hielt ihn nicht davon ab, sich ebendieser Fiktionen zu bedienen, um seine Kritik der politischen Ökonomie zu entwickeln. Diese Fiktionen bilden nicht die Realität ab, aber wenn wir sie recht zu lesen verstehen, enthalten sie einen Kommentar zur Gegenwart, wie wir ihn anderswo vielleicht nicht...
Erscheint lt. Verlag | 16.11.2020 |
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Übersetzer | Reiner Ansén |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
Schlagworte | Bestseller bücher • buch bestseller • Feminismus • Gandhi • Gender • Sachbuch-Bestenliste • Sachbuch-Bestseller-Liste |
ISBN-10 | 3-518-76633-3 / 3518766333 |
ISBN-13 | 978-3-518-76633-0 / 9783518766330 |
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